„Meinung ändert keine Tatsache.“ (Francesco Petrarca)
Die Wirtschaftspolitik steht Kopf. In der alten Welt kämpften die Notenbanken gegen das Übel der Inflation, dem „Dieb der kleinen Leute“ (Norbert Blüm). Sie waren die „Guten“, ganz vorne die Deutsche Bundesbank. Die Tarifpartner, allen voran die Gewerkschaften, waren die „Bösen“. Mit ihren überzogenen Lohn- und Tarifabschlüssen pfuschten sie den Notenbanken in der Vergangenheit immer wieder ins Handwerk. Sie lösten einen wiederkehrenden Teufelskreis von Inflation, restriktiver Geldpolitik und Arbeitslosigkeit aus. Das alles scheint nicht mehr zu gelten. Überall ist Preisniveaustabilität mehr oder weniger erreicht. Und was tun die Notenbanken? Sie setzen alle Hebel in Bewegung, um für mehr Inflation zu sorgen. In der vordersten Reihe agiert die EZB. Dabei operieren sie immer hart an der Grenze zur monetären Staatsfinanzierung. Oft überschreiten die Notenbanken diese rote Linie auch. Trotzdem gelingt es ihnen gegenwärtig nicht, die selbst gesetzte Marke von 2 % zu erreichen. Wieder sind die Tarifpartner die „Bösen“. Die Arbeitslosigkeit sinkt spürbar. In Deutschland herrscht quasi Vollbeschäftigung. Der Vorwurf der EZB, Hand in Hand mit der Deutschen Bundesbank, ist: Lohn- und Tarifpolitik seien zu zahm. Kein Wunder, dass ihre expansive Geldpolitik inflationär ins Leere laufe.
Horizontale Phillips-Kurve?
Immer mehr Arbeitsmärkte in Deutschland sind leergefegt. Das gilt für bestimmte Branchen, wie das Verarbeitende Gewerbe. Es trifft ebenso für bestimmte Regionen, wie dem Hohenlohe-Kreis, zu. Aber auch an einigen Qualifikationen, wie die Facharbeiter, besteht ein Mangel. Es herrscht annähernd Vollbeschäftigung. Das sind eigentlich beste Voraussetzungen für stark steigende Nominal- und Reallöhne. Mit den Löhnen nimmt der Druck auf die Unternehmen zu, die Preise ihrer Güter zu erhöhen. Das ist die Basis, die hyper-expansive Geldpolitik der EZB in höhere Inflationsraten in der EWU zu transformieren. Von Deutschland, dem wirtschaftlich größten Land des Euro-Raumes, gehen „endlich“ die inflationären Impulse für die gesamte EWU aus. Dieser Mechanismus scheint aber nicht richtig in Gang zu kommen. Das ist typischerweise bei keynesianischer Arbeitslosigkeit der Fall. Auf eine bessere Auslastung der Kapazitäten – Angebotsüberhänge auf den Gütermärkten – reagieren die Löhne nur sehr verhalten. Die originäre Phillips-Kurve weist eine geringe negative Steigung auf. Im Extrem verläuft sie horizontal. Mit stark steigenden Nominallöhnen und einer höheren Inflationsrate ist nicht zu rechnen.
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Eine solche Konstellation auf den Arbeitsmärkten herrscht allerdings in Deutschland nicht mehr. Die Output-Lücke, die sich nach der Finanzkrise aufgetan hat, ist längst geschlossen. Unternehmen arbeiten immer öfter an der Kapazitätsgrenze. Die verbliebene Arbeitslosigkeit ist struktureller Natur. Mismatch-Elemente gewinnen an Gewicht. Langzeitarbeitslosigkeit ist weiter ein Problem. Und die Nominallöhne reagieren seit der Finanzkrise in Deutschland eher normal. Geht die Arbeitslosigkeit zurück, steigen auch die Löhne. Die Phillips-Kurve ist weiter negativ geneigt (Abb. 1). Allerdings verläuft sie viel flacher als in den Zeiträumen früherer Vergangenheit. Vor allem gegenüber der Zeit nach der Wiedervereinigung und der Finanzkrise ist ihre Steigung spürbar geringer. Ein Blick auf die Entwicklung der Reallöhne zeigt, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit mit einem stärkeren Anstieg der Real- als der Nominallöhne einhergeht. Die geringere Inflationsrate hat trotz eines leicht geringeren Anstiegs der Nominallöhne die Reallöhne stärker ansteigen lassen. Der Mechanismus der negativ geneigten Phillips-Kurve ist weiter intakt.
