Die EZB flutet die Geldmärkte

Auf seiner Sitzung vom 8. Dezember 2011 hat der EZB-Rat die Einführung zusätzlicher geldpolitischer Sondermaßnahmen beschlossen und seine Politik der „quantitativen und qualitativen Lockerung“ fortgeführt. Neben einer erneuten Senkung der Leitzinsen um 25 Basispunkte wurde erstmals seit Bestehen des Eurosystems der Mindestreservesatz von bislang 2 % auf 1 % gesenkt. Darüber hinaus wurden die Bonitätsanforderungen für Sicherheiten bei geldpolitischen Geschäften weiter herabgesetzt. Jetzt können auch bestimmte, nur noch mit mindestens „Single A“ bewertete Asset-Backed Securities sowie vorübergehend auch nicht-notleidende und nicht verbriefte Kreditforderungen als Sicherheiten bei Kreditgeschäften mit dem Eurosystem verwendet werden.

Schließlich wurden für Dezember 2011 und Februar 2012 zwei zusätzliche längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit einer Laufzeit von sogar 36 Monaten angekündigt, wobei für die Geschäftspartner des Eurosystems die Option einer vorzeitigen Kündigung nach einem Jahr besteht. Dazu muss die jeweilige NZB eine Woche im Voraus über die Höhe der beabsichtigten Rückzahlung informiert werden. Die Zuteilung erfolgt im Mengentender mit voller Zuteilung der Gebote, wobei der erste Dreijahrestender das im Oktober 2011 angekündigte längerfristige Refinanzierungsgeschäft mit einer Laufzeit von zwölf Monaten ersetzt. Der Zinssatz für die neuen längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte wird bei Ablauf festgelegt und entspricht dem durchschnittlichen Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte, die während der Laufzeit des jeweiligen Längerfristigen Refinanzierungsgeschäfts abgewickelt wurden, wobei die Zinszahlung bei Fälligkeit des Geschäfts zu entrichten ist (Europäische Zentralbank, 2011a, b).

Mittels dieser als vorübergehend angekündigten Maßnahmen reagiert die EZB erneut auf die Funktionsstörungen am Interbankenmarkt, der wegen steigender Kontrahenten- und Liquiditätsrisiken kaum mehr zur Liquiditätsreallokation zwischen den Banken imstande ist. Durch Ausweitung des Verzeichnisses der Sicherheiten und durch den Dreijahrestender sollen die Refinanzierungsmöglichkeiten von Banken verbessert werden, die nur noch schwer Zugang zu Interbankenmarktkrediten finden. Damit soll auch einer Kreditklemme im privaten Sektor vorgebeugt werden. Tatsächlich haben bei dem ersten der beiden Dreijahres-Tender am 21. Dezember 2011 vor allem Banken aus Italien und Spanien die Liquiditätshilfen des Eurosystems in Anspruch genommen. Auch deutsche und französische Geschäftsbanken sollen aktiv geworden sein. Insgesamt beteiligten sich 523 europäische Banken an dem Tender bei einem Zuteilungsvolumen von knapp 490 Mrd. Euro, wovon allerdings ein Teil genutzt wurde, um auslaufende Refinanzierungskredite zu erneuern oder noch laufende Kredite abzulösen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2011).

Die Kehrseite dieser Liquiditätshilfen ist jedoch, dass die Liquiditätsversorgung des Bankensektors insgesamt über dessen Liquiditätsbedarf hinaus ausgeweitet wird. Dieser Bedarf ergibt sich als Summe aus den „autonomen Faktoren“ (d.h. dem Bargeldbedarf des privaten Sektors), dem Mindestreserve (MR)-Soll und den (quantitativ unbedeutenden) Überschussreserven der Geschäftsbanken (d.h. die das Mindestreserve-Soll übersteigenden Giroguthaben der Banken beim Eurosystem). Diesen Bedarf deckt das Eurosystem mittels seiner geldpolitischen Instrumente, wobei die Liquiditätsbereitstellung seit Ausbruch der Krise neben den traditionellen Hauptrefinanzierungsgeschäften (HRF) verstärkt durch längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (LRF) erfolgt. Darüber hinaus hat das Eurosystem im Rahmen des „Programms zum Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen“ und des „Programms für die Wertpapiermärkte“ auch Bankschuldverschreibungen und private und öffentliche Wertpapiere auf Sekundärmärkten angekauft. Das Eurosystem ist bemüht, die durch den Wertpapierankauf erfolgte Liquiditätsschaffung durch Feinsteuerungsoperationen (FSO) zu absorbieren, vor allem durch Ausgabe von Termineinlagen.

Liquidität im Bankensektor
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Wie Tabelle 1 zeigt, hat sich seit Sommer 2010 eine erhebliche Überschussliquidität im Euroraum angesammelt, die von den Banken als Übernachtguthaben in der Einlagefazilität gehalten wird. Hinzu kommen die Termineinlagen der Banken beim Eurosystem, die recht kurzfristig in Basisgeld umgewandelt und daher auch als liquiditätsnahe Forderungen eingestuft werden können. Für das Auflaufen von Überschussliquidität verantwortlich war insbesondere der rückläufige Bargeldbedarf des Nichtbankensektors, der auch im Bankensektor zu einem sinkenden Liquiditätsbedarf geführt hat. Demgegenüber war die Liquiditätsversorgung durch das Eurosystem in den letzten beiden Jahren eher schwankend, seit Mitte 2011 aber wieder kräftig ansteigend.

