Die Politik der bodenlosen Fässer
Griechenland, Energie, Flüchtlinge und EZB

Stellen Sie, verehrter Leser, sich vor, Ihr Cousin sei der Spielsucht verfallen. Als die Probleme zunehmen, wendet er sich schließlich an Sie und bittet Sie um finanzielle Hilfe. Wenn Sie ihm 10.000€ leihen, dann kann er einen Kredithai bedienen und wird – so verspricht er – nie wieder ein Casino betreten. Nehmen wir an, Sie erfüllen ihm den Wunsch und Sie werden nach sechs Monaten von ihm erneut um Hilfe gebeten. Diesmal benötigt er 15.000€…

Vielleicht werden viele Menschen ihrem Cousin beim ersten Mal noch helfen. Doch wie sieht es beim zweiten oder dritten Hilfegesuch aus? Der gesunde Menschenverstand wird ihnen sagen: „Es handelt sich hier um ein Fass ohne Boden und wenn ich stets weiter zahle wird am Ende nicht nur mein Cousin, sondern auch ich selbst bankrott sein.“ Folglich werden sie die Hilfe irgendwann einstellen.

Wie sieht es nun aus, wenn der Bittsteller nicht der eigenen Familie entstammt? Dann wird man vermutlich noch schneller die Fass-ohne-Boden-Eigenschaft der Hilfe feststellen. Oder wenn der/die Hilfesuchende(n) Ihnen gar nicht persönlich bekannt ist? Wie oft werden Sie helfen?

Im Folgenden sollen vier Bereiche der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik diskutiert werden, die ebenfalls einem solchen Fass-ohne-Boden-Problem unterliegen und damit das Potential des Verursachens großer gesellschaftlicher Schäden aufweisen. Dabei werden wir sehen, dass sich manchmal Selbstkorrekturmechanismen (mehr oder weniger deutlich) abzeichnen, manchmal aber auch kein Weg aus der Krise erkennbar ist.

Fass 1: EU-Rettungsprogramme für Griechenland

Als die griechische Volkswirtschaft im Jahr 2010 auf Grund eines dramatischen Versagens der eigenen politischen Eliten an den Rand der Staatsinsolvenz gedrängt wurde, vereinbarte man das erste Rettungspaket. Schon damals war absehbar, dass Griechenland auch mit den damit verbundenen neuen Krediten sein Problem der Überschuldung nicht würde bewältigen können. Die vereinbarten Strukturreformen wurden dabei weder von der griechischen Politik noch von der Bevölkerung akzeptiert. Die Verschuldungsproblematik wurde somit nicht gelöst, sondern nur vertagt.

Es folgten weitere Rettungspakete, zum Teil auch mit partiellem Schuldenerlass, dramatischen Zinserleichterungen und erneut von den griechischen Bürgern nicht akzeptierten Strukturreformvereinbarungen. Spätestens mit dem zweiten Rettungspaket, bei dem möglicherweise nicht einmal die maßgeblichen Spitzenpolitiker der „Retterländer“ an die Einhaltung der Strukturreformen glaubten, zeichnete sich die immer weitere Vertagung des immer mehr an Volumen gewinnenden Problems ab. Auch in diesem Jahr wurden neue Unterstützungsmaßnahmen vereinbart, ohne dass eine Lösung des Grundproblems absehbar ist.

Vermutlich hat der IWF recht, wenn er behauptet, dass eine dauerhafte Lösung ohne Schuldenerlass kaum möglich ist. Dies können die Spitzenpolitiker, insbesondere jene in Deutschland, jedoch nicht mehr einräumen, sodass ein Ende der Fahnenstange nicht in Sicht ist. Da jedoch ein Schuldenerlass ohne weit reichende strukturelle Konsequenzen abermals nur zum erneuten Aufbau eines Schuldenturms führen wird, stellt auch dies keine Lösung dar. Ich bleibe bei meinem Vorschlag aus dem Jahr 2011: Ein massiver Schuldenschnitt, verbunden mit einem Austritt Griechenlands aus der (Transfer- und) Währungsunion, könnte sowohl für Griechenland als auch für die anderen Länder der Währungsunion die beste Lösung sein.

Im Hinblick darauf, dass die europäischen Spitzenpolitiker sich seit 2010 auch nur der Einrichtung einer Ordnung für Staatsinsolvenzen innerhalb der EU verweigern, besteht wenig Hoffnung darauf, dass dem hier angesprochenen Fass ein Boden eingefügt wird.

