Die Türkei sieht sich seit Anfang August einer ernsthaften Währungskrise gegenüber, die ihren Ausdruck in einem dramatischen Kursverfall der türkischen Lira (TRY) findet. Bereits seit Beginn des Jahres 2018 zeigte sich ein stetiger Wertverlust der Lira, der sich in den letzten Wochen zunehmend beschleunigte. Auch wenn der steile Abwärtstrend vorerst gebremst zu sein scheint, kam es allein im Laufe dieses Jahres in der Spitze zu einer Abwertung gegenüber dem US-Dollar in Höhe von 45 Prozent und gegenüber dem Euro von 42 Prozent. Die Entwicklung gegenüber dem Euro veranschaulicht die nachstehende Abbildung 1.
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Krisenursachen
Obgleich Währungskrisen in erster Linie mit Festkurssystemen oder mit (einseitigen) Wechselkursbindungen in Verbindung gebracht werden, zeigt das Beispiel der Türkei, dass entsprechende Probleme auch im Rahmen eines Währungssystems (grundsätzlich) flexibler Wechselkurse auftreten können. In letzterem Fall wird die Krise aber nicht durch einen plötzlichen und starken Verlust an Währungsreserven ausgelöst, sondern vielmehr durch eine hohe Verschuldung in ausländischer Währung, deren Schuldendienst bei einer starken Abwertung immer weniger tragfähig wird und die inländischen Kreditnehmer zunehmend belastet.
Der aktuelle und im Vordergrund stehende Krisenauslöser war im vorliegenden Fall die Anfang August zunehmende Kapitalflucht, die primär durch die politischen Konflikte mit den USA – die ihren vorläufigen (ökonomischen) Höhepunkt in der Ankündigung einer Verdopplung der Zölle auf Stahl (50 Prozent) und Aluminium (20 Prozent) am 15. August durch Präsident Trump fanden – ausgelöst wurde. Zum einen wird diese Maßnahme Rückwirkungen auf die Exporte der Türkei haben, die 2017 mit einem Stahlexport in Höhe von 1,3 Mrd. USD zu den 10 größten Stahllieferanten der USA gehörte, und zum anderen wurden hierdurch Erwartungen eines weiter eskalierenden Handelsstreits mit negativen Rückwirkungen auf die türkische Wirtschaft geschürt. Dazu trug auch die amerikanische Drohung bei, (zusätzliche) Strafmaßnahmen gegen die Türkei zu ergreifen, weil sie die Iran-Sanktionen Amerikas unterlaufen haben soll.
Allerdings hatte es bereits im Vorfeld erhebliche Irritationen an den Märkten gegeben, weil Staatspräsident Erdogan im Mai durch Äußerungen bezüglich seiner Vorstellungen zur Leitzinsentwicklung Zweifel an der Unabhängigkeit der Notenbank aufkommen ließ, die am 24. Juli noch verstärkt wurden, weil die türkische Zentralbank trotz einer Inflationsrate von über 15 Prozent keine Anpassung des Leitzinses vornahm. Hinzu kam, dass er Anfang Juli seinen Schwiegersohn zum Finanzminister ernannte, was als weiteres Einfallstor persönlicher Einflussnahme interpretiert wird.
Die eigentlichen Krisenursachen liegen allerdings tiefer und sind in dem erheblichen Leistungsbilanzdefizit der Türkei zu sehen, das sich 2017 auf 42 Mrd. Euro und damit auf etwa 5,5 Prozent des BIP belief[1], und dem zur Finanzierung notwendigerweise ein Kapitalbilanzüberschuss gegenüberstehen muss. Die damit verbundene Kreditaufnahme im Ausland führte wiederum im Laufe der Jahre zu einer stetig steigenden Auslandsverschuldung, die nun auf ein Niveau von 467 Mrd. US-Dollar angestiegen ist. Mit zunehmender Auslandsverschuldung und insbesondere bei starken Abwertungen der heimischen Währung verteuert sich somit der Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) immer stärker. Die steigenden Zinszahlungen gehen dabei ferner als (weiterer) Negativposten in die Leistungsbilanz ein.
