Herr Professor Raffelhüschen, könnten Sie aus dem Stegreif die derzeitige Alterspyramide für Deutschland aufzeichnen?
Bernd Raffelhüschen: Die Altersstruktur ähnelt keiner Pyramide mehr, sondern gleicht mehr und mehr einem Tannenbaum. Wir haben die stärksten Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, derzeit in der Mitte. Das hat mit einer unten breiten und oben spitzen Pyramide nicht mehr viel gemein.
Früher ähnelte sie einer Pyramide, heute einem Tannenbaum und morgen einem Pilz. Was bedeuten diese Bilder für uns?
Raffelhüschen: Wenn sich die Alterspyramide einem Pilz angenähert hat, was zwischen 2030 und 2040 der Fall sein dürfte, werden immer mehr zukünftig Alte von immer weniger zukünftig Erwerbstätigen finanziert – und das bei steigender Lebenserwartung noch dazu immer länger.
Inwieweit ist Deutschland und seine sozialen Sicherungssysteme auf diese demographische Entwicklung vorbereitet?
Raffelhüschen: Das ist ganz unterschiedlich. Wenn man die parafiskalischen Systeme – also die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung – betrachtet, wurde bislang nur die gesetzliche Rentenversicherung einigermaßen auf den Alterungsprozess adjustiert. Die gesetzliche Rentenversicherung ist tatsächlich weitgehend saniert, allerdings – auch das muss man ganz klar betonen – durch tiefe Einschnitte bei den Leistungen und moderate Beitragserhöhungen in der Zukunft. Alle anderen sozialen Systeme warten dagegen noch auf zukunftsfeste Lösungen.
Ihr Instrument zur Messung einer nachhaltigen Fiskalpolitik ist die sogenannte Generationenbilanz. Als Ergebnis erhalten Sie eine Nachhaltigkeitslücke von aktuell über 300 Prozent. Was verbirgt sich dahinter?
Raffelhüschen: Die Generationenbilanz ist die Bilanz eines ehrbaren Staates. Tatsächlich budgetiert der Staat kameralistisch, indem er wie ein Minderkaufmann lediglich Einnahmen- und Ausgabenströme einander gegenüberstellt. Die Generationenbilanz imitiert einen Staat, der Bilanzen aufstellen müsste wie ein ehrbarer Kaufmann. In diesem Fall müsste er aufgrund seiner zukünftigen Zahlungsversprechungen, die er mit seiner heutigen Fiskalpolitik gibt, Rückstellungen bilden. Mit der Generationenbilanz messen wir nichts anderes als die Rückstellungen, die der Staat bräuchte, damit er die Zahlungsversprechungen an zukünftig Alte, Kranke und Pflegebedürftige, aber auch Pensionäre leisten kann. Die Generationenbilanz gibt daher den Abstand zum Zustand der Nachhaltigkeit wider.
Folglich sind die expliziten Schulden des Staates in der Generationenbilanz noch nicht einmal berücksichtigt.
Raffelhüschen: Genau. Die expliziten Schulden werden von der einschlägigen Finanzstatistik gemessen. Dagegen werden die impliziten Schulden von ihr nicht erfasst, weil es unterlassen wird, eine Bilanz mit Rückstellungen aufzustellen. Genau dieses Manko holt die Generationenbilanz nach.
Welche Forderungen gegenüber dem Staat machen denn den höchsten Anteil aus?
Raffelhüschen: Der größte Posten ist die gesetzliche Krankenversicherung. Wenn man den Barwert dessen heranzieht, was die zukünftigen Gesundheitsausgaben heute wert sind und gleichzeitig die Beiträge, die noch ins System eingezahlt werden, gegenüberstellt, dann bekommt man die implizite Staatsverschuldung der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie liegt in der Größenordnung unseres Bruttoinlandsproduktes. Wäre die gesetzliche Krankenversicherung ein ehrbarer Kaufmann, würde sie diese Lücke mithilfe von Rückstellungen bilanzieren. Tatsächlich fehlen sie. In der Privatwirtschaft wäre eine solche Praxis ein Insolvenzgrund wegen mangelnden Eigenkapitals.