Fass 2: Energiepolitik

Mit der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Jahr 2000, das die Einspeisevergütungen für Elektrizität aus erneuerbaren Quellen stärker differenzierte und – insbesondere im Hinblick auf die Photovoltaik – deutlich erhöhte, verteilte der Gesetzgeber seinen Bürgern Lizenzen zum Gelddrucken. Da die Einspeisevergütung für jede erneuerbare Technologie auf ein Maß erhöht wurde, das einen spürbaren Gewinn ermöglichte, wurde ein gewaltiger Aufbau von erneuerbaren Stromerzeugungskapazitäten angestoßen.

Da die Stromerzeugung durch erneuerbare Energien teurer ist als die konventionellen Methoden, entsteht ein Finanzierungsdefizit, das durch die EEG-Umlage ausgeglichen wird. Die EEG-Umlage, die vom Verbraucher als Aufschlag auf den Strompreis getragen wird, hat sich von 2,047 ct/kWh in 2010 auf das Niveau von 6,354 ct/kWh in 2016 erhöht. Zum Vergleich: Die Stromgestehungskosten aus Braunkohlekraftwerken werden im Allgemeinen auf 4 bis 5,5 ct/kWh geschätzt.

Die steigende EEG-Umlage führt zu Strompreiserhöhungen. Strompreise in Deutschland von 29,5 ct/kWh (Verbraucherpreise in 2015), die so deutlich – und unmittelbar spürbar – über den mittleren Strompreisen der EU (20,8 ct/kWh) liegen, rufen Proteste hervor, die die Politik gezwungen haben einzulenken. Nicht aus eigenem Antrieb, sondern durch den Druck der Verbraucher wurden in das Fass-ohne-Boden-Konzept der EEG-Einspeisevergütung Bremsmechanismen eingebaut. Man stelle sich einmal vor, die EEG-Umlage wäre aus dem Bundeshaushalt finanziert worden, sodass die Verbraucher die Belastung kaum hätten wahrnehmen können. Es ist nicht auszuschließen, dass die Zusatzkosten deutlich über 10 ct/kWh lägen.

Eine Vermeidung der Fass-ohne-Boden-Problematik wäre natürlich möglich gewesen. Mit Hilfe eines Quoten- oder eines Auktionssystems hat eine institutionelle Alternative vorgelegen, die solche Probleme konsequent vermieden hätte. Es stimmt (ein wenig) hoffnungsvoll, dass in der EEG-Novelle 2014 die Nutzung von Ausschreibungen explizit vorgesehen ist.

Fass 3: Die Flüchtlingsproblematik

Die verheerenden Kriege im Nahen Osten, die kontinuierlich mit humanitären Katastrophen verbunden sind, haben zu einer dramatischen Zunahme der Flüchtlingsströme geführt. Ausgehend von der Annahme, dass es für vergleichsweise reiche Volkswirtschaften wie Deutschland durchaus machbar ist, mehrere Millionen Flüchtlinge aufzunehmen, und dass der überragende Anteil der Bürger zu gewissen Solidaritätsopfern bereit ist, stellt sich die Frage, wie die Diskussion um die Flüchtlingsproblematik derartig ausufern konnte und fremdenfeindliche Bewegungen einen so großen Zulauf erhalten konnten?

Meines Erachtens liegt die Wurzel des Problems erneut in einer Fass-ohne-Boden-Politik. Die politische Elite, allen voran die Bundeskanzlerin, hat nicht nur eine große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen, was an und für sich gut und richtig ist. Nein, sie hat mit ihrer Willkommenskultur förmlich zur Einreise nach Deutschland eingeladen und ermuntert. Dies in der Verbindung mit der zusätzlichen Weigerung, jede Art von Aufnahmeobergrenze zu akzeptieren, hat so etwas wie eine Fass-ohne-Boden-Aufnahmepanik ausgelöst, die inzwischen an den Grundfesten des etablierten Systems rüttelt.

Natürlich ist es nicht möglich, beliebige Mengen von Flüchtlingen aufzunehmen. Es ist aber sehr wohl vorstellbar, dass Deutschland über einen vorab begrenzten Zeitraum größere Kontingente aufnimmt. Nimmt man einmal an, Deutschland habe in 2015 ca. 1,1 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Dann wäre es vermutlich sowohl finanziell als auch sozial machbar, auch in 2016 eine vergleichbare Anzahl von Flüchtlingen zu beherbergen. Würde man diese Zahlen als verbindliche Obergrenze definieren, und die Obergrenze in den Folgejahren glaubhaft und spürbar absenken, so wäre eine große Leistung vollbracht.

