Kooperationen zwischen aktuellen oder potentiellen Wettbewerbern sind seit jeher eine Angelegenheit, deren Einschätzung einiger Sensibilität bedarf. Nun hat die Europäische Kommission neue Leitlinien für horizontale Kooperationsvereinbarungen in Kraft gesetzt, die jene von 2001 konkretisieren und ergänzen sollen. Dies bildet einen guten Anlass, sich etwas grundsätzlicher mit der zugrundeliegenden Thematik auseinanderzusetzen.
Allianzen, Kooperationen und Netzwerke
Die Zusammenarbeit von Unternehmen, die über einzelne Markttransaktionen hinausgeht, und meist auf der Grundlage von Kooperationsverträgen längerfristig ausgerichtet und so institutionalisiert ist, dass verlässliche commitments die Zusammenarbeit ermöglichen, hat in den vergangenen Jahren große Bedeutung erlangt. Ein zunehmender Anteil der Wertschöpfung entsteht in Allianzen und Netzwerken, über zwei Drittel der Unternehmen sind zumindest in einer Kooperation engagiert. Immer als Ergebnis einzelwirtschaftlicher Entscheidungen haben sich vielfältige Formen und Ausgestaltungen herausgebildet, die konkrete Kooperationsziele erreichen sollen. Dabei kann die Zusammenarbeit sowohl homogene als auch heterogene Ressourcen und Tätigkeiten kombinieren, einmal geht es um die Nutzung von Größen- und Verbundvorteilen in der Produktion und damit die Erreichung von Kostenvorteilen, ein anderes Mal um die Gewinnung von Marktanteilen über die Ausweitung der Leistungs- und Produktvielfalt. Viele andere Kooperationsmotive spielen in der unternehmerischen Praxis eine Rolle, z. B. die Senkung von Risiken, die Beschleunigung von Innovationen, die Bündelung von Wissen u.v.a.m. Die Klammer besteht in der Erzielung einer Kooperationsrente, also wirtschaftlichen Ergebnissen, die von den Unternehmen autonom nicht erreichbar wären. Es ist evident, dass solche einzelwirtschaftliche Entscheidungen gesamtwirtschaftliche Auswirkungen nach sich ziehen können, man denke etwa an die Standorteffekte von Entwicklungs- und Produktionsclustern. Doch die Zusammenabreit kann auch wirtschaftliche Macht entstehen lassen, die gegenüber Verbrauchern oder Wettbewerbern genutzt werden kann. Andererseits können Unternehmenskooperationen nicht nur die einzelwirtschaftliche, sondern auch die gesamtwirtschaftliche Effizienz erhöhen. Welcher Effekt letztlich resultiert hängt von vielen Faktoren und Mechanismen ab.
Wettbewerbsfördernde und wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen
Daher sind Kooperationen mit ihren zahlreichen Facetten unter wettbewerbspolitischen Gesichtspunkten ambivalent zu sehen und es gilt positive und negative Wohlfahrtseffekte abzuwägen, was in konkreten Bestimmungen des europäischen (und deutschen) Wettbewerbsrechts seinen Niederschlag gefunden hat und in der Theorie auch unter dem „Williamson-trade-off“ seinen Niederschlag gefunden hat, die kombinierte Betrachtung allokativer und produktiver Effizienz. Es geht also um die Abwägung wettbewerbsfördernder und wettbewerbsbeschränkender Auswirkungen, nie jedoch darum, quasi durch die Hintertür verschleierte Kartelle, Kollusion und Martkverschließung zuzulassen oder nicht genehmigungsfähige „Quasifusionen“ durchzusetzen. Diese sind tabu und stehen nicht zur Disposition. Es geht vielmehr um Artikel 101 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und den dort verankerten Freistellungsmöglichkeiten für Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen. Art. 101, Absatz 3, nennt mit den Voraussetzungen für die Freistellung vom Verbot in Art. 101, Absatz 1, die Voraussetzungen für zulässige Kooperationen. Die neuen Leitlinien sollen die Transparenz bezüglich dieser Freistellungsvoraussetzungen, ihrer Handhabung und ihrer Interpretation erhöhen. Auf diese Weise soll die Freiheit von Unternehmen zu kooperieren mit dem Schutz des Wettbewerbs besser kompatibel gemacht werden, als dies bisher der Fall war. Den Unternehmen soll mehr Sicherheit über die Einschätzung ihrer Kooperation gegeben werden. Selbstverständlich können sowohl vertikale als auch horizontale Kooperationen wettbewerbsbeschränkende Wirkungen enthalten. Dabei geht es bei ersteren um die Übertragung von wirtschaftlicher Macht auf vor- oder nachgelagerte Wertschöpfungsstufen, die durch Kooperationen ermöglicht werden kann. Nicht auf diese beziehen sich die neuen Leitlinien jedoch, sondern ausschließlich auf die Kooperation zwischen aktuellen oder potentiellen Konkurrenten, also horizontalen Kooperationen, die jedoch auch vertikale Elemente enthalten können.
