Gastbeitrag
Spanien-Krise, noch beherrschbar?

Nach Griechenland, Irland und Portugal ist Spanien, die viertgrößte Volkswirtschaft im Euro-Raum, zum Notfall geworden und benötig massive EU-Hilfen. Das Land befindet sich im Teufelskreis von Bankenkrise und Staatsschuldenkrise. Ende Juni hat der Rat der Europäischen Staats- und Regierungschefs dem Antrag der Rajoy-Regierung vom 25. Juni auf finanzielle Unterstützung für die notwendige Bankensanierung (insbesondere Sparkassen) stattgegeben und beschlossen, aus den bestehenden europäischen Rettungsfonds (EFSF und ESM) Kredite mit einem Volumen von bis zu 100 Mrd. Euro zu sanften Zins- und Tlgungskonditionen bereitzustellen. Der Deutsche Bundestag hat die erforderliche Zustimmung zur Gewährung der notwendigen deutschen Bürgschaften erteilt.

Spanien wird im Gegenzug bis Ende des Jahres sein Bankensystem der Überwachung durch ein zu diesem Zweck eingerichtetes Strategic Coordination Committee (zusammengesetzt aus Vertretern der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde) unterstellen und damit Souveränitätsrechte der spanischen Notenbank (Banco de España) abgeben. Das ist sinnvoll, weil sichergestellt werden muss, dass die unerlässlichen Umstrukturierungsmaßnahmen auch tatsächlich ergriffen werden (einschließlich der Abwicklung von nicht überlebensfähigen Kreditinstituten). Außerdem wird eine Bad Bank gegründet, in die sämtliche toxischen Aktiva (im Wesentlichen notleidende Hypothekenkredite) eingebracht werden sollen. Die Gläubiger und Aktionäre der Banken, die Hilfen in Anspruch nehmen, müssen an den eingetretenen Verlusten beteiligt werden, was ganz im Einklang mit dem Euckenschen Prinzip von Verantwortung und Haftung steht. Richtig ist zudem, dass Spanien die vom EcoFin-Rat Anfang Juli abgegebenen konkreten Empfehlungen zur Stärkung des Wachstumspotentials der heimischen Wirtschaft mittels möglichst marktkonformer Maßnahmen zügig umsetzen muss; betroffen sind u.a. die öffentliche Neuverschuldung, das Steuersystem, die Renten- und Krankenversicherung, der Arbeitsmarkt einschließlich Arbeitslosenversicherung, die Energiewirtschaft und der Dienstleistungsbereich samt der Freien Berufe (Grundlage des Hilfskredits ist ein ausführliches „Memorandum of Understanding“, das alle Details der Vereinbarung mit den Zusagen der europäischen Institutionen und den Verpflichtungen der spanischen Regierung auflistet).

Ob es bei dem sektorspezifischen Hilfsprogramm bleibt oder Spanien am Ende nicht doch als gesamtes Land unter dem Rettungsschirm schlüpfen muss (wie seinerzeit die drei anderen Peripheriestaaten), ist völlig offen. Die Regierung bestreitet dies mit dem Hinweis auf die realwirtschaftlichen Fundamentalfaktoren, die viel besser seien als in Griechenland, Irland und Portugal. Aber bessere Fundamentalfaktoren zu haben heißt nicht, dass diese gut und nachhaltig sind (s.u.). Im Memorandum of Understanding heißt es zu Recht: „Es gibt eine enge Verknüpfung zwischen den makroökonomischen Ungleichgewichten, den öffentlichen Finanzen und der Solvenz des Finanzsektors“ (Ziffer 29). Die spanische Regierung selbst schätzt die allgemeine Wirtschaftslage sehr düster ein: nach ihrer jüngsten Konjunkturprognose (vom 20. Juli) dürfte das reale Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 1,5 H und im kommenden um 0,5 vH schrumpfen und die Arbeitslosigkeit auf einem sehr hohen Niveau verharren (deutlich über 20 vH der Erwerbstätigen). In einem rezessiven Umfeld trotzdem das gesamtstaatliche  Haushaltsdefizit (Gebietskörperschaften und Sozialversicherung) in diesem Jahr auf 6,3 vH in Relation zum Bruttoinlandsprodukt reduzieren zu wollen (von 8,9 vH in 2011) und weiter auf 4,5 vH in 2013 und 2,8 vH 2014, wie der EU-Kommission versprochen, d.h. das jetzt geplante Konsolidierungsvolumen von insgesamt 90 Mrd. Euro zu realisieren, kommt einer Herkulesaufgabe gleich. Die Märkte jedenfalls scheinen eine Insolvenzgefahr für nicht unwahrscheinlich zu halten, wie an den unentwegt steigenden Risikoprämien auf Staatsanleihen abzulesen ist. Am 23. Juli wurde mit 632 Basispunkten gegenüber dem 10-jährigen Bund-Referenzwert ein neuer historischer Höchststand registriert; für neu emittierte Staatsanleihen mit kürzeren Laufzeiten, verlangten  die Investoren zuletzt sogar höhere Zinssätze als für  längerfristige. Ein inverse, ja selbst schon eine flache Zinsstrukturkuve in einem mit Schulden geplagten Land ist kein gutes Omen.