Wirkungen
Der zuvor erläuterte Anstieg des Schuldendienstes trifft in der Türkei aber weniger den Staat, der „nur“ in Höhe von ca. 130 Mrd. US-Dollar in Auslandswährung verschuldet ist, sondern vielmehr private Banken und Unternehmen, deren Auslandsverschuldung sich zusammen auf ca. 330 Mrd. US-Dollar beläuft. Der zunehmende Schuldendienst kann wiederum dazu führen, dass es sowohl bei Unternehmen als auch bei Banken zu Gewinneinbußen bis hin zur Insolvenz kommt. Probleme ergeben sich dabei insbesondere für solche Unternehmen, die ihre Einnahmen in der schwachen Landeswährung haben, ihre Schulden aber in der immer stärkeren Auslandswährung bezahlen müssen. Sollten sich die türkischen Unternehmen bei inländischen Banken verschuldet haben, könnte sich deren Situation durch Kreditausfälle weiter verschlechtern. Auf der einen Seite birgt dies die Gefahr eines konjunkturellen Abschwungs in der Türkei in sich, auf der anderen Seite könnte sich der türkische Staat gezwungen sehen, zur Vermeidung einer systemischen Bankkrise (Bankrun) als Lender of last Resort einzuspringen – eine Situation, die nur zu gut aus der Banken- und der europäischen Staatsschuldenkrise bekannt ist. Die damit verknüpften Befürchtungen kommen darin zum Ausdruck, dass – wie Abbildung 2 veranschaulicht – der türkische Aktienindex (ISE 100) und insbesondere der (Groß-)Bankenindex stark an Wert eingebüßt haben. Der Handel mit einigen Bankaktien wurde zeitweise sogar komplett eingestellt. Aber auch die Rendite türkischer Staatsanleihen ist in die Höhe geschnellt und hat Werte – je nach Laufzeit – zwischen 21 und 26 Prozent erreicht (siehe Abbildung 3). Darin kommt eine erhebliche Risikoprämie (Ausfallrisiko) zum Ausdruck. Die aktuelle Unsicherheit zeigt sich ferner darin, dass die Renditen für kurze Laufzeiten (2 Jahre) deutlich höher sind als diejenigen für längere Laufzeiten (10 Jahre). Nachdem sowohl Standard & Poor’s als auch Moody’s – als Reaktion auf die Krise – das Rating der Türkei am 17. August von BB- auf B+ bzw. von Ba2 auf Ba3 herabgestuft haben, werden sich die Risikoprämien und damit auch die Renditen möglicherweise weiter erhöhen.
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Von den zuvor erläuterten Problemen sind aber nicht nur türkische Banken betroffen, sondern auch diejenigen europäischen Banken, die Fremdwährungskredite in die Türkei vergeben haben. Auch bei ihnen könnte es zu Kreditausfällen und damit zu Solvenzproblemen kommen. Vor diesem Hintergrund haben auch der europäische Bankenindex und der Euro (leicht) an Wert verloren. Wenn man sich hingegen das Engagement europäischer Banken in der Türkei anschaut, dann sind es – wie Abbildung 4 zeigt – lediglich vier Banken, nämlich die Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA), BNP Paribas, Unicredit und ING, die eine überdurchschnittliche Kreditvergabe an die Türkei aufweisen. Daher ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich die Türkei-Krise zu einer (erneuten) europäischen Banken- oder sogar zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise ausweiten wird. Dafür spricht auch, dass zwar der Handel der Türkei mit der EU etwa 50 Prozent des Gesamthandels beträgt, der Handel der EU mit der Türkei im Gegensatz dazu aber nur etwa 4 Prozent an deren Gesamthandel umfasst.
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Die starke Abwertung der türkischen Lira wird ferner dazu führen, dass die Preise der importierten Vor- und Endprodukte und damit auch die Inflationsrate (weiter) steigen werden. Schätzungen gehen davon aus, dass die gegenwärtige Inflationsrate von fast 16 Prozent kurzfristig auf etwa 20 Prozent steigen könnte. Dies würde dann den abwertungsbedingten (Preis-)Wettbewerbsvorteil türkischer Anbieter zum Teil wieder abschwächen. Es ist darüber hinaus fraglich, ob selbst ein verbleibender Wettbewerbsvorteil zu großen Wirkungen im Warenhandel führen wird. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass längerfristig der Tourismus (Dienstleistungs-Export) durch diesen Preisvorteil gewinnt und damit die Leistungsbilanzsituation der Türkei etwas verbessert. Sollte die Inflationsrate in der Türkei allerdings weiter deutlich ansteigen, dann wird es – vor dem Hintergrund der Kaufkraftparität – allein aus diesem Grunde zu weiteren Abwertungen der Lira kommen und damit werden sich die oben erläuterten Probleme automatisch weiter verschärfen.Die gegenwärtig zu beobachtende Währungskrise in der Türkei zeigt darüber hinaus Ansteckungseffekte auf andere Schwellenländer. Nachdem bereits die steigenden Zinsen in den USA und die globalen Handelskonflikte dieser Ländergruppe zu schaffen machen, trifft es nun allerdings insbesondere solche Währungen, deren Länder ebenfalls durch politische Probleme gekennzeichnet sind. Hierzu gehören insbesondere der Südafrikanische Rand sowie einige südamerikanische Währungen. Vor dem Hintergrund der oben erläuterten Krisenursachen zeigen sich allerdings – osteuropäische und asiatische – Länder mit vergleichsweise solider Leistungsbilanzsituation und deren Währungen (zunächst) unbeeindruckt von den Entwicklungen in der Türkei.