Sind implizite Schulden denn wirklich so tragisch? Tatsächlich sind es doch nur Ansprüche gegenüber dem Staat, die durch politische Entscheidungen beliebig gekürzt werden könnten.
Raffelhüschen: An dieser Stelle sollte man die Nachhaltigkeit ins Spiel bringen. Dafür bemühen wir Ökonomen seit über 300 Jahren ein schönes Bild aus der Forstwissenschaft. Wenn man jedes Jahr nur so viel Holz aus einem Wald schlägt, wie Bäume nachwachsen, bleibt der Wald ein Wald. Nachhaltigkeit bedeutet also, dass man den heutigen Zustand auch in Zukunft beibehalten kann. In der Krankenversicherung sollten wir also mit den heutigen Beiträgen für alle Zeit das heutige Leistungsniveau aufrecht erhalten können. Wenn aber die heutigen Leistungen in der Zukunft summa summarum teurer werden, weil wir mehr ältere Kranke haben und gleichzeitig die Beiträge nicht angepasst werden, bekommen wir das Defizit in der Größenordnung von über zwei Billionen Euro.
Schwarz-Gelb ist seit über einem Jahr an der Regierung. Diesen Parteien traut man noch am ehesten einen ausgeglichenen Haushalt zu. Wie hat sich die Nachhaltigkeitslücke in dieser Zeit entwickelt?
Raffelhüschen: Das Problem war, dass die konjunkturelle Komponente am Anfang ziemlich schlecht war. Der Staat musste bei den Steuereinnahmen hohe Einbußen hinnehmen, auch wenn das Niveau noch immer dem des Jahres 2006 entsprochen hat. Gleichzeitig sind die Ausgaben angestiegen, weil die Politik versucht hat, die Konjunktur zu beleben. Diese Programme haben den Haushalt belastet. Andererseits hat die Regierung in ihrem ersten Jahr auch ein Sparpaket beschlossen. Wenn man alles zusammennimmt und das Sparpaket tatsächlich voll umgesetzt wird, dann sind wir bei einer fast unveränderten Situation. Manches, was die Regierung angepackt hat, war für die Nachhaltigkeitslücke gut, manches schlecht. Aber wir versprechen uns nach wie vor das Dreifache unserer jährlichen Wirtschaftsleistung an Leistungen, die wir nicht halten können, ohne dass die zukünftigen Generationen massive Beitragserhöhungen tolerieren müssen.
Wie weit müsste der Staat die Steuern erhöhen, damit sowohl die offen ausgewiesenen als auch die versteckten Schulden langfristig getilgt werden können?
Raffelhüschen: Zu diesem Zweck müsste der Staat entweder die Steuern oder Beiträge dauerhaft um zwölf Prozent erhöhen oder sämtliche Transfers um elf Prozent kürzen.
Tatsächlich wird weder das eine noch das andere in dieser Größenordnung passieren. Es bleibt der Verdacht bestehen, dass bei uns in starkem Maße finanzielle Lasten auf jüngere Generationen abgewälzt werden.
Raffelhüschen: Das wissen wir nicht so genau. Ob für die Rückführung der impliziten Schulden eher zukünftige Generationen oder schon heute lebende junge Bevölkerungsgruppen herangezogen werden, hängt von künftigen politischen Entscheidungen ab, die wir nicht absehen können. Nur eines ist sicher: Die Demographie des Jahres 2030 steht schon heute fest. Sie ist unabwendbar. Der Pilz wird definitiv kommen.
Schenkt man der deutschen Generationenbilanz Glauben, dann starten Neugeborene mit einem Transferdefizit in einem hohen fünfstelligen Euro-Bereich ins Leben. Wie kann man sich das vorstellen?
