Die Europäische Zentralbank hat mit Start der erweiterten Programme zum Ankauf von Vermögenwerten (Asset Purchase Programmes, APP; Quantitative Lockerung 2, QE2) im Juni 2015 einen bemerkenswerten Strategiewechsel hingelegt. Seither erwirbt sie öffentliche (und sei Juni 2016 auch private) Schuldverschreibungen im Volumen von monatlich 60 Mrd. Euro, seit April 2016 sogar von monatlich 80 Mrd. EUR. Sie hat angekündigt, diese Politik mindestens bis März 2017 fortzusetzen, und in jedem Fall solange, bis die Inflationsrate sich nachhaltig dem Zielwert von mittelfristig unter, aber nahe bei 2 % p.a. angenähert hat (siehe auch Vollmer, 2016). In Konsequenz steigt die Geldbasis seit Mitte 2015 kontinuierlich an und hat mittlerweile einen Wert von 1.800 Mrd. Euro überschritten (Abbildung 1; siehe auch Vollmer, 2016).
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Monetaristische stabilitätspolitische Konzeption
Die EZB wird wegen ihrer „unkonventionellen“ Geldpolitik heftig kritisiert, vor allem wegen des damit verbundenen Rückgangs der Zinssätze und des massiven Ankaufs von Staatsanleihen (zur Kritik siehe auch Illing, 2015). Zur Entlastung ist allerdings festzustellen, dass die EZB mit Start von QE2
- die Basisgeldmenge nicht mehr vornehmlich über Refinanzierungsgeschäfte mit den Geschäftsbanken, sondern vermehrt durch „echte“ Offenmarktoperationen steuert;
- von einer zinsorientierten zu einer mengenorientierten Geldpolitik übergegangen ist; und
- die Basisgeldproduktion nicht mehr diskretionär durchführt, sondern einer expliziten Regel unterworfen hat.
Sie folgt damit Empfehlungen, wie sie noch bis in die 1990er Jahre gemeinhin dem monetaristischen geldpolitischen Konzept einer „potenzialorientierten Geldpolitik“ zugeschrieben wurden. Danach sollte sich eine Zentralbank (gemeint war im damaligen Kontext allerdings die Deutsche Bundesbank)
„…vorrangig solcher Instrumente … bedienen, die möglichst direkt auf M1 einwirken. Dem monetaristischen Geldbasiskonzept entsprechend sind dies jene, mit denen die Geldbasis kontinuierlich und exakt dosiert gesteuert werden kann (mengenorientierte Geldpolitik … . Dementsprechend sind Mindestreserve- und Refinanzierungspolitik in einem potenzial orientierten Geldmengenkonzept entbehrlich….
(Vielmehr) muss die regelgebundene Geldmengensteuerung auf die Offenmarktpolitik übergehen. Diese müsste mengenorientiert sein, d.h. die (Zentralbank) hätte ohne Rücksicht auf den sich am offenen Markt einspielenden Zins jene Menge an Wertpapieren kontinuierlich anzunehmen, die wertmäßig der angestrebten Zunahme der Geldbasis entspricht. …“ (Cassel und Thieme, 1995, S. 359 f.; Klammerzusätze von mir).
Genau dies macht die EZB derzeit. Aus dieser Perspektive betrachtet, bedeutet der jüngst vollzogene Übergang zur unkonventionellen Geldpolitik vor allem einen Strategiewechsel hin zu einer stärker monetaristisch geprägten Geldpolitik.
Warum der Strategiewechsel?
Dafür gibt es gute Gründe. Manche sind bereits seit der Monetarismus-Keynesianismus-Kontroverse der 1970er und 80er Jahre bekannt. Dazu sei wiederum auf Cassel und Thieme (1995, S. 332 f.) verwiesen. Danach sind erstens die Effekte einer „konventionellen“ Refinanzierungspolitik auf die Geldbasis unsicher, weil es allein vom Geschäftsbankenverhalten abhängt, „ob und inwieweit durch Erhöhung des quantitativen Refinanzierungspotenzials oder Senkung der Refinanzierungskosten zusätzliches Basisgeld produziert wird…“. Diese Abhängigkeit vom Geschäftsbankensektor besteht im Falle der Offenmarktpolitik nicht, weil sie mit einem weiteren Kreis von Marktteilnehmern durchgeführt werden. Dies spricht für einen Ausbau der Offenmarktpolitik.