Lösungen
Um den Druck am Devisenmarkt zu mildern oder ganz wegzunehmen, stehen der Türkei die nachfolgend erläuterten Maßnahmen zur Verfügung:
- Die nächstliegende Reaktion auf eine Währungskrise ist die Anhebung des Leitzinses durch die Zentralbank. Dadurch soll die Attraktivität von Inlandsanlagen erhöht und der Anreiz zur Kapitalflucht kompensiert werden. Dazu müsste der gegenwärtige Leitzins in Höhe von 17,75 Prozent allerdings deutlich erhöht werden. Dass diese Maßnahme (bisher) nicht ergriffen wurde hat möglicherweise damit zu tun, dass Staatspräsident Erdogan sich – zur Vermeidung eines („reinigenden“) konjunkturellen Abschwungs – gegen Zinssteigerungen ausgesprochen hat und die Zentralbank nicht mehr über die notwendige Unabhängigkeit zur Einführung einer solchen Maßnahme verfügt.
Professor Steve Hanke von der Johns Hopkins University hat als eine weitergehende Maßnahme in diesem Rahmen die Einführung eines Currency Boards vorgeschlagen.[2] Dies würde der türkischen Geldpolitik zwar die notwendige Glaubwürdigkeit verleihen, würde ihr aber zugleich auch die „Hände binden“ und eine diskretionäre Geldpolitik unmöglich machen. Voraussetzung dieses Vorschlags wäre allerdings, dass die türkische Lira an eine stabilitätsorientierte Währung wie den USD, den Euro oder gar das Gold gebunden würde. Anschließend würde die Veränderung der Geldbasis ausschließlich und automatisch durch die Veränderung der Währungsreserven determiniert. In der aktuellen Situation hätte dies einen Reservenverlust mit der Konsequenz einer restriktiven Geldpolitik und steigenden Zinssätzen zur Folge. Auch wenn sich die Krise auf diese Weise sicherlich schnell beenden ließe, ist nicht damit zu rechnen, dass Staatspräsident Erdogan einer damit verbundenen „fremdbestimmten“ Geldpolitik zustimmen würde.
- Die türkische Zentralbank könnte Interventionen am Devisenmarkt vornehmen. Dazu würde sie Devisen verkaufen und türkische Lira kaufen. Das Problem einer solchen Politik liegt darin, dass die Türkei nur über einen Bestand an Devisenreserven in Höhe von etwa 24 Mrd. US-Dollar verfügt – was weniger als den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein bedeuten würde. Man läuft möglicherweise sogar Gefahr, die Krise noch zu verschärfen, wenn den Marktteilnehmern klar wird, dass der Bestand an Währungsreserven zur Neige geht.
- Wenn nicht genügend Devisenreserven für nachhaltige Interventionen zur Verfügung stehen, dann kann man möglicherweise auf verbale „Interventionen“ zurückgreifen. Dabei könnte man an die legendäre Rede von Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, denken. Nach seiner Ankündigung, alles tun zu wollen, um den Euro zu retten, koste es was es wolle, beruhigten sich die (Staatsanleihen-)Märkte in der Eurozone deutlich. Ohne die damit verbundene Solidarhaftung an dieser Stelle zu bewerten, ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass die Türkische Zentralbank oder der Finanzminister über ein Vertrauen verfügen, das ähnliche Effekte möglich macht.
- Die Türkei könnte ferner auf Kapitalverkehrsbeschränkungen zurückgreifen. Letztlich handelt es sich dabei aber nur um ein Kurieren an Symptomen und nicht um die Bekämpfung der Ursachen. Diese hätten allerdings eine erhebliche Behinderung des Außenhandels zur Folge. Hinzu kommt, dass eine solche Maßnahme insbesondere auch ausländische Direktinvestoren verschrecken könnte, da sie befürchten müssten, (künftig) nicht mehr uneingeschränkt über ihr Kapital und dessen Erträge in der Türkei verfügen zu können. Davon könnten zusätzliche negative Rückwirkungen auf das Wirtschaftswachstum in der Türkei ausgehen.