Raffelhüschen: Wenn heute jemand im Kreißsaal geboren wird, kostet er bereits Geld. Das bedeutet, dass der Barwert der Zahlungen, die der Neugeborene über sein ganzes Leben verlangt höher ist als der Barwert der Beiträge, die er Zeit seines Lebens zahlen wird. Wir haben unsere sozialen Systeme viel zu stark überzogen. Deshalb sind wir nicht in der Lage, die Lebensforderungen eines Neugeborenen über seine Beiträge zu refinanzieren. Das ist ein untragbarer Zustand. Nachwuchs sollte uns etwas bringen. Tatsächlich ist er aus fiskalischer Sicht zunächst eine Belastung.
Ab dem Teenager-Alter wendet sich das Blatt und es entstehen Nettosteuerzahlungen. Warum?
Raffelhüschen: Das liegt daran, dass die Generationenbilanz nur nach vorne blickt. Beim Konto eines 30-Jährigen schneiden wir die ersten 30 Jahre ab und rechnen von heute an bis zu seinem voraussichtlichen Todestag ab. Es wird gemessen, was in der Zukunft passiert. Denn die vergangenen Steuern und Beiträge sind längst zu Ausgaben für öffentliche Güter, Renten und Pensionen geworden.
Weil die Zahlungen ab Mitte 40 wieder stark negativ werden, entsteht die überdimensionierte Nachhaltigkeitslücke. Wie steht Deutschland damit im internationalen Vergleich dar?
Raffelhüschen: Die internationalen Vergleiche hinken etwas, weil wir nie ganz vergleichbare Generationenbilanzen haben. Bei den Untersuchungen, die es gibt, sind wir zwar bei den impliziten Schulden nicht die Schlechtesten, aber doch im unteren Mittelfeld. Wir haben mit unserer Krankenversicherung, der Pflege und den Beamtenpensionen noch große Brocken, die reformiert werden müssen.
Gibt es Länder, die eine nachhaltige Fiskalpolitik ihr Eigen nennen können?
Raffelhüschen: Es gab Länder wie Norwegen, die kaum Probleme hatten, aber mittlerweile durch die Konjunktureinbrüche wieder in eine bedrohliche Situation gekommen sind. Allerdings ist Norwegen mit seinen großen Ölvorkommen kaum mit Deutschland zu vergleichen. Ein anderes Beispiel ist die Schweiz, die ihre Hausaufgaben sehr gründlich gemacht hat und auch in schlechten Zeiten ein Budget vorweisen kann, das man langfristig durchaus als nachhaltig bezeichnen kann.
Wenigstens ist unser industrieller Sektor wettbewerbsfähig; nicht zuletzt deshalb ist die Zahl der Arbeitslosen zuletzt auf etwa drei Millionen gesunken. Ist und bleibt wenigstens unsere gesetzliche Rente sicher?
Raffelhüschen: Die gesetzliche Rente ist sicherer geworden. Wir hatten bei der gesetzlichen Rentenversicherung einen Reformdruck, der wesentlich größer war, als das, was uns jetzt bei der Gesundheit bevorsteht. Die impliziten Lasten lagen beim Zweifachen des Bruttoinlandsprodukts. Die Rentenreformen haben allerdings gewirkt. Wir haben seit zehn Jahren in der Summe so viele Reformen gemacht, dass von diesen 200 Prozent implizite Staatsverschuldung der gesetzlichen Rentenversicherung nur noch 50 bis 60 Prozent übrig geblieben sind. Mit Versatzstücken wie der Riesterreform, dem Nachhaltigkeitsfaktor oder der Rente mit 67 sind wir sehr gut gefahren.
Wenn nicht das Rad an der einen oder anderen Stelle zurückgedreht worden ist oder noch zurückgedreht werden soll.
