Wenn ein Geologe sagt, daß er die Berge liebt, die er wissenschaftlich untersucht, dann wird ihm daraus niemand einen Strick drehen. Im Gegenteil, man wird die Aussage so verstehen, daß wir es mit einem hochmotivierten, von seinem Forschungsgegenstand begeisterten Wissenschaftler zu tun haben. Und das, obwohl wir alle wissen, daß Berge auch Probleme bereiten können. Murgänge können ganze Dörfer verschütten, Lawinen können Skifahrer töten, Steinschläge können Wanderer ins Grab bringen. Und noch bis vor hundert Jahren stellten die Berge ein schweres Hindernis für den europäischen Reiseverkehr dar, welches über die Jahrhunderte sicher tausende Italienreisende das Leben kostete. Die Schattenseiten der Berge sind also ziemlich ernst, aber dennoch: Einen Geologen, der die Berge liebt, wird niemand anstößig finden.
Warum erzähle ich das? In einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schrieben am 20. August vier Mitglieder des Sachverständigenrates folgendes: „Laien verwechseln häufig die Liebe von Ökonomen zum Markt mit einer Liebe zu einzelnen Marktakteuren. Einem Profi sollte das nicht passieren.“ Diese Aussage wurde in einem eindeutigen und recht engen Kontext formuliert, nämlich als Replik auf den Ratskollegen Peter Bofinger, der an gleicher Stelle eine Woche zuvor neben anderen Autokonzernen auch den VW-Konzern als Beispiel für die These anführte, daß der Markt ohne staatlichen Anstoß angeblich manchmal nicht die gesellschaftlich wünschenswerten Innovationen hervorbringe. Ein Konzern im Staatsbesitz sei aber, so die Ratsmehrheit, ein schlechtes Beispiel für diese These.
Generell gilt: Wenn Ökonomen über den Markt sprechen, dann sprechen sie von einem Mechanismus, der individuelle Pläne koordiniert. Und genau da kommt auch die oben zitierte Aussage der Ratsmehrheit her. Ein ökonomisch nur halbwegs gebildeter Leser sollte das eigentlich wissen, denn ideengeschichtlich kann dieses Motiv viele Jahrzehnte zurückverfolgen, zumindest bis zu Walter Eucken. Die Aussage hat etwas mit dem Vorwurf zu tun, Ökonomen würden oft eine „wirtschaftsfreundliche“ oder gar „unternehmensfreundliche“ Wirtschaftspolitik fordern. Aber das tun sie eigentlich nicht, denn der Wettbewerb, den auch die Ratsmehrheit in ihrem Artikel vehement verteidigt, ist ein Entmachtungsinstrument. Eine Wettbewerbsordnung sorgt dafür, daß Gewinne bestreitbar sind, daß langfristige Monopolgewinne sehr selten sind, daß Unternehmen es nicht bequem haben, sondern immer wieder gezwungen sind, Neues hervorzubringen und dem Fortschritt zu dienen, wenn sie ihre Existenz sichern wollen.
Die Ökonomen lieben also – größtenteils jedenfalls – den Markt als Koordinations- und Anreizmechanismus, der den einzelnen Marktteilnehmern einerseits Beine macht, sie andererseits aber zu jeweils beiderseits vorteilhaften, freiwilligen Vertragsabschlüssen leitet. Und sie können gleichzeitig beißend kritisch sein gegenüber einzelnen Marktteilnehmern, die in dieser Wettbewerbsordnung ihre Möglichkeiten nicht nutzen oder, was schlimmer ist, die versuchen, über politische Einflußnahme die Wettbewerbsordnung zu ihrem eigenen Vorteil auszuhebeln. Das ist also der Hintergrund der Aussage der Ratsmehrheit, und wie gesagt: Wer ökonomisch halbwegs gebildet ist, der kann das eigentlich nicht mißverstehen.
Es sei denn, das Mißverständnis wird bewußt herbeigeführt, weil das der eigenen Agenda dient. So war dann in den Wochen nach Veröffentlichung des Artikels zu lesen, wer den Markt liebt, der leugne die Möglichkeit, daß der Markt auch einmal gesellschaftlich unerwünschte Resultate hervorbringt. Oder daß die letzte Finanzkrise etwas mit Fehleinschätzungen von Marktakteuren zu tun hatte. Oder daß es auch Sachverhalte, wie etwa externe Effekte, gibt, welche die Koordinationsfähigkeit des Marktes schwächen. Diese Vorwürfe sind natürlich ziemlicher Unsinn und weder aus dem konkreten Kontext des FAS-Artikels herauszulesen, noch aus dem allgemeinen Bonmot, nach dem Ökonomen den Markt lieben, die einzelnen Marktteilnehmer jedoch nicht. Thomas Beschorner liest in der ZEIT aus dem Zitat gar folgendes heraus: „Nicht die Ökonomie, sondern eine spezifische ökonomische Organisationsform, der Markt, soll geliebt werden. Ökonomen haben den Markt bedingungslos zu lieben, ansonsten, so liest sich der Text der vier Wirtschaftsweisen, droht ihnen die Trennung.“ Da weiß man jetzt wirklich nicht mehr, ob mit dem Autor einfach die Phantasie durchgeht, oder ob er sich gewollt in der boshaft-sinnentstellenden Interpretation fremder Texte übt.
