Zurück auf Anfang?
Zur Neuausrichtung des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems

Mit dem Ausstieg aus den geldpolitischen Sondermaßnahmen bestand die Erwartung, dass das Eurosystem wieder zu seinem dem ursprünglichen Instrumentarium zurückkehrt. Die Hoffnung scheint trügerisch zu sein. Im März hat der EZB-Rat erklärt, welche Anpassungen am geldpolitischen Handlungsrahmen er im Laufe des Jahres vornehmen will, und erläutert, mittels welcher Instrumente das Eurosystem künftig Geldpolitik betreiben wird (European Central Bank, 2024). Diese Klarstellung war notwendig, weil sich die Bilanz des Eurosystems allmählich normalisiert. Wie es aussieht, verwendet das Eurosystem die Nomenklatur seiner Anfangsjahre, behält sich aber vor, zu einer Politik der Quantitativen Lockerung – wenn auch mit anderen Namen – zurückzukehren.

Elemente des Reformpakets

Bekanntlich steuerte das Eurosystem den Geldmarktzins seit 1999 bis zum Ausbruch der Finanzkrise mithilfe seiner regelmäßigen geldpolitischen Operationen, die vor allem aus den wöchentlich durchgeführten Hauptrefinanzierungsgeschäften, den monatlich durchgeführten dreimonatigen längerfristigen Refinanzierungsgeschäften bestanden, sowie aus der Einlagefazilität und der Spitzenrefinanzierungsfazilität. Die Zinssätze für die Einlagenfazilität sowie der Spitzenrefinanzierungsfazilität bilden einen Korridor, der symmetrisch um den Hauptrefinanzierungssatz verteilt war. Bis 2008 verfolgte das Eurosystem ein „Korridor-System“ und war bemüht, den Interbankenzins etwa auf Höhe des Hauptrefinanzierungssatzes zu halten; um dies zu erreichen, wurde der strukturelle Liquiditätsbedarfs des Bankensektors für die Periode zwischen zwei Hauptrefinanzierungsgeschäften geschätzt, der sich aus autonomen Faktoren und der Mindestreservepflicht ergibt. Im Zuge der Quantitativen Lockerung ging das Eurosystem danach zu einem „Floor-System“ über und und ließ den Geldmarktsatz auf die Höhe des Einlagesatzes absinken.

Im vor liegenden Reformvorschlag sollen Hauptrefinanzierungs- und längerfristige Refinanzierungsgeschäfte wieder eine bedeutende Rolle einnehmen, allerdings mit drei Unterschieden zum Status-quo-ante, also dem Handlungsrahmen vor Ausbruch der Finanzkrise: Das Eurosystem beabsichtigt erstens, beim Floor-System zu bleiben und den Geldmarktzins auf Höhe des Einlagezinssatzes zu belassen, der damit weiterhin den zentralen geldpolitischen Zinssatz bildet. Er soll ab September 2024 genau 15 Basispunkte unterhalb des Hauptrefinanzierungssatzes liegen; der Abstand zwischen Hauptrefinanzierungssatz und Spitzenrefinanzierungssatz soll 25 Basispunkte betragen.

Das Floor-Szenario wird erreicht, indem zweitens sowohl beim Hauptrefinanzierungsfazilität als auch bei den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften das Mengentenderverfahren mit Vollzuteilung angewendet wird, bei dem die Geschäftsbanken über die Höhe der in Anspruch genommenen Liquidität entscheiden. Damit unterbleibt die Rückkehr zum Zinstender, der (seit 2000) bis zum Ausbruch der Finanzkrise angewendet wurde. Drittens plant das Eurosystem, „strukturelle längerfristige Refinanzierungsgeschäfte“ und Operationen mit einem „strukturellen Wertpapierportfolio“ durchzuführen, sobald das Bilanzvolumen des Eurosystem wieder anzusteigen beginnt. In diese strukturellen geldpolitischen Operationen sollen klimabezogene Überlegungen einbezogen werden. Über eine erneute Reform des Handlungsrahmens wird 2026 (oder ggf. früher) entschieden.

Warum nicht zurück zum Status-quo-ante?