Selbsteinschätzung durch die Unternehmen
Um die Relevanz der neuen Leitlinien besser würdigen zu können, gilt es einige zusätzliche Aspekte zu berücksichtigen. So ist die Abwägung der vermuteten gegenteiligen Wettbewerbseffekte bereits seit der Reform des europäischen Wettbewerbsrechts 2004/05 zulässig und auch unter der Bezeichnung des „More economic approach“ bekanntgeworden und in Anwendung. Die Freistellungstatbestände und ihre Voraussetzungen sollen sicherstellen, dass wettbewerbsbeschränkende Kooperationen unterbleiben und wettbewerbsfördernde Kooperationen nicht unterlassen werden. In allgemeiner Form handelt es sich bei den Freistellungsvoraussetzungen erstens um die Entstehung von Effizienzgewinnen, zweitens die Unerlässlichkeit der Zusammenarbeit, um diese zu erzielen, drittens ihre zumindest teilweise Weitergabe an die Verbraucher sowie viertens das Verbot der Ausschaltung des Wettbewerbs. Allerdings bieten diese Tatbestände großen Raum für Interpretationen und es sind die Unternehmen selbst, die die Einschätzung vorzunehmen haben, ob ihre Kooperation die Voraussetzungen erfüllt, um unter eine der Gruppenfreistellungen zu fallen oder für eine Einzelfreistellung. Dieser gesetzliche Hintergrund hat seit dem Inkrafttreten dieses wettbewerbspolitischen Regimes zu einer großen Unsicherheit für die Unternehmen geführt und wohl auch manche wettbewerblich unbedenkliche Kooperation verhindert. In diesem Prozess hat sich mit dem „Economic Consulting“ ein Beratungszweig etabliert, der sich auf die Isolierung der Wettbewerbseffekte von Kooperationen spezialisiert hat, wenngleich er meist erst dann zum Einsatz kommt, wenn über die Zulässigkeit von Vereinbarungen letztlich von Gerichten entschieden wird. Die nun gültigen „Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit“ sollen diese Unsicherheit verringern, die Informationsasymmetrien zulasten der kooperationsinteressierten Unternehmen abbauen.
Mehr Transparenz
Sie enthalten allgemeine Erläuterungen zur Auslegung von Artikel 101, die dem Bedürfnis nach klareren Erläuterungen entsprechen sollen, das sich in einem vorangegangenen Konsultationsprozess deutlich herausgestellt hatte. Die Leitlinien von 2001 waren von Betroffenen und Experten als unzureichend eingeschätzt worden. Ist die neue Ausgabe tatsächlich geeignet, die Transparenz der Regelinterpretation für die Unternehmen zu erhöhen? Zum aktuellen Zeitpunkt können nur eine knappe Einschätzung und die erste Auslotung einiger Perspektiven erfolgen. Ihre Brauchbarkeit und ihre Qualität werden sich in der konkreten Anwendung der kommenden Jahre herausstellen. Eine Konkretisierung von Informationen erfolgt für F&E-Kooperationen sowie Produktionsvereinbarungen. Für diese Kooperationsformen wurden neue Gruppenfreistellungsvereinbarungen in Kraft gesetzt. Zusätzlich erfassen die Leitlinien Einkaufsvereinbarungen, Vermarktungsvereinbarungen sowie Vereinbarungen über Normen und Standardbedingungen. Für jeden dieser Bereiche werden die vier oben genannten Freistellungsvoraussetzungen näher beschrieben und ebenso Hinweise gegeben, wodurch wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen entstehen. Zusätzlich werden zahlreiche und differenzierte Beispiele für mögliche Konstellationen und deren Einschätzung angegeben. Als Klammer für wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen gilt, dass es sich um wahrscheinliche (also vermutete) und spürbare negative Auswirkungen auf Preise, Produktionsmengen, Innovationen, die Produktqualität oder Produktvielfalt handeln muss. Ansatzpunkte dafür ergeben sich erstens aus der Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der Parteien. Hier geht es um vertragliche Verpflichtungen und eine dadurch bedingte Veränderung von Anreizen. Zweitens hängt die Wahrscheinlichkeit einer Wettbewerbsbeschränkung meist von Art und Inhalt der Vereinbarung sowie von der Existenz von Marktmacht und anderen Markteigenschaften ab.
Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern
Ein eigenes Kapitel zum Informationsaustausch ist völlig neu und entspricht einem Wunsch der Unternehmen, die mehr Klarheit über die Einschätzung eines wichtigen wettbewerbssensiblen Tatbestandes von hoher ökonomischer Komplexität und Rechtssprechungsrelevanz wünschten. „Wie wird es eingeschätzt, wenn man miteinander spricht, Erfahrungen und Erwartungen austauscht?“ In den Leitlinien wird zwischen dem direkten Datenaustausch zwischen Wettbewerbern und dem indirekten Austausch über eine gemeinsame Einrichtung wie etwa einem Wirtschaftsverband oder über einen Dritten wie etwa einem Marktforschungsinstitut oder über Lieferanten oder Einzelhändler differenziert. Wie vielfältig der Informationsaustausch sein kann und wie gefährlich er werden kann, zeigt sich in den konkreten Ausführungen. Ob diese tatsächlich geeignet sind, die Informationsasymmetrien für die Unternehmen zu beseitigen, mag bezweifelt werden. Zwar wird anerkannt, dass der Informationsaustausch mit Effizienzgewinnen verbunden sein kann, dies über die Senkung der Suchkosten von Verbrauchern, die Auflösung von Informationsasymmetrien zwischen den Marktseiten sowie Kosteneinsparungen für Lagerbestände und die Koordination des Leistungsaustausches zwischen den Marktseiten oder durch die Möglichkeit eines benchmarkings unter Berücksichtigung von „Industry Best Practices“. Doch die reale Gefahr des Austausches von individualisierten Informationen über geplantes zukünftiges Preis- oder Mengenverhalten, der Auskunft über die Marktstrategien der Wettbewerber geben und so das Unternehmensverhalten wettbewerbsgefährdend koordinieren kann, bleibt – zumindest zwischen den Zeilen – sehr präsent.
Die Perspektiven
Vor dem hier skizzierten Hintergrund von Formulierungen, Interpretationen und Einschätzungen muss die Beurteilung vorerst eine vage bleiben. In den neuen Leitlinien wurden Klärungen präsentiert, gute Beispiele ausformuliert und eingeschätzt sowie Interpretationen angeboten. Also ist die Transparenz im Vergleich zur Situation bis Ende 2010 ohne Zweifel gestiegen. Den Unternehmen und ihren Beratern wird auf diese Weise eine Orientierung möglich, die über bereits erlebte und berichtete Einzelfälle hinausgeht und die an der Grundidee der konkreten Abwägung gegenläufiger Effekte festgemacht wird. Damit ist auch von einem schriftlich formulierten commitment der Europäischen Kommission auszugehen, das mit Hinweisen für Gerichte, beratende Anwälte und Ökonomen verbunden ist. Doch der Beratungsbedarf ist bislang kaum reduziert, wenn beachtet wird, dass Standardfälle eher selten sind und sich die konkreten Auswirkungen wohl auch in Zukunft nur anhand von Marktanalysen feststellen lassen. Auffallend ist, dass die Erläuterungen über Effizienzgewinne eher abstrakt bleiben und wenige Hilfestellungen darüber beinhalten, wie die einzelnen Effekte zu bestimmen sind. Die Herausforderungen werden auch in Zukunft im Detail verborgen sein und daher werden sowohl die Gestaltungsspielräume als auch die Anzahl der wohlfahrtsfördernden Kooperationen hinter den Möglichkeiten zurückbleiben. Nun gilt es also für alle Beteiligten mit den neuen Leitlinien zurechtzukommen, das zusätzlich Informationspotenzial zu nutzen und nach einigen Jahren zu prüfen, ob weitere Konkretisierungen möglich und notwendig sind. Vom Idealfall einer „Kooperationsklassifikation“, die es den Unternehmen mehr als bisher ermöglichen könnte, selbst die Wettbewerbswirkungen ihrer Kooperation selbst einzuschätzen, sind diese Leitlinien jedoch weit entfernt. Diesen Anspruch hat die Europäische Kommission jedoch nicht, wie sie selbst einleitend bekennt: „… angesichts einer solchen Vielfalt (an Kooperationen) und der jeweiligen Marktbedingungen kann in diesen Leitlinien nicht auf jedes mögliche Szenario eingegangen werden. Dennoch werden diese Leitlinien Unternehmen als Hilfestellung dienen, wenn sie ihre jeweiligen horizontalen Vereinbarungen auf Vereinbarkeit mit Artikel 101 prüfen. Diese Kriterien sind jedoch nicht als „Checkliste“ zu verstehen, die systematisch in jedem Fall anwendbar ist. Vielmehr muss jeder Fall anhand des jeweiligen Sachverhalts geprüft werden, was eine flexible Anwendung dieser Leitlinien erforderlich macht.“ (Zweck und Anwendungsbereich der Leitlinien, Punkt 7).
Hallo,
Ich würde mir wünschen, dass Sie ihre texte mit wesentlich mehr Absätzen formatieren. Diese langen, glatten riemen sind alles andere als ein lesevergnügen.