Raffelhüschen: Sie erheben zu Recht den Zeigefinger. Die gesetzliche Rente wird nur dann dauerhaft zukunftsfest, wenn die Politik endlich die Finger davon lässt. Denn alle Interventionen – Stichwort Rentengarantie oder Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors –, die in den letzten Jahren passiert sind, waren kontraproduktiv. Eine Rentengarantie mit solidarischen Argumenten einzuführen, ist eine semantische Schönfärberei. Es ist doch nicht solidarisch, dass die Rentner, wenn es gut läuft, alles mitnehmen und wenn es schlecht läuft, die Erwerbstätigen alleine lassen. Solidarität bedeutet, dass wir alle in einem Boot sitzen. Denn die Rentner von heute leben von den Erwerbstätigen – und das wird auch so bleiben.
Bei allem notwendigen Anpassungsdruck: Irgendetwas muss das Umlageverfahren doch für sich haben. Immerhin setzen fast alle demokratischen Staaten bei der Altersvorsorge zumindest teilweise auf dieses System. Woran liegt das?
Raffelhüschen: Das Umlageverfahren hat den Charme, dass es ohne das Risiko des Kapitalverlustes auskommt. Es ist also resistenter gegenüber Katastrophen als das Kapitaldeckungsverfahren. Dafür ist es empfindlicher gegenüber demographischen Entwicklungen. Wenn ich beide Risiken abdecken will und zwei Systeme habe, die jeweils eines stärker eliminiert, dann ist es vernünftig, auf zwei Beinen zu stehen. Das bedeutet eine Mischung aus Umlageverfahren und Kapitaldeckungsverfahren. Die große Kunst besteht darin, diese beiden Systeme in einem richtigen Verhältnis zu adjustieren. Wenn das demographische Risiko größer wird, dann muss man eben weniger auf das Umlage- und dafür mehr auf das Kapitaldeckungsverfahren setzen. Genau dort haben wir angesetzt. Im Jahr 2000 hatten wir ein Verhältnis von etwa 80:20 zugunsten des Umlageverfahrens. Wenn alle Reformmaßnahmen tatsächlich beibehalten werden, bekommen wir ein Verhältnis von etwa 60:40. Dann wäre das Bein Umlageverfahren stärker entlastet.
Was würde dagegen passieren, wenn die Politik die geleisteten Reformanstrengungen dauerhaft zurücknimmt?
Raffelhüschen: Dann würden wir unser System der gesetzlichen Rentenversicherung mit Beiträgen von 30 Prozent über kurz oder lang an die Wand fahren. Denn eines sollte klar sein: Man kann zukünftigen Generationen nicht erklären, dass sie zwei Drittel der Sozialabgaben zu bezahlen haben und noch ein weiteres Drittel an Steuern drauflegen müssen. Das wäre nicht tolerabel. Deshalb haben wir den zukünftigen Rentnern gesagt: „Ihr werdet länger arbeiten und gleichzeitig weniger bekommen.“ Das verbirgt sich hinter dem Nachhaltigkeitsfaktor, der nichts anderes als die größte Kürzung in der Rentengeschichte ist. Das verbirgt sich aber auch hinter der modifizierten Bruttolohnanpassung oder der Rente mit 67. All diese Maßnahmen bedeuten Rentenkürzungen für diejenigen, die heute zwischen 30 und 50 Jahre alt sind.
Trifft es hier die Richtigen?
Raffelhüschen: Ja, diese Generation ist selbst schuld. Denn die heute 30 bis 60-Jährigen sind diejenigen, die nicht die Kinder in die Welt gesetzt haben, die notwendig gewesen wären, um ihr Rentensystem zu finanzieren. Folglich wurde nach dem Verursacherprinzip gehandelt. Diejenigen, die das Kollektiv der Zukunft kleiner gemacht haben, müssen mit den Konsequenzen leben. Die schwindende Zahl an Erwerbstätigen kann der Rentnergeneration keine Lebensstandardsicherung mehr garantieren. Wenn doppelt so viele Rentner, die noch dazu immer älter werden, von dreiviertel der heutigen Beitragszahler finanziert werden müssen, dann ist das schlichtweg nicht machbar.