Bisheriger Reformprozess zu zaghaft

Wieso hat sich die internationale Kreditwürdigkeit Spaniens im Laufe von nur wenigen Monaten so verschlechtert? Zwar war das Land schon seit geraumer Zeit von fundamentalen gesamtwirtschaftlichen Fehlentwicklungen, allesamt hausgemacht, gekennzeichnet. Eine überhöhte Verschuldung der Unternehmen und privaten Haushalte, die bei allen Gebietskörperschaften aus dem Ruder gelaufenen öffentlichen Haushalte, eine untragbare Auslandsverschuldung, enorme Schwächen bei der Produktivität und internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, der Zusammenbruch der Baubranche nach einer mehrjährigen beispiellosen spekulativen Immobilienblase, ein Übermaß an marktwidrigen Regulierungen und strukturkonservierenden Subventionen u.dgl.m. hatten das Land wirtschaftlich auf Talfahrt geschickt und den Finanzsektor (einst vom früheren sozialistischen  Ministerpräsidenten Zapatero als „einen der sicherste der Welt“ gerühmt!) durch eine Flut fauler Kredite  ins Wanken gebracht. Gleichwohl hatte der Regierungswechsel Ende des vergangenen Jahres die Erwartung einer Wende zum Besseren genährt, auch bei mir (vgl. meinen Kommentar in diesem Blog vom 6.1.12).

Die Hoffnung basierte darauf, dass die neue Regierung als fachlich kompetent galt, dass sie sich eindeutig zur Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung und überfälliger Strukturreformen in der Wirtschaft und im Staatssektor bekannte, dass sie über einen mittelfristigen Plan für ihr wirtschaftspolitisches Handeln verfügte und dass sie im Parlament eine solide absolute Mehrheit hatte, die es erlauben sollte, die anstehenden radikalen Maßnahmen, von denen viele unpopulär sein würden, weil sie liebgewonnene Besitzstände in Frage stellen und der Bevölkerung große Anpassungslasten aufbürden mussten, durchzusetzen. Am Anfang war tatsächlich viel Elan zu verspüren. Die Märkte quotierten dies mit einem Rückgang der Risikoprämie von 334 Basispunkten beim Amtsantritt von Mariano Rajoy am 21. Dezember 2011 bis auf 306 Basispunkten Anfang Februar dieses Jahres, nachdem  die Regierung erste Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen beschlossen hatte,  mit der Bankenreform und der Reform  des Arbeitsmarktes begonnen wurde und die gesetzlichen Details für die Schuldenbremse, die seit Ende der letzten Legislaturperiode in der Verfassung verankert  ist, feststanden (Obergrenze für das gesamtstattliche strukturelle Defizit: im Normalfall null, in außergewöhnlichen Situationen bis zu 0,4 vH in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, ab 2020).