Das Eurosystem verzichtet auf die Rückkehr zum „Korridorsystem“, weil darin die Liquiditätsversorgung angebotsbestimmt ist und dem Interbankenmarkt die Aufgabe zukommt, die Liquidität innerhalb des Bankensystems zu verteilen. Dies birgt die Gefahr, dass die Liquiditätsbereitstellung im Krisenfall nicht ausreicht, wenn die Banken sich gegenseitig misstrauen und, wie zu Beginn der Finanzkrise, keine unbesicherten Interbankenkredite vergeben. Um dies künftig zu vermeiden, wird das Eurosystem bei den Refinanzierungsgeschäften beim Mengentenderverfahren verbleiben und über die strukturellen Operationen zusätzliche Überschussliquidität bereitstellen, wodurch der Interbankenzinssatz auf die Höhe des Einlagensatzes absinken wird (Schnabel, 2024).

Der Schutz vor einem „Austrocknen“ des Interbankenmarktes wird erkauft durch verschlechterte Anreize für die Geschäftsbanken, selber Liquiditätsvorsorge zu treffen, weil sie sich auf die Liquiditätsbereitstellung durch das Eurosystem verlassen können. Zudem besteht bei einer übermäßig hohen Liquiditätsausstattung die Gefahr, dass die Notenbank die Kontrolle über den Interbankenmarkt verliert, weil die durch den Einlagensatz vorgegebene Zinsuntergrenze „undicht“ wird und der Interbankenzins unterhalb dieser Grenze absinkt. Dies war in der Eurozone von 2019 bis 2023 der Fall, weil sehr viel Liquidität im Portfolio von Schattenbanken war, die keinen Zugang zu den Zentralbankfazilitäten hatten und die Liquidität an Geschäftsbanken mit Zentralbankzugang weitergaben (Ibid.).

Blackbox: “Strukturelles Wertpapierportfolio”

Derzeit unklar ist die Rolle des strukturellen Wertpapierportfolios, das in Zukunft einen wesentlichen Beitrag zur Deckung des strukturellen Liquiditätsbedarfs des Bankensystems leisten soll. Auch im ursprünglichen Handlungsrahmen des Eurosystems waren strukturelle Operationen (in Form von befristeten Transaktionen, definitiven Käufen/Verkäufen von Wertpapieren oder Emission von eigenen Schuldtiteln durch das Eurosystem) vorgesehen, um die strukturelle Liquiditätsposition des Finanzsektors gegenüber dem Eurosystem anzupassen. Sie wurden bis 2008 allerdings kaum angewendet.

Seither hat das Eurosystem bekanntlich verschiedenen Ankaufprogramme gestartet und in großem Maße private und öffentliche Wertpapiere am offenen Markt angekauft. Wenngleich diese Programme ausgelaufen sind, liegt die Vermutung nahe, dass die jetzt angekündigten strukturellen Wertpapieroperationen die Funktion der Ankaufprogramme übernehmen sollen. QE heißt dann möglicherweise „strukturelle Operationen“. Ein strukturelles Wertpapierportfolio ermöglicht die Umsetzung des im Juli 2022 beschlossenen „Transmission Protection Instruments“, das es erlaubt, die länderspezifische Zusammensetzung des für geldpolitische Zwecke gehaltenen Wertpapierportfolios zu verändern.

Droht eine Überforderung des Eurosystems?

Insgesamt enthält das vorliegende Reformkonzept für den geldpolitischen Instrumentenkasten des Eurosystems viele unkonventionelle Element und ähnelt trotz der Rückkehr zu der in 1999 eingeführten Nomenklatur weiterhin stark dem in der jüngeren Vergangenheit angewendeten Konzept der unkonventionellen Geldpolitik. Anders als der 1999 entwickelte Handlungsrahmen, der allein auf die Garantie von Preisstabilität ausgerichtet war, erlaubt das jetzt vorliegende Konzept dem Eurosystem, verschiedene Aufgaben zu erfüllen und zugleich für Preisstabilität, Finanzmarktstabilität und Klimaschutz zu sorgen. Was als auf den ersten Blick als vorteilhaft erscheint, kann Zielkonflikte auslösen und die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik beeinträchtigen.

Literatur

European Central Bank (2024), Changes to the Operational Framework for Implementing Monetary Policy. Statement by the Governing Council, Frankfurt/Main.

Schnabel, I. (2024), The Eurosystem’s Operational Framework. Speech at the Money Market Contact Group Meeting, Frankfurt/Main.

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