Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform meldet für das erste Halbjahr 2014 eine Zahl von 12Â 100 Unternehmensinsolvenzen, während die Zahl im Vorjahreszeitraum noch bei 13Â 310 lag. Und der Jahreswert für 2013 liegt um 8,4 Prozent unter dem Vorjahreswert und damit auf dem niedrigsten Stand seit Einführung der neuen Insolvenzordnung im Jahre 1999. Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in Deutschland ist auf ein historisches Tief gefallen. Das klingt wie eine gute Nachricht. Doch ist es das wirklich?
Die Ursachen des Rückgangs der Insolvenzen liegen zum einen bei der günstigen Konjunktur und zum anderen bei den günstigen Finanzierungsbedingungen. Letztere sind Ergebnis einer überaus üppigen Geldversorgung des Euroraums durch die Europäische Zentralbank und ihres Leitzinses, der mittlerweile nahe bei null Prozent liegt. Für jedes einzelne Unternehmen, das wegen der niedrigen Zinsen den Gang zum Insolvenzrichter vermeiden kann, ist diese Entwicklung natürlich erfreulich. Und auch jene Arbeitnehmer, die unter anderen (normalen) Finanzmarktbedingungen insolvenzbedingt ihren Arbeitsplatz verloren hätten, dürfen sich freuen.
Für die Volkswirtschaft als Ganzes sieht es jedoch anders aus. Dynamische Wirtschaftsstrukturen, die gute Wachstums- und Beschäftigungschancen bieten, wird man auf Dauer nur dort finden, wo die Unternehmensstrukturen in Bewegung sind. Eine hohe Zahl von Insolvenzen kann möglicherweise sogar als positives Zeichen interpretiert werden, wenn ihnen eine noch höhere Zahl von Unternehmensneugründungen gegenübersteht.
Die Europäische Zentralbank begründet ihre Niedrigzinspolitik damit, dass den Gefahren einer Deflation vorgebeugt werden müsse. Zur Rechtfertigung ihrer Deflations-Phobie deuten die Zentralbanker gern mit dem Finger auf Japan, wo die Wirtschaft angeblich wegen der anhaltenden Deflation jahrzehntelang nicht aus ihrer Lethargie herausgefunden hätte. Doch diese weitverbreitete Erklärung der japanischen Malaise ist irreführend. Man möge sich erinnern, dass am Anfang der dortigen Stagnationsphase zu Beginn der 1990er Jahre eine geplatzte Immobilienblase stand, die sich verheerend auf die Bilanzen vieler japanischer Banken auswirkte. Die Politik hat es damals mit allen Kräften verhindert, dass aus den Bankproblemen Bankinsolvenzen wurden. So verwandelten sich die von staatlicher Seite geretteten Banken in Zombie-Banken, die durch die japanische Volkswirtschaft torkelten und ihrer gesamtwirtschlichen Rolle, für eine effiziente Kreditversorgung der Realwirtschaft zu sorgen, nicht mehr gerecht werden konnten.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat die Anti-Deflationspolitik in Japan allerdings nicht nur zur Herausbildung von Zombie-Banken, sondern auch von Zombie-Unternehmen geführt. Denn die extrem niedrigen Zinsen haben auch in der Realwirtschaft den „natürlichen“ Selektionsprozess außer Kraft gesetzt, so dass sich auch solche Unternehmen am Markt halten konnten, die wenig bis gar nichts zur gesamtwirtschaftlichen Dynamik beitragen.
Derartige negative Nebenwirkungen eines Kampfes gegen die Deflation werden von der japanischen Wirtschaftspolitik immer noch sehr unzureichend und von der Geldpolitik im Euro-Raum offenbar gar nicht zur Kenntnis genommen. Bei den EZB-Bankern kommen im Wesentlichen nur die Klagen der Sparer an, die sich darüber beschweren, dass die Niedrigzinspolitik die Rendite ihrer Sparanlagen ruiniert. Darauf antworten Draghi und andere Makroökonomen mit dem – meiner Meinung nach berechtigen – Hinweis, dass es nicht Aufgabe der Europäischen Zentralbank sein kann, den Sparern eine „angemessene“ Rendite zu ermöglichen oder es den Lebensversicherern leichter zu machen, die in besseren Zeiten versprochenen Garantiezinsen auch tatsächlich erwirtschaften zu können.