Aber dann stellte sich heraus, dass es keinen Masterplan gab. In der Zeit der parlamentarischen Opposition hatte die Volkspartei ihre Hausaufgaben offenbar nicht gemacht, selbst dann nicht, als sie sich allen Umfragen zufolge auf einen klaren Wahlsieg einstellen konnte. Nach Übernahme der Regierung allein die großen Ziele zu verkünden, insbesondere die Bekämpfung der extrem hohen Arbeitslosigkeit, das reichte nicht, um bei den Marktteilnehmern Zukunftsvertrauen zu schaffen und sicherzustellen, dass keine gravierenden Zeitinkonsistenzprobleme auftreten würden. Wider Erwarten verließ die Regierung das Zutrauen in die eigene Gestaltungskraft. Der von partikularen Interessengruppen, allen voran den beiden radikalen Gewerkschaften (UGT, CCOO), organisierte Widerstand auf den Straßen gegen die Spar- und Reformpläne der Regierung, hat die Regierung offenbar so verunsichert, dass in den vergangenen Monaten nur noch ein halbherziges Handeln zu verzeichnen war. Zumal in den meisten der 17 Autonomen Regionen und sehr vielen Kommunen die Zentralregierung wenig oder gar keine Unterstützung bekommen hat, namentlich bei der unabdingbaren Reduktion von Staatsausgaben. Beispielhafte Ausnahmen sind die Regionalregierungen von Madrid und Castilla-La Mancha, während die Regierungen von Andalusien, Katalonien und dem Baskenland offen den haushaltspolitischen Ungehorsam verkündeten, obwohl sie überschuldet sind. Im Lande ist unstrittig, dass auf regionaler Ebene rund 600 öffentlich-rechtliche Gesellschaften geschlossen werden müssten, weil sie nachweislich absolut unnütz sind und nur fiskalische Kosten verursachen; erst bei zweien ist dies bisher geschehen. Im Argen liegt auch der Bereich des regionalen Fernsehens: 13 Autonome Regionen unterhalten eine eigene staatliche Fernsehanstalt, darunter vier mit mehreren Programmen (allein 5 in Katalonien); alle sind hoch defizitär.

In diesem Umfeld verhedderte sich die Regierung in Detaildiskussionen und erweckte den Eindruck des Improvisierens, zum Teil mit widersprüchlichen Aussagen vor allem zwischen dem Wirtschaftsminister (De Guindos) und dem Finanzminister (Montoro). Die Kommunikationspolitik ist verbesserungsfähig. Zum Beispiel wurde im Mai nach der Verstaatlichung der wegen der vielen faulen Immobilenkredite angeschlagenen Bankia, der zweitgrößten Sparkasse und viertgrößten Bank des Landes, der Rekapitalisierungsbedarf innerhalb weniger Tage von 9 Mrd. Euro auf 19 Mrd. und schließlich auf 23 Mrd. hochgeschraubt. Offiziell hier es, Spanien könne die Sanierung des Bankensektors aus eigener Kraft bewerkstelligen (drei weitere Sparkassen wurden verstaatlicht); zwei Wochen nach dieser Erklärung stellte die Regierung den Antrag auf EU-Hilfen. Das musste die Finanzmärkte verunsichern und für den spanischen Staat die Refinanzierungskosten nach oben treiben. Auch die erwarteten Einnahmen aus den beschlossenen Steuererhöhungen wurden unterschiedlich quantifiziert: das Wirtschaftsministerium gab am 13. Juli für die ausländischen Investoren und Analysten einen Betrag von  34,4 Mrd. Euro (Zeitraum 2012-14) bekannt, das Finanzministerium teilte einige Tage später dem Parlament mit, dass es 25,1 Mrd. Euro sein würden. Eine Differenz von 9,3 Mrd. Euro ist kein lässlicher Fehler. Ein Bemühen um  die Wiederherstellung von Glaubwürdigkeit sieht anders aus.

Dass auf dem jüngsten EU-Gipfel Ende Juni Rajoy (gemeinsam mit Monti) seinen Ratkollegen die Finanzhilfen für die Rekapitalisierung maroder spanischer Banken abtrotzte ist in der spanischen Öffentlichkeit als eine großer politischer Sieg gegen die als unzumutbar empfundene Dominanz der wohlhabenden Nordländer gefeiert worden. Als Kritik musste sich Rajoy „nur“ gefallenlassen, dass es ihm nicht gelungen war, seinen Plan einer direkten Finanzhilfe an die Banken, gleichsam am Staat vorbei, durchzusetzen, wodurch die Regierung aus der Haftung gegenüber den europäischen Gläubigern entlassen worden wäre. An den Finanzmärkten ist nicht Ruhe eingekehrt. Die Risikoprämie ist von 475 Basispunkten am 29. Juni auf die erwähnten 632 Basispunkte  drei Wochen später angestiegen. Die Regierung macht dafür Europa verantwortlich, insbesondere das Zögern der EZB beim Ankauf spanischer Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt und die Weigerung Deutschlands zur Einführung von Euro-Bonds. Dass dies wegen der Gefahr fehlerhafter Verhaltensanreize problematisch wäre und dass mit einem Kurieren an Symptomen noch nie der Weg aus einer Krise gelungen ist, interessiert in Madrid niemanden.