Der Unwille der Regierung, Grenzen der Belastbarkeit zu definieren, führt letztlich zu zwei Folgewirkungen: (1) Die Angst vor der Fass-ohne-Boden-Politik belastet weiterhin das innenpolitische Klima Deutschlands auf das Schwerste. (2) Um die Diskussion aus den Medien zu verdrängen, wird eine unglückselige Vereinbarung mit dem türkischen Präsidenten geschlossen, die die deutsche Regierung nicht nur in die Abhängigkeit von einem Willkürherrscher bringt, sondern auch die Flüchtlinge in seine Aufnahmelager treibt. Mit dieser verlogenen „Lösung“ dürfte die Bundeskanzlerin den Flüchtlingen in jedem Fall einen Bärendienst erwiesen haben!

Fass 4: Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank

Nicht nur die Rettungspakete von IWF und EU, sondern auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat Anteil an den zunehmenden Problemen der EU und der Währungsunion. Auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise verkündete deren Präsident, er werde ALLES Notwendige tun, um die Krise, die er fälschlicherweise als Eurokrise beschreibt, zu bewältigen: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ Es war schon seinerzeit absehbar, dass er das angesprochene Mandat der EZB beliebig weit auslegen würde, sodass er letztendlich explizit seine Fass-ohne-Boden-Politik der beliebigen Ausdehnung der Zentralbankgeldmenge verkündete.

Es ist wenig umstritten, dass es der Geldpolitik nicht möglich ist, die eigentlich zur Krisenbewältigung notwendigen Strukturreformen zu ersetzen. Die immer stärker expansiven Maßnahmen führen jedoch zu Zinssenkungen und weiteren Entlastungen der Staatshaushalte und anderen Schuldnern, die es schlussendlich ermöglichen, erforderliche Reformen immer weiter zu vertagen. Auf diese Weise werden eigentlich insolvente Zombie-Banken, Pleiteunternehmen und reformunwillige Regierungen am Leben erhalten. Die Strukturzementierung schwächt die Anpassungsfähigkeit des Marktsystems, führt zu einer immer stärkeren Belastung des gesunden Teils der Wirtschaft und verringert die Wachstumsperspektiven des Euroraums erheblich. Dass eine solche Politik zu einer lang anhaltenden Sklerotisierung der Wirtschaft führt, zeigt das Beispiel Japans überdeutlich.

Ein Beispiel für die Belastung eigentlich gesunder Bereiche der Wirtschaft stellen die Genossenschaftsbanken (u.a. Volksbanken, Raiffeisenbanken) und der Sparkassensektor dar. Beide waren bis vor kurzem als gesund einzustufen. Die realisierten Zinssenkungen führten jedoch auch zu einer extremen Verringerung der Zinsspannen, was die Geschäftsmodelle beider Bankensysteme aushöhlt. Vergleichbares gilt für den Versicherungssektor, insbesondere Lebensversicherungen und Rentenversicherungen.

Auch die praktizierte Geldpolitik beinhaltet folglich eine Fass-ohne-Boden-Problematik, die so schnell wie möglich beseitigt werden sollte. Dies kann im Grunde nur durch eine zwar langsame, aber stetige Erhöhung der Zinsen bis zum Normalniveau erfolgen. Unglücklicherweise lässt sich eine solche Wende in Europa nicht einmal ansatzweise erkennen.

Fazit

Wichtige Bereiche der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sind durch Fass-ohne-Boden-Probleme gekennzeichnet. Während diese auf nationaler Ebene durch innenpolitische Proteste zumindest noch beeinflusst werden, scheinen die europäischen Fass-ohne-Boden-Fälle bemerkenswert resistent gegenüber Argumenten zu langfristig anfallenden Schäden.

Für die nationalen Problemfälle, die durchaus ein gravierendes Ausmaß annehmen, besteht somit eine berechtigte Hoffnung der Selbstkorrektur. Auf europäischer Ebene fällt ein solcher Optimismus allerdings nicht leicht. Letztendlich können diese Probleme jedoch sogar die Existenz der EU in Frage stellen, was nicht immer hinreichend beachtet wird.

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