Erosion gewerkschaftlicher Macht
Von einem Lohn-Paradoxon kann in Deutschland keine Rede sein. Dennoch verläuft die Phillips-Kurve flacher. In der guten alten Zeit nahmen die Gewerkschaften in Zeiten sehr guter wirtschaftlicher Entwicklung einen großen Schluck aus der Lohnpulle. Spielten die Notenbanken mit, waren steigende Lohnkosten der Treibsatz für höhere Inflationsraten. Das ist dieses Mal, nach der Finanz- und Euro-Krise, anders. Selbst die Deutsche Bundesbank ist ob dieser Entwicklung in Sorge. Sie ermuntert die Gewerkschaften, höhere Lohnforderungen durchzusetzen. Mindestens 3 % sollten es schon sein. Viele sehen in der moderaten Lohn- und Tarifpolitik den Verfall der Macht der Gewerkschaften. Mit der gewerkschaftlichen Macht sei es nicht mehr weit her. Ihr Organisationsgrad befinde sich seit Jahrzehnten im Sinkflug. Eine rasante Globalisierung, ein forcierter Strukturwandel und eigene organisatorische Mängel seien die treibenden Kräfte dieser Entwicklung. Die Tarifbindung nehme ständig ab. Löhne und Tarife würden immer mehr „verbetrieblicht“. Sie orientierten sich stärker an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Betriebe. Das Ergebnis zeige sich an einer seit längerem sinkenden Lohnquote.
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Weltweit offenere Märkte und sektoraler Strukturwandel heterogenisieren die wirtschaftliche Entwicklung. Das bringt die Gewerkschaften in Schwierigkeiten. Ihre Kollektivverträge, die viel zu viel über einen Kamm scheren, fallen aus der Zeit. Immer weniger (junge und weibliche) Arbeitnehmer sind bereit, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die lohn- und tarifpolitisch weißen Flecken nehmen zu. Der Staat eilt zwar mit Mindestlöhnen, Entsendegesetzen und Allgemeinverbindlicherklärungen zu Hilfe. Er kann aber den Prozess der „Verbetrieblichung“ von Lohn- und Tarifpolitik nicht aufhalten. Die Tarifabschlüsse orientieren sich immer stärker an der betrieblichen Produktivität. Dieser Prozess ist seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland gut zu beobachten (Abb. 2). Die Hartz-Reformen schlugen zugunsten der Produktivität, die Finanz- und Eurokrise zugunsten der Löhne aus. Seit dem Beginn des neuen Jahrzehntes entwickeln sich die Löhne schneller als die Produktivität. Die stark rückläufige Arbeitslosigkeit lässt die Löhne wieder stärker steigen. Da ist sie wieder, die negativ geneigte Phillips-Kurve. Bleibt die EZB bei ihrer expansiven Politik, ist es nur eine Frage der Zeit bis auch die Inflation wieder auflebt. Wie hoch sie ausfallen wird, hängt von der lohn- und tarifpolitischen Stärke der Gewerkschaften ab. Und mit der ist es nicht mehr weit her.