Viel Zeit bleibt nicht

Die in Spanien zu erledigenden Aufgaben sind die gleichen wie vor einem halben Jahr. Sie sind dringlicher geworden, weil kostbare Zeit vertan wurde. Die Regierung muss jetzt unverzüglich ein umfassendes Reformprogramm mit einem Fahrplan für alle notwendigen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fundamentalkorrekturen vorlegen, der in der vierjährigen Legislaturperiode mit Verve umzusetzen wäre.

Die Haushaltskonsolidierung bleibt eine zentrale Aufgabe. Einen wichtigen Schritt hat die Regierung jüngst mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer getan (was sie noch Anfang des Jahres entgegen dem Ratschlag vieler Ökonomen mit dem Argument abgelehnt hatte, der private Verbrauch würde beeinträchtigt und die Schwarzarbeit stimuliert). Ab September steigt der Normalsatz von 18 vH auf 21 vH und der ermäßigte Satz von 8 vH auf 10 vH (für verschiedene Güter sogar auf 21 vH); unverändert bleibt fürs Erste der bestehende super-ermäßigte Satz (4 vH), der auf Grundnahrungsmittel, Medikamente, Bücher und Sozialwohnungen angewandt wird. Andere indirekten Steuern wie die Tabaksteuer werden ebenfalls angehoben. Nachlegen muss die Regierung auf der Ausgabenseite, insbesondere beim Abbau von Personal und von Subventionen, eingeschlossen die umfangreichen staatlichen Zuwendungen an die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die sich eigentlich aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanzieren sollten. Das Konsolidierungsverhältnis zwischen Ausgabensenkungen und Steuermehreinnahmen müsste deutlich zu Gunsten der Ausgabenseite verbessert werden. Derzeit hält es sich in etwa die Waage, aber  als wirklich vertrauenschaffend gilt in spanischen Expertenkreisen eine Relation ab 70:30.

Zum Lackmus-Test wird werden, ob es der Rajoy-Regierung gelingt, bei den Regionalregierungen und den Kommunen die gebotene Haushaltsdisziplin zu erwirken. Die gesetzlichen Vorgaben mit Obergrenzen für die Neuverschuldung sind geschaffen worden: für die Autonomen Regionen 1,5 vH in Relation zum Bruttoinlandsprodukt in 2012, 0,7 vH in 2013 und 0,1 vH in 2014; die Kommunen dürfen in diesem Jahr ein Defizit von 0,3 vH ausweisen, müssen jedoch ab dem nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt haben. Entscheidend sind aber die Sanktionen im Falle von Fehlverhalten. Die einzige wirksame Maßnahme wäre, den Geldhahn zuzudrehen und keine Liquiditätshilfen im Falle einer deklarierten Haushaltsnotlage, wofür es schon die  ersten Antragsteller gibt, zu gewähren; die Autonomen Regionen können sich angesichts ihrer niedrigen Bonität kaum am Kapitalmarkt zu tragbaren Konditionen finanzieren und müssten Ausgaben kürzen.

Im Bereich der erforderlichen Strukturreformen stellt sich mit großer Dringlichkeit die Reform des Staatsgebiets. Das Modell der Autonomen Regionen hat sich nicht bewährt und zu einer Quelle für ineffizientes Haushaltsgebaren, ausufernde Bürokratie, schamlose Korruption und absurde regionale Regulierungen, die den heimischen Binnenmarkt zersplittern, verkommen. Hierunter leiden das wirtschaftliche Wachstum und die Entwicklung einer produktiven Beschäftigung. Auf kommunaler Ebene potenzieren sich diese Probleme. In Spanien gibt es erheblich mehr Landes- und Kommunalpolitiker als in Deutschland, obwohl die Bevölkerung nur halb so groß ist. Der spanische Staat ist schlicht zu teuer, ein schlankerer Staat mit weniger Autonomen Regionen und selbständigen Gemeinden, ist ein Muss.

Kurzum: Der finanzpolitische Konsolidierungsdruck ist enorm, der ordnungspolitische und institutionelle Reformdruck ebenfalls. Dem muss Spanien, und in erster Linie Spanien, Rechnung tragen. Weder die EZB, noch der neue Europäische Mechanismus für Finanzstabilität oder andere auswärtige Institutionen (IWF) sind eine Substitut für Eigenverantwortung. Sollte die spanische Gesellschaft sich den grundlegenden Anpassungserfordernissen verweigern und sollten die Politiker auf regionaler und kommunaler Ebene an ihren Pfründen festhalten wollen, wird  dieses Land in eine lange Periode der Dekadenz verfallen. Für die Eurozone wären das keine guten Aussichten.

 

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