Zwischen dem 10. August und dem 8. November 2011 hat das Eurosystem über den Ankauf von gedeckten Schuldverschreibungen und von Wertpapieren sowie über seine Offenmarktgeschäfte tagesdurchschnittlich etwa 762 Mrd. Euro an Liquidität bereitgestellt, wovon knapp 148 Mrd. Euro durch Ausgabe von Termineinlagen wieder absorbiert wurden. Etwa die Hälfte (384 Mrd. Euro) der Liquiditätsbereitstellung erfolgte über längerfristige Refinanzierungsgeschäfte. Dem entgegen stand in demselben Zeitraum ein Liquiditätsbedarf des Bankensektors in Höhe von tagesdurchschnittlich nur etwa 455 Mrd. Euro, woraus sich eine Überschussliquidität von 160 Mrd. Euro ergibt (Europäische Zentralbank, 2011c). Inzwischen ist diese Überschussliquidität durch den ersten Dreijahrestender auf 412 Mrd. Euro (Ende Dezember 2011) angewachsen und wird auch in Zukunft noch zunehmen, wenn der zweite Dreijahrestender durchgeführt wird. Hinzu kommt, dass der Liquiditätsbedarf des Bankensektors infolge der Senkung des Mindestreservesatzes nochmals abnehmen wird.

Durch das Fluten der Geldmärkte sinkt zwar die Geldmarktabhängigkeit des Geschäftsbankensektors, doch entsteht in der Eurozone von der monetären Seite her ein Inflationspotenzial, das effektiv werden kann, sobald die Geldmärkte ihre Funktionsfähigkeit wiedererlangen. Noch ist das Jahreswachstum der Geldmenge M3 moderat und lag im November 2011 bei nur 2 %, weil die wachsende Überschussliquidität durch einen Rückgang des M3-Geldschöpfungsmultiplikators kompensiert wird. Dieser ist nach Ausbruch der Finanzkrise stark abgesunken, da die Geschäftsbanken zusätzliche Liquiditätsreserven relativ zum Einlagenvolumen ansammeln (EUROPÄISCHE ZENTRALBANK, 2011d). Sollten die Banken das wechselseitige Vertrauen in ihre Kreditwürdigkeit zurückgewinnen und ihre Reservehaltung wieder abbauen, könnte der Geldschöpfungsmultiplikator auf sein Vorkrisenniveau ansteigen. Dann wird es das Eurosystem schwer haben, die aufgebaute Liquidität zügig zu absorbieren, denn weder Hauptrefinanzierungsgeschäfte noch längerfristige Refinanzierungsgeschäfte eignen sich zur Liquiditätsabschöpfung. Vielmehr hat die EZB mit dem Dreijahrestender an Flexibilität eingebüßt und ihre Möglichkeiten beschränkt, rasch zu reagieren.

Solange die Spannungen auf den Geldmärkten länger anhalten, muss das Eurosystem entscheiden, ob es seine bisherige Politik fortsetzt und den Geschäftsbanken weiterhin zusätzliche Liquidität zur Verfügung stellt. Vermutlich wird es die Geldmärkte weiter fluten. Wachsende Marktliquidität gehört allerdings zu den Fundamentaldaten, die für die Bildung von Inflationserwartungen durch die Marktteilnehmer wesentlich sind. Es wird sich daher zeigen, ob und wie lange es dem Eurosystem noch gelingen kann, die Inflationserwartungen auf einem niedrigen Wert zu stabilisieren.

Literatur

Europäische Zentralbank  (2011a): EZB kündigt Maßnahmen zur Unterstützung der Kreditvergabe der Banken und der Geldmarktaktivitäten an. Pressemitteilung vom 8. Dezember 2011, Frankfurt/Main.

Europäische Zentralbank (2011b): Editorial, in: Monatsbericht der Europäischen Zentralbank, 13. Jg., Frankfurt/Main, Dezember, S. 5-10.

Europäische Zentralbank (2011c): Liquiditätsbedingungen und geldpolitische Geschäfte in der Zeit vom 10. August bis 8. November 2011, in: Monatsbericht der Europäischen Zentralbank, 13. Jg., Frankfurt/Main, Dezember, S. 42-45.

Europäische Zentralbank (2011d): Das Geldangebot – Verhalten der Banken und Auswirkungen auf die monetäre Analyse, in: Monatsbericht der Europäischen Zentralbank, 13. Jg., Frankfurt/Main, Oktober, S. 67-86.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011): Europas Banken am Tropf der EZB, Ausgabe Nr. 298 vom 22.12.2011, S. 10.

Eine Antwort auf „Die EZB flutet die Geldmärkte“

  1. Was wir hier erleben ist das Amargeddon des „fiat money“-Systems. Nur eine Rückkehr zu echtem, wertgedecktem Geld, und zu marktwirtschaftlichen Prinzipien in der Geldproduktion, wie sie die Vertreter der Österreichischen Schule fordern, kann uns noch aus der Misere führen!

    Jeder sollte in dem Zusammenhang die Bücher von Roland Baader und Ferdinand Lips lesen. Und sich privat etwas Gold und Silber (physisch!) zulegen!

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