„Uncertainty of any sort results in volatility, and Brexit will be no exception.“ (Raghuram Rajan)
Die Europäische Union ist in Schwierigkeiten. Es läuft schon länger nicht mehr rund. Mit dem Brexit wird sich die Struktur der Europäischen Union nachhaltig verändern, ökonomisch und politisch. Der Austritt des Vereinigten Königreichs ist ökonomisch nachteilig. Das gilt für beide, das Vereinigte Königreich und die Europäische Union. Neue tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse werden künftig die internationale Arbeitsteilung stören. Wie stark die wirtschaftlichen Nachteile bei beiden zu Buche schlagen, hängt auch von den wirtschaftspolitischen Reaktionen auf der Insel und dem Kontinent ab. Nach herrschender Meinung wird das Vereinigte Königreich stärker als die Europäische Union leiden. Sicher ist das allerdings nicht. Bei wirtschaftlicher Desintegration kehren sich handelsschaffende und handelsablenkende Effekte um. Das Vereinigte Königreich setzt darauf, die gegenwärtig nachteiligen Wirkungen der Festung Europa abzubauen. Damit kann es den negativen Effekten höherer Hindernisse mit der Europäischen Union entgegen wirken.
Unterschiedliche Interessen
Unter dem Brexit wird auch die Europäische Union leiden. Neue Handelshemmnisse zwischen den ehemaligen Partnern erschweren eine effiziente Arbeitsteilung. Wie hoch die Verluste ausfallen, hängt von vielem ab, auch davon, ob ein „weicher“ oder „harter“ Brexit gewählt wird. Das wird erst in den künftigen Verhandlungen zum Handelsvertrag zwischen Vereinigtem Königreich und der Europäischen Union fixiert. Es kann in einer Zollunion, einem Binnenmarkt 2.0, einer Freihandelszone oder anderen Varianten enden. Die Vereinbarungen mit Norwegen, der Schweiz, der Ukraine oder der Türkei zeigen eine große Bandbreite (hier). Das Ergebnis ist schwer vorhersehbar. Der nordirische Backstop verstärkt allerdings die Tendenz zu einem „weicheren“ Brexit. Die Europäische Union könnte aber auch durch einen indirekten polit-ökonomischen Effekt unter dem Brexit leiden. In der Europäischen Union kämpfen seit langem zwei Schulen gegeneinander. Die einen, vor allem die Südländer, streben nach einer „ever closer union“. Ihr Ziel ist eine politische Union (Vereinigte Staaten von Europa), ihr präferiertes Mittel ist die Zentralisierung. Die anderen, vor allem die Nordländer, wollen eine engere Kooperation der Nationalstaaten. Ihr Ziel ist eine föderale Ordnung (Europa der Vaterländer), ihr bevorzugtes Mittel ist die Subsidiarität.
Der Vertrag von Lissabon hat versucht, beide Lager auszutarieren. Er schuf Sperrminoritäten im Rat der EU. Wenn sich mindestens vier Mitgliedsländer mit 35 % der Bevölkerung zusammentun, können sie im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ein Vorhaben blockieren. Um Zentralisierungstendenzen südlicher Länder aufzuhalten, reichte es bis zum Brexit aus, wenn sich Deutschland, das Vereinigte Königreich, die Niederlande und einige kleinere wirtschaftlich freiheitlich orientiertere Länder zusammentaten. Dasselbe galt auch für die südlichen Länder, wenn sie marktwirtschaftliche De-Zentralisierungstendenzen des Nordens bremsen wollten. Taten sich Frankreich, Italien, Portugal, Griechenland und einige kleinere südliche Länder zusammen, konnten sie den Norden blockieren. Es galt ein relativ stabiles politisches Gleichgewicht des Schreckens. Der Brexit bringt nun dieses labile Gleichgewicht ins Wanken. Dem Norden wird es nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs schwer fallen, eine schlagkräftige Sperrminorität zu organisieren. Der Süden hat Vorteile. Die Tendenzen zu einer „ever closer union“ werden sich verstärken.
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Veränderte Mehrheiten
Die Veränderungen in den strukturellen Mehrheitsverhältnissen in der Europäischen Union tun der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa nicht gut. Mit steigendem Wohlstand differenzieren sich die Präferenzen der Bürger weiter aus. Das gilt auch für Europa. Eine gute Politik reagiert auf die wachsenden Heterogenitäten. Dezentrale Lösungen werden, wo es sinnvoll ist, zentralen vorgezogen. Die vertikalen Kompetenzen werden neu geordnet. Als Maßstab dient das Prinzip der Subsidiarität. Wer zentralistisch auf diese heterogene Entwicklung reagiert, handelt ineffizient. Mit dem Brexit besteht die Gefahr, dass sich die zentralistischen Tendenzen in der Europäischen Union beschleunigen. Den nördlichen Ländern um Deutschland wird es immer schwerer fallen, die Zentralisierungstendenzen aufzuhalten. Das frustriert nicht nur die Bürger mit ihren unterschiedlichen Präferenzen. Es ist auch ökonomisch ineffizient. Das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs schädigt die EU nicht nur direkt über neue Handelshemmnisse. Es trägt auch mit dazu bei, den wirtschaftlichen Entwicklungspfad der EU politisch zu behindern.
Diese Sicht der Dinge ist möglicherweise zu optimistisch. Die Tendenzen zur Zentralisierung schreiten weiter fort. Davor ist auch Deutschland nicht gefeit. Die föderale Ordnung hierzulande hat mit wettbewerblichem Föderalismus wenig zu tun. Es dominiert ein Pseudo-Föderalismus. Die Abschaffung des Kooptionsverbotes zeigt, wohin die Reise geht. Die Bundesländer lassen sich immer öfter ihre Kompetenzen durch den Bund abkaufen. Aber auch in der EU setzt Deutschland stärker auf die französische Karte. Das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft mit dem Wettbewerb als treibende Kraft wird zugunsten zentraler, planwirtschaftlicher Elemente in den Hintergrund gedrängt. Es ist deshalb kein Zufall, dass wirtschaftlich freiere Länder in der EU sich von der deutsch-französischen Achse lösen wollen. Eine Gruppe um die Niederlande, Irland, baltischen und skandinavischen Ländern hat sich in der „Hanse 2.0“ zusammengetan. Sie hält wenig von einer „ever closer union“ in der EU. Sie setzt stärker auf föderale, wettbewerbliche Strukturen (hier).
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Abwanderung und Widerspruch
Es gibt aber auch noch eine andere Sicht, wie der Brexit die Europäische Union verändern kann, eine viel optimistischere. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman hat darauf hingewiesen, dass die Unzufriedenheit in Organisationen mit herrschenden Zuständen lange in Loyalität ertragen wird, dann in Widerspruch umschlägt und schließlich in Abwanderung niederschlägt. Im Vereinigten Königreich hat sich offensichtlich mehrheitlich die Meinung durchgesetzt, dass der Widerspruch nicht ausreicht, die anhaltenden Missstände in der EU zu beseitigen. Helfen könne nur noch ein Austritt aus der EU. Albert Hirschman vertrat die These, dass die Abwanderung den Widerspruch erlahmen lasse. Das wäre für die Zukunft der EU fatal. Die Zentralisierungstendenzen würden sich