Zweitens ist eine zinsorientierte Offenmarktpolitik weniger effektiv als eine mengenorientierte Offenmarktpolitik, denn bei ersterer „wird das tatsächlich umgesetzte Volumen – und damit der Geldmengeneffekt – vom Portfolioverhalten der Geschäftsbanken und Nichtbanken bestimmt…“ Damit ist die Basisgeldproduktion nachfragedeterminiert, vor allem durch die Nachfrage der Banken. „Wählt (die Zentralbank) hingegen die Umsatzmenge an Wertpapieren als Aktionsparameter, ist der Geldmengeneffekt determiniert; die Zinswirkungen hängen dann von den Marktkonditionen ab.“ Dies spricht für die Mengenorientierung der Geldpolitik.
Drittens ermöglicht eine Selbstverpflichtung der Notenbank, ein langfristig gültiges Geldmengenziel zu setzen und zu verwirklichen, die Inflationserwartungen der Marktteilnehmer zu stabilisieren. Zwar kann die Zentralbank Markterwartungen auch über eine „forward guidance“ der kurzfristigen Zinssätze beeinflussen, jedoch ist ihre Kontrolle selbst kurzfristiger Zinssätze schlechter als die über die Geldbasis. Dies spricht für eine Regelbindung.
Offene Fragen
Offen bleibt, ob die Notenbank neben öffentlichen auch private Anleihen am offenen Markt erwerben sollte. Cassel und Thieme (1995, S. 360) bejahten dies im Falle der Deutschen Bundesbank. Denn: Voraussetzung für eine mengenorientierte Offenmarktpolitik
„… ist ein entsprechendes Volumen umlaufender Papiere, aus dem sich die Bundesbank ständig bedienen kann. Hieran bestände kein Mangel, sofern die Bundesbank – statt überwiegend am Geldmarkt zu operieren – vermehrt Kapitalmarktpapiere aufnehmen und außer den Titeln staatlicher Emittenten auch private Anleihen in ihre Operationen einbeziehen würde.“
Eigentlich gibt es keine Gründe, dies im Fall der EZB anders zu sehen, zumal die EZB nur Anleihen mit mindestens Investmentgrade (Kreditqualitätsstufe 3) ankauft. Darüber hinaus erwirbt sie nur solche private Schuldtitel, die sie auch im Rahmen ihrer Hauptrefinanzierungs- und längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte als Sicherheiten akzeptiert. Ein Ankauf von Aktien ist unzulässig und findet nicht statt.
Allerdings sieht das monetaristische Konzept eine potenzialorientierte Geldpolitik vor, bei der sich das Geldmengenwachstum entsprechend der Friedman-Regel am Wachstum des Produktionspotenzials (korrigiert um die trendmäßige Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes) orientiert. Diese Potenzialorientierung fehlt derzeit völlig, wie auch Abbildung 1 zeigt, wonach der Liquiditätsaufbau infolge der Wertpapierankaufprogramme mit einem fast parallel verlaufenden Aufbau an Überschussliquidität im Euroraum einhergeht. Offenbar glaubt die EZB, dass eine kräftige Überschussliquidität erforderlich ist, um die Inflationsrate nachhaltig anzuheben. Ob das stimmt, ist unklar.