Das weitaus größere Problem der aktuellen Geldpolitik im Euroraum liegt darin, dass der Zins seine Allokationsfunktion verliert. Da er künstlich auf einem Niveau nahe null gehalten wird, gaukelt er den Wirtschaftssubjekten vor, Kapital sei im Überfluss vorhanden und man müsse bei seiner Verwendung keine besondere Sorgfalt walten lassen. Laut Welt am Sonntag vom 6. Juli 2014 ist Deutschland – wie zuvor Japan – auf bestem Wege, sich in eine „Zombie-Wirtschaft“ zu verwandeln.
Wie sich die verzerrten Zinssignale auf dem Immobilienmarkt auswirken und wie sie zumindest in den Ballungszentren dazu beitragen, eine Immobilienblase aufzupumpen, wird landauf, landab emsig diskutiert. Dass sich parallel dazu eine vergleichbare Blase im Bereich der Unternehmensfinanzierung aufbaut, bleibt von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Immer mehr Unternehmen, die bei funktionsfähigem Wettbewerb längst untergegangen wären, nutzen das billige Geld, um sich und ihre nicht tragfähigen Geschäftsmodelle über Wasser zu halten.
Dass angeschlagene Unternehmen begierig nach dem Strohhalm billiger Kredite greifen, ist allzu verständlich. Weniger begierig sind die Kreditinstitute, die trotz üppiger Liquiditätsversorgung davor zurückschrecken, Unternehmenskredite zu vergeben, deren Rückzahlungswahrscheinlichkeit gering ist. Dieses Korrektiv wird allerdings mehr und mehr außer Kraft gesetzt. Denn mittlerweile gehen nicht nur große, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen verstärkt dazu über, sich ihre Finanzmittel direkt am Kapitalmarkt zu beschaffen. Sogenannte Mittelstandsanleihen sind zum heimlichen Renner bei Finanzinvestoren geworden.
Allem Anschein nach ist das Risikobewusstsein vieler Finanzinvestoren gegenwärtig aufgrund der globalen Liquiditätsschwemme arg getrübt. Auf der verzweifelten Suche nach Rendite werden zunehmend dubiosere Anlageformen in Betracht gezogen. Dies zeigt sich unter anderem an den Indikatoren, die vom Internationalen Währungsfonds und anderen Institutionen zur Beurteilung der Risikobereitschaft (risk appetite) berechnet werden. Diese Indikatoren zeigen seit einigen Jahren steil nach oben. Zumindest in Deutschland dürfte die Risikowahrnehmung auch dadurch getrübt sein, dass der Begriff „Mittelstand“ allgemein sehr positiv assoziiert wird. Wenn Mittelstand etwas Grundsolides ist, so vermuten die Investoren, dann müssten Mittelstandsanleihen doch ebenfalls etwas Grundsolides sein.
Die ökonomische Logik hinter der Zombie-Wirtschaft ist recht schlicht: Wenn das Zinsniveau nahe null liegt, dann wird auch die Grenzproduktivität des Kapitals nahe null liegen. Das Kapital verharrt in ineffizienten Verwendungen und die Reallokation zugunsten produktiverer Verwendungen wird blockiert. Eine niedrige Produktivität wiederum ist gleichzusetzen mit einem niedrigen gesamtwirtschaftlichen Wachstum. Die Zombie-Wirtschaft ist also eine Stagnations-Wirtschaft.
Aus Sicht der einzelnen Investoren mag die Rechnung sogar aufgehen. Solange die Zinsen bei null bleiben, werden auch Investitionsprojekte mit einer erwarteten Rendite von null nicht notleidend. Doch wenn dermaleinst die Realzinsen wieder ansteigen sollten, werden sich solche Investitionsprojekte als Fehlinvestitionen herausstellen. Dann wird auch die Zahl der Unternehmensinsolvenzen wieder steigen. Das wäre dann allerdings kein Zeichen lebendiger, leistungs- und beschäftigungsfördernder Unternehmensstrukturen, sondern Zeichen einer tiefgreifenden Anpassungskrise, der durch die leichtfertige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank der Weg geebnet worden ist.
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Eine Antwort auf „Unternehmensinsolvenzen: Trügerische Ruhe
Null-Zins-Politik, Zombie-Banken, Zombie-Unternehmen“