- Die Türkei könnte (Fremdwährungs-)Kredite beim Internationalen Währungsfonds in Anspruch nehmen, wie sie das bereits im Jahre 2001 erfolgreich gemacht hat. Das war allerdings vor der Amtsübernahme durch Erdogan, der das damalige Programm zwar mit umsetzte, heute aber einem solchen Schritt ablehnend gegenübersteht: zum einen, weil Kredite des IWF mit wirtschaftspolitischen Auflagen verknüpft sind und zum anderen, weil der IWF aus seiner Sicht – aufgrund des höchsten Stimmrechtsanteils – von den USA dominiert wird. In seinen Worten liest sich das wie folgt: „Wir wissen sehr gut, dass jene, die uns ein Geschäft mit dem IMF vorschlagen, uns eigentlich vorschlagen, die politische Unabhängigkeit unseres Landes aufzugeben“. [3] Womit wir wieder bei den politischen Konflikten zwischen der Türkei und den USA wären.
- Aufgrund der angespannten politischen Beziehungen zum Westen könnte sich die Türkei auf der Suche nach finanzieller Unterstützung nach Osten wenden. Fremdwährungs-Kredit- oder Investitionsquellen könnten vor diesem Hintergrund China, Russland oder Qatar sein. Aus allen drei Quellen werden aber wohl nur in begrenztem Umfang Mittel zu erwarten sein. Das in diesem Zusammenhang unterbreitete Angebot des Emirats Qatar, 15 Mrd. US-Dollar in der Türkei zu investieren, hat daher angesichts in den nächsten 12 Monaten fällig werdender Auslandsschulden in Höhe von 180 Mrd. Euro[4] auch eher symbolischen Charakter. Am vergangenen Wochenende hatte die SPD-Vorsitzende, Andrea Nahles, sogar deutsche Finanzhilfen für die Türkei in die Diskussion eingebracht, die allerdings von der Bundesregierung – in Person des Regierungssprechers Seibert – (zunächst) als nicht relevant zurückgewiesen wurden.
Es wird der Türkei schwerfallen, die nun in Gang gekommene Krise (unbeschadet) zu überstehen, wenn nicht die Erwartungen der in- und ausländischen Marktteilnehmer stabilisiert werden. Dazu gehört auf der einen Seite, dass der (handelspolitische) Konflikt insbesondere mit den USA beigelegt wird – wonach es gegenwärtig keineswegs aussieht – und auf der anderen Seite, dass die Inflation in der Türkei entschieden bekämpft wird. Anderenfalls wird es allein aus diesem Grunde zu weiteren deutlichen Abwertungsschüben der Lira kommen, die die Probleme weiter verschärfen. Von herausragender Bedeutung in diesem Zusammenhang ist allerdings das Vertrauen in die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank.[5] Ohne eine beherzte Leitzinserhöhung zur Kompensation der Kapitalflucht und zur Bekämpfung der Inflationsrate werden die Märkte nicht nachhaltig zu beruhigen sein.
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[1] Das Handelsbilanzdefizit ist noch deutlich höher, es wird aber insbesondere durch einen tourismusbedingten Überschuss in der Dienstleistungsbilanz teilweise kompensiert.
[2] https://www.wsj.com/articles/erdogan-can-save-the-turkish-lira-1534110387
[3] Vgl. Neue Zürcher Zeitung: Erdogan möchte nicht beim IMF anklopfen, 16. August 2018, S. 8.
[4] Zu den Zahlenangaben siehe Scherff, Dyrk: Was kann den Lira-Crash stoppen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.8.2018, S.27.
[5] Zur Bedeutung der Unabhängigkeit von Notenbanken siehe Neyer, Ulrike: Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, in: DICE Ordnungspolitische Perspektiven Nr. 97, Juni 2018. Online abrufbar unter:http://www.dice.hhu.de/fileadmin/redaktion/Fakultaeten/Wirtschaftswissenschaftliche_Fakultaet/DICE/Ordnungspolitische_Perspektiven/097_OP_Neyer.pdf
- Die Neuregelung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
Schlimmer geht immer! - 1. Februar 2024 - Der Brexit und das Vereinigte Königreich
Drei Jahre danach - 8. Januar 2024 - Wie geht es weiter mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt? - 20. August 2022
4 Antworten auf „Währungskrise in der Türkei
Wie geht es weiter mit der Lira?“