Also geht eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit genau in die richtige Richtung. Aber auch hier regt sich etwa in Deutschland und Frankreich heftiger Widerstand.
Raffelhüschen: Diese Widerstände sind für einen Wissenschaftler einfach nur bizarr. Die Rente mit 67 ist nichts anderes als ein Geschenk. Denn wenn man von Generation zu Generation vier Jahre länger lebt, aber nur zwei Jahre länger arbeiten muss, ist das ein gutes Geschäft. Wir hätten die zusätzlichen Lebensjahre auch ins Verhältnis „Einzahlzeit versus Rentenbezugszeit“ setzen können. In diesem Fall wären wir bei der Rente mit 68 gelandet.
Kritiker der Rente mit 67 wenden ein, dass die Beschäftigungssituation von über 55-Jährigen eher schwierig ist. Was würden Sie ihnen entgegnen?
Raffelhüschen: Das sind Kritiker, die vom Fach nichts verstehen. Denn die Rente mit 67 ist in jedem Fall eine Rentenkürzung. Diejenigen, die nicht mehr arbeiten, müssen pro Monat einen Abschlag von 0,3 Prozent hinnehmen. Das macht über zwei Jahre insgesamt 7,2 Prozent. Wer behauptet, dass diese Kürzung bei erwerbstätigen Älteren nicht stattfindet, der kennt nicht einmal die Mathematik des neunten Schuljahres. Denn für denjenigen, der weiter arbeitet, ist die Rentenkürzung etwa genauso hoch wie für den Arbeitslosen. Das ist eine einfache Barwertrechnung. Wenn man länger arbeitet, bekommt man zwar mehr Rente, muss dafür aber ohne Rentenbezug 24 Monate länger Beiträge zahlen. Folglich wird der Barwert des Rentenerhalts ebenfalls gekürzt. Und wer die Sterbetafeln kennt, der weiß: Um fast genau 7,2 Prozent.
Was halten Sie von der Idee, die Regelaltersgrenze nicht für die gesamte Bevölkerung einheitlich festzulegen, sondern nach gruppenspezifischen Lebenserwartungen zu staffeln?
Raffelhüschen: Es gibt solche Systeme, in denen jahrgangsspezifisch die Lebenserwartungen in die entsprechenden Rentenbeiträge eingearbeitet sind. Sie werden beispielsweise in Norwegen und Schweden angewendet. Tatsächlich haben wir nichts anderes gemacht, nur eben über eine große Gruppe hinweg. Wir haben der heutigen Erwerbsbevölkerung gesagt, dass sie länger arbeiten muss. Das ist nichts anderes als eine Anpassung der Rentenzahlungen über die Zeit. Jeder, der früher in Rente gehen will, muss dafür einen Abschlag in Kauf nehmen, der für die Gesamtbevölkerung risikoäquivalent ist. Natürlich könnte man auch unterschiedliche Abschläge für Frauen und Männer oder Groß- und Geringverdiener berechnen. Aber dann würde man anfangen, Kleinstgruppen zu bilden und unterschiedliche Lebenserwartungen festzulegen. So ist unser System nicht konzipiert. Tatsächlich ist es ein Parafiskus, der für jedes Individuum zu den gleichen Bedingungen gilt – und so sollte er auch beibehalten werden.
Inwieweit besteht bei uns ein Zusammenhang zwischen den Beiträgen während des Erwerbslebens und der Höhe der Rentenzahlungen?