Applaus erhielte die EZB für ihr Vorgehen vielleicht sogar von Milton Friedman (2000, S. 421), der sich zwar nicht zu jüngeren Geldpolitik der EZB, wohl aber zur japanischen Geldpolitik Anfang der 1990er Jahre geäußert hat (den Hinweis darauf entnehme ich Illing, 2015):
„ The Japanese bank supposedly had, until very recently, a zero interest rate policy. Yet that zero interest rate policy was evidence of an extremely tight monetary policy. Essentially, you had deflation. The real interest rate was positive; it was not negative. What you needed in Japan was more liquidity. …
In 1989, the Bank of Japan stepped on the brakes very hard and brought money supply down to negative rates for a while. The stock market broke. The economy went into a recession, and it’s been in a state of quasi-recession ever since. Monetary growth has been too low. Now, the Bank of Japan’s argument is, `Oh well, we’ve got the interest rate down to zero; what more can we do?´ It’s very simple. They can buy long-term government securities, and they can keep buying them and providing high-powered money until the high-powered money starts getting the economy in an expansion. What Japan needs is a more expansive domestic monetary policy.“
In Milton Friedman hätte die EZB möglicherweise einen prominenten Unterstützer für ihre derzeitige Politik gefunden.
Fazit
Ob dies stimmt, lässt sich natürlich nicht mehr beurteilen, und auch ich habe Bauchschmerzen angesichts der enormen Summe an Zentralbankgeld, die derzeit in den Wirtschaftskreislauf gepumpt wird. Allerdings ist nicht alles, was die Europäische Zentralbank derzeit macht, a priori zu verdammen, nur weil es die EZB macht. Zumindest folgt sie inzwischen Empfehlungen bezüglich der Ausgestaltung ihres Instrumentariums, denen die Deutsche Bundesbank in den 1990er Jahren nicht oder nur zögernd nachgekommen ist. Chicago ist in Frankfurt angekommen.
Literatur
Cassel, D.; Thieme H.-J. (1995): Stabilitätspolitik, in: Bender, D., u.a., Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Band 2, 6. A., München (Vahlen), S. 301-369.
Europäische Zentralbank (2016): Liquiditätsbedingungen und geldpolitische Geschäfte in der Zeit vom 27. Januar bis zum 26. April 2016, in: Wirtschaftsbericht, 4/2016, S. 39-43.
Friedman, M. (2000): Keynote Address. Canada and Flexible Exchange Rates. Questions and Answers, Bank of Canada, http://www.bankofcanada.ca/wp-content/uploads/ 2010/08/keynote.pdf
Illing, G. (2015): Unkonventionelle Geldpolitik – kein Paradigmenwechsel, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Vol. 16(2), S. 127-150.
Vollmer, U. (2016): Die EZB verändert ihr Gesicht, in: Wirtschaftliche Freiheit vom 24. August 2016.
- Ist die Unabhängigkeit der US Fed in Gefahr? - 15. August 2024
- Zurück auf Anfang?
Zur Neuausrichtung des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems - 27. Mai 2024 - Wie sinnvoll ist der digitale Euro? - 16. Januar 2024
„In Milton Friedman hätte die EZB möglicherweise einen prominenten Unterstützer für ihre derzeitige Politik gefunden.“
It takes two to tango. Nicht umsonst hatte von Hayek Friedman in einem Interview mal als „Keynesian“ klassifiziert. Sofern die staatliche und/oder private Kreditnachfrage nicht anspringt wird die sogenannte Umlaufgeschwindigkeit weiter sinken. Die Geldmenge M1 bleibt relativ konstant (relativ zur Entwicklung vor 2007), da ohne fiskalische Expansion diese Form von Geldpolitik lediglich ein Asset-Swap ist. Am ZLB benötigt die Zentralbank die Unterstützung der Fiskalpolitik. Die Amerikaner sind uns hier mal wieder einen Schritt voraus: http://voxeu.org/article/new-view-fiscal-policy-and-its-application. Am ZLB benötigen wir beide. Da diese fundamentale Logik aber gegen die bestehende Rechtsordnung in Deutschland und Europa verstößt, bleibt uns nur noch der Weg der indirekten Finanzierung: https://zinsfehler.com/2015/03/23/die-citoyage-keynesianischer-monetarismus-als-ordnungspolitisches-korrektiv/.
Chicago ist zwar in Frankfurt angekommen, Cambridge aber leider noch nicht in Berlin.
LG Michael Stöcker