Wachstumdelle der Produktivität
Die Löhne werden trotz sinkender Arbeitslosigkeit künftig weniger steigen als in der Vergangenheit. Es steht zu befürchten, dass künftige Phillips-Kurven noch längere flacher verlaufen wird als vergangene. Fegt der aufkeimende Protektionismus die Globalisierung nicht weg, werden Gewerkschaften nicht mehr zu alter Stärke zurückkehren. Ihre Macht in Tarifverhandlungen bleibt beschränkt. Da kann ihnen auch der (Sozial)Staat nicht mehr helfen. Die (betrieblichen) Löhne werden künftig kaum stärker als die (betriebliche) Produktivität steigen. Kluncker-Runden wird es nicht mehr geben. Die Lohnzuwächse werden aber vor allem dann niedriger ausfallen, wenn die Wachstumsraten der Produktivität weiter zurückgehen. Die Arbeitsproduktivität wächst in reichen Ländern weltweit seit langem mit immer kleineren Raten (Abb. 3). In Deutschland nähert sich die Trend-Wachstumsrate der Null-Linie. In der EU hat sie diese Marke schon erreicht. Unter den reichen Ländern wachsen nur die USA im Trend noch mit 1 %. Das Wachstum der Löhne wird sich auch bei sinkender Arbeitslosigkeit von diesem Trend nicht abkoppeln können.
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Der Abwärtstrend beim Wachstum der Arbeitsproduktivität reicher Länder hat damit zu tun, dass die totale Faktorproduktivität schon seit längerem weniger stark steigt. Der technische Fortschritt scheint an Grenzen zu stoßen. Die niedrig hängenden Früchte des technischen Fortschritts scheinen abgeerntet. Es ist mühsam, aufwendig und langwierig, an die höher hängenden zu gelangen. Ob neue Technologien, wie die Robotik, die Bionik oder die Nano-Technologie, den Durchbruch schaffen, ist umstritten. Dieser allgemeine Abwärtstrend wird in Deutschland durch spezifische Faktoren verstärkt. Der sinkende Wachstumstrend der Arbeitsproduktivität hat auch mit dem Erfolg auf den Arbeitsmärkten zu tun. Mit den knapper werdenden Arbeitskräften wurden auch weniger produktive Arbeitnehmer eingestellt. Das lässt die Arbeitsproduktivität langsamer wachsen. Das muss allerdings nicht so bleiben. Die Knappheit an Arbeitskräften wird Unternehmen veranlassen, verstärkt in Real- und Humankapital zu investieren. Beides lässt die Arbeitsproduk-tivität stärker wachsen.
Fazit
Es gibt in Deutschland kein Lohn-Paradoxon. Die Löhne steigen mit rückläufiger Arbeitslosigkeit. Das wird auch in Zukunft nicht anders sein. Die Gerüchte über den Tod der Phillips-Kurve sind stark übertrieben. Sie verläuft weiter negativ geneigt, allerdings flacher als in der Vergangenheit. Ein Grund für die weniger starke Reaktion der Löhne auf eine bessere Beschäftigung ist die erodierende Macht der Gewerkschaften. Lohn- und tarifpolitische Exzesse werden unwahrscheinlicher. Die Löhne werden aber auch deshalb langsamer wachsen, weil die Rate des technischen Fortschritts schon seit längerem rückläufig ist. Wächst die Arbeitsproduktivität langsamer, steigen auch die Löhne weniger schnell. Die Gewerkschaften können in Tarifverhandlungen nicht mehr herausholen. Globalisierung und technischer Fortschritt verhindern, dass sie wieder an ihre alte Stärke anknüpfen. Es werden allerdings auch wieder Zeiten kommen, in denen die Arbeitsproduktivität stärker als heute wächst. Wann dies der Fall sein wird, ist nicht seriös zu prognostizieren. Bei einer auf absehbare Zeit flacheren Phillips-Kurve sollte allerdings die EZB über ihre willkürlich festgelegte 2 %-Marke der Inflation nachdenken. Es spricht vieles dafür, die Marke nach unten zu korrigieren.
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Eine Antwort auf „Das Lohn-Paradoxon
Eine (deutsche) Fata Morgana?“