Raffelhüschen: Dieser Zusammenhang ist hundertprozentig. Darum werden wir in der ganzen Welt beneidet. Wir haben eine Rente, die vollständig an die Lebensleistung im Sinne des Verdienstes gekoppelt ist. Wenn man durchschnittlich verdient, dann zahlt man durchschnittlich ein und bekommt hinterher eine durchschnittliche Rente. Wenn ich doppelt so viel verdiene, dann bekomme ich später die doppelte Rente. Und wenn ich nur halb so viel einzahle, dann bekomme ich eben nur die Hälfte. Wir haben folglich ein völlig äquivalentes System. Die Rente ist das Spiegelbild der Lebensleistung. Wer sich über seine niedrige Rente beklagt, der beschwert sich darüber, dass er zu wenig erreicht hat.
Ähnliches gilt auch für die kapitalgedeckte Altersvorsorge, bei der jedes Individuum selbst seine Ersparnisse bildet und bei Renteneintritt oder bereits zuvor eine Versicherung gegen Langlebigkeit abschließt. Warum ist die Rendite des Kapitaldeckungsverfahrens mittlerweile höher als die des Umlageverfahrens?
Raffelhüschen: Die interne Rendite eines Umlageverfahrens setzt sich aus dem Bevölkerungswachstum und der technischen Fortschrittsrate zusammen. Sie ist bei sinkender Bevölkerung und einer technischen Fortschrittsrate von eins bis 1,5 Prozent nahezu null. Die interne Ertragsrate eines Kapitaldeckungsverfahrens ist dagegen die marktübliche Verzinsung. Allerdings ist damit der Realzins gemeint und dieser ist aktuell nicht besonders hoch. Er liegt vielleicht bei einem oder zwei Prozent. Die Rendite des Kapitaldeckungsverfahrens liegt auch wegen des Zinseszins-Effekts dennoch höher. Makroökonomisch bedeutet eine Kapitaldeckung zudem, dass wir eine höhere Ersparnis haben. In geschlossenen Ökonomien folgen daraus eine höhere inländische Investitionsrate, ein höherer Kapitalstock und damit ein höheres Produktionspotential in der Zukunft.
Realistischer sind aber offene Volkswirtschaften.
Raffelhüschen: In offenen Volkswirtschaften kann es sein, dass diese Investitionen nicht bei uns, sondern im Ausland stattfinden. Das ist aber nichts anderes als ein Kapitalexport. Er versetzt die Inländer in eine Gläubigerposition. Damit haben sie nicht nur Anspruch auf eine Rückzahlung, sondern auch auf die entsprechenden Zinslasten in der Zukunft.
Sind die Voraussetzungen für eine kapitalgedeckte Altersvorsorge auf privaten Märkten Ihrer Meinung nach gegeben?
Raffelhüschen: Prinzipiell ja, aber wir sind hierzulande in zu sichere Lösungen gegangen. Wenn Sie sich die Versicherungswirtschaft anschauen, werden Sie feststellen, dass die Refinanzierung der Rentenbeiträge sehr stark über Staatsanleihen läuft. Da sollten nicht nur Ökonomen hellhörig werden. Eine Finanzierung der Kapitaldeckung durch Staatsanleihen wird dem Namen nicht gerecht. Denn die Bundesobligationen muss der Steuerzahler der Zukunft zuzüglich Zinsen zurückzahlen. Während beim Umlageverfahren die künftigen Beitragszahler fehlen, mangelt es bei einem System, das zu einseitig auf Staatsanleihen setzt, an zukünftigen Steuerzahlern.
Wie sollte denn dann eine kapitalgedeckte Altersvorsorge aussehen? Raffelhüschen: Kapitaldeckung muss äquivalent zur Realkapital-Deckung sein. Deshalb sollte in Aktien, Direktinvestitionen und die Infrastruktur investiert werden. Aber wir können der Versicherungswirtschaft nicht vorwerfen, zu viel in Staatsanleihen zu investieren, wenn es unser Bilanzrecht nicht möglich macht, auch größere Volatilitäten im Dax zu überstehen. Der norwegische Generationenfonds, ein kapitalgedecktes System in kollektiver Hand, darf in alles investieren, nur nicht in norwegische Staatsanleihen.