Ökonomen sind Realisten, daher wissen sie, daß die Alternative zum Markt in der Regel nicht in einer schönen Utopie, sondern in Macht besteht. Wo marktwirtschaftlicher Wettbewerb die Macht nicht bestreitet und eindämmt, da wachsen Probleme. Und sie wachsen auch dort, wo politische Macht mit einzelnen Marktakteuren gemeinsame Sache macht und das korporatistische Elend seinen Lauf nehmen kann. Man müßte mit den Kritikern der Liebe zum Markt einmal ausführlich über deren Liebe zur politischen Macht sprechen.
In seinem Buch „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ beschreibt Bofinger die „Volkswirtschaftslehre als Markt-Wissenschaft“ (Kapitel 1.2, S. 3-6) sehr ausgewogen. Er betont dabei die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft (S. 4):
„Die hohe Leistungsfähigkeit einer durch Märkte gesteuerten Wirtschaft zeigte sich besonders deutlich gegen Ende der 1980er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Viele Länder in Ost- und Mitteleuropa sowie die damalige Sowjetunion und China hatten bis dahin das Konzept einer weitgehend staatlich organisierten Wirtschaftsplanung verfolgt. Mit dieser „zentralen Planwirtschaft“ waren sie jedoch im Lauf von Jahrzehnten massiv gegenüber den marktwirtschaftlich ausgerichteten Ländern in den Rückstand geraten. Es blieb ihnen so Anfang der 1990er-Jahre nichts anderes übrig, als eine grundlegende Umgestaltung ihrer Wirtschaftsordnung durchzuführen.“
Die Neigung des Herrn Beschorner zur polemisch-sinnentstellender Wiedergabe fremder Texte dürfte auch Ausdruck steigender Frustration angesichts der dämmernden Erkenntnis sein, dass der eigene Anspruch „eine Ethik“ formulieren zu können, die für andere Menschen bindend ist, in der Fachwelt nicht ernstgenommen wird.
Man könnte allerdings behaupten, dass die von diesen – mitunter eher „klassisch liberal“ orientierten – Ökonomen mit der „Liebe zum Markt“ noch etwas anderes gemeint sein könnte, nämlich eine spezielle wirtschaftspolitische Präfenrenz, beispielsweise eine mitunter übertrieben naive Liebe zu den Selbstregulationspotentialen von Marktprozessen allgemein, oder im Fall des Wohnungs- und Immobilenmarktes ein Leitbild, welches vor allem die „Freiheit“ vor staatlicher Regulation zum Schwerpunkt erhebt, und eben auffällig weniger, die durchaus realen Probleme und Machtdifferenzen auf diesen Märkten – mithin eventuellen Regulationsnotwendigkeiten.
Wer jetzt schlecht gelaunt ist, oder Marktprozesse vor allem aus der Perpektive derjenigen denkt, welche nicht zum wohlhabenden Drittel der Gesellschaft gehören, könnte bei einer solchen Formulierung auf den Gedanken verfallen, dass die so formulierte und geforderte „Liebe zum Markt“ am Ende doch weniger mit professioneller Neugier zu tun haben könnte, oder schlimmer noch, mit einem gar nicht mehr professionellem Desinteresse an verantwortbaren oder ggf. sogar gebotenen Regulationsoptionen zur Lösung real vorhandener Probleme in dieser Welt.
Nun mag ich, ein sicherlich unbeachtlicher Laie, nicht den schlecht gelaunten Part übernehmen. Ich wäre aber froh, wenn es in diesem wirtschaftswissenschaftlichen Expertengremium überhaupt jemand täte.
Im Übrigen sind Marktprozesse, hier erzähle ich niemanden etwas Neues, oft erstaunlich belastbar, sogar mit moderaten Sozialstaatsforderungen, und ganz sicher auch in Hinblick auf neue und gut durchdachte Regulationen zur Lösung von Problemen, wie sie auf Märkten eben entstehen können. Ich wäre durchaus dankbar gewesen auch für etwas klarere Worte gegen bereits bestehende Regulationen, welche preissteigernde Wirkungen am Wohnungsmarkt ausüben, und darüber hinaus, wäre ich auch über Worte der Sachverständigen dankbar gewesen, welche sich auf die Verbesserung der Transparenz des Marktgeschehens gerichtet hätte, nicht nur in Hinblick auf die Mietenspiegel – und die dort kaum stattfindenden Bestandsmieten.
Ein weites Feld. Ein Laie wie ich freut sich dann immer, wenn dieses in einem weiten Kreis abgeschritten und erhellt wird. Das lässt dann die Liebe zum Forschungsgegenstand auch weniger wie die Repräsentation einer wirtschaftspolitischen Präferenz aussehen.
Ich bin allerdings ein tatsächlich ziemlich dummer Mensch, und als solcher rechne ich damit (das wäre dann wohl noch ein Rest an Klugheit), dass meine Worte in der Ökonomenzunft auf reine Ablehnung stoßen, sofern sie überhaupt auf Gehör stoßen.
Tja, Pech.