Dafür hat ihn die Finanz- und Wirtschaftskrise viel stärker getroffen. Raffelhüschen: Natürlich ist Kapitaldeckung sensitiv gegenüber größeren Schwankungen in den Bewertungsvorgängen. Aber das muss man eben durchstehen können. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass das Finanzvermögen durch die Wirtschaftskrise um gerade einmal 3,5 Prozent gesunken ist. Jetzt ist es schon wieder höher als vor der Krise. Die Gefährdung des Kapitalstocks wird meines Erachtens etwas zu hoch gehängt. Und eines sollte auch klar sein: Die nächste Krise kommt bestimmt, und auch diese werden wir überstehen.
Zurück zum hohen Staatsanleihen-Anteil der privaten Altersvorsorge in Deutschland.
Raffelhüschen: Natürlich hat sich aufgrund des hohen Staatsanleihen-Anteils die Finanzkrise bei uns nicht besonders stark ausgewirkt. Das wurde von allen Seiten als etwas Positives gesehen. Ich halte das für einen schlechten Indikator. Denn er zeigt, dass wir tatsächlich kein wirkliches Kapitaldeckungsverfahren in Deutschland haben. Der Krisenvorteil ist nur ein kurzfristiger Vorteil, weil keiner Verluste ausweisen musste. Aber langfristig ist es die schlechtere Strategie, weil wir zu wenig an den weltweiten Erträgen partizipieren.
Dabei könnten wir uns eine stärkere Realkapital-Deckung erlauben, weil wir nach wie vor ein großes Gewicht auf das Umlageverfahren legen. Dieses dürfte ja ebenfalls kaum von der Finanzkrise getroffen worden sein.
Raffelhüschen: Krisen haben in der Tat nur einen indirekten Einfluss auf die gesetzliche Rentenversicherung. Wenn ein wirtschaftlicher Einbruch die Lohnzuwächse dämpft oder sie sogar ins Negative umkehrt, werden die entsprechenden Beitragszahlungen geringer. Normalerweise würden dann auch die Renten gekürzt werden. Wenn man aber eine Rentengarantie einführt, dann bricht man diese Symmetrie. Ich hätte mir hier eine ruhigere Hand der Rentenpolitik gewünscht. Aber das konnte man in Zeiten der Großen Koalition nicht erwarten. Noch erstaunlicher ist aber etwas anderes. Tatsächlich hat sich im Laufe der Krise die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland nicht großartig verringert. Die Krise ist im Grunde genommen an der gesetzlichen Rentenversicherung fast spurlos vorbei gegangen.
Bei uns gab es zudem im Gegensatz zu Ländern wie den USA oder Spanien keine Immobilienblase. Was hätte es für die Altersvorsorge bedeutet, wenn es auch in Deutschland zu Übertreibungen bei den Häuserpreisen gekommen wäre?
Raffelhüschen: Die private Immobilienvorsorge fürs Alter ist bei uns vergleichsweise gering. Wir haben Eigenheimquoten von in etwa einem Drittel. Das ist im internationalen Vergleich wenig und wird oftmals als Nachteil hingestellt. Auf der anderen Seite ist unsere Eigenheimquote deutlich gesünder, weil die Menschen auch wirklich in ihren eigenen vier Wänden leben. In Skandinavien oder in den USA wohnen zwar mehr als die Hälfte der Bevölkerung in ihrem eigenen Haus. Tatsächlich gehören die vier Wände aber der Bank und sind daher zinsreagibel.
Auch wegen der Immobilienkrise in den USA haben wir mittlerweile ein Verschuldungsproblem. Eine Möglichkeit ist eine Entschuldung über Inflation, die wiederum Vorsorgesparer treffen würde. Wie schätzen Sie die Gefahr einer Geldentwertung, die besonders die private Altersvorsorge treffen würde, mittelfristig ein?
Raffelhüschen: Derzeit spüren wir keinen großen inflationären Druck, auch wenn die Amerikaner momentan sehr großzügig mit dem Gelddrucken umgehen. Aber erstaunlicherweise absorbiert der Markt hohe monetäre Alimentierungen derzeit problemlos. In Deutschland dürfte die Gefahr einer Inflation noch geringer sein. Aber ich befürchte, dass die Märkte mittelfristig erwarten, dass eine leichte Inflation den Akteuren gut zu Gesicht stehen würde. Denn es gibt eine große Koalition der Interessen für eine steigende Geldentwertung. Vier bis sechs Prozent Inflation würden dem Staat helfen, die Schulden halbwegs in den Griff zu bekommen. Sie wäre auch gut für die Versicherungswirtschaft, weil sie hohe Zinsen garantieren muss. Das Interesse für eine höhere Inflation ist also an vielen Stellen vorhanden. Aber genau hier sollten die Ökonomen wieder den Zeigefinger in die Luft strecken. Inflation ist nie gut, weil sie immer diversen Gruppen schadet. Meistens sind es die kleinen Leuten, die ihre Ersparnissein sichere Geldanlagen wie Sparkonten oder Staatsanleihen anlegen.
Auch für sie wurde die Riesterrente eingeführt. Sind wir bei der privaten Altersvorsorge auf einem guten Weg?
Raffelhüschen: Ja, grundsätzlich haben wir alle Instrumente zur Hand, wobei wir auf dem Weg zu einer optimalen Altersvorsorge nochmals fein adjustieren müssen. Aber vieles gibt es bereits. Die Menschen reagieren auch langsam, wobei es immer noch einen sehr großen Informationsbedarf gibt. Riestern bedeutet ja zunächst einmal nichts anderes, als dass wir einen Sonderausgabenabzug und eine nachgelagerte Besteuerung verwenden. Diese Instrumente werden im Steuerrecht seit hunderten von Jahren diskutiert.
Das Forschungszentrum Generationenverträge hat Ende Oktober seinen Vorsorgeatlas Deutschland vorgestellt. Demnach gibt es zwar flächendeckend Riester-Verträge, bei den Zulagen-Anträgen und Eigenbeiträgen wird jedoch geschludert. Was sind Ihre Erklärungsansätze?
Raffelhüschen: Zunächst einmal stellen immerhin dreiviertel der Vorsorgesparer ihren Antrag. Allerdings gibt es auch darunter Sparer, die ihren Mindestbeitrag nicht leisten. Diese Leute muss man aufklären. Das ist auch Aufgabe der Ökonomie. Deshalb sollten wir das Fach Wirtschaft in den Schulen weiter verankern. Gleichzeitig ist es notwendig, dass wir uns in viel stärkerem Maße mit wirtschaftlichen Fragestellungen und unseren finanziellen Verhältnissen beschäftigen als mit Fußball am Wochenende.
Das Gespräch führte Jörg Rieger.
Hinweis: Das Interview erschien auch in der WiSt (04/2011).
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Mir fehlt leider eine Frage: Was steht den Schulden den eigentlich entgegen? Die Gesellschaft hat doch auch Werte für die zukünftigen Generationen geschaffen, würden diese bei einer kaufmännischen Bilanz nicht auch gezählt?
danke für den guten artikel
Warum immer diesen Dirigismus?
Wer früher in Rente oder Pension geht, erhält entsprechend weniger und kann sich dann bereits in jungen Jahren überlegen, ob er einen Teil seines Konsumes nicht auf später verlegt.
Ebenso sollte jeder die Entscheidungsoption haben, wann er in welchem Umfang einer Tätigkeit nachkommt.
Der Staat sollte sich auf die konzentrieren, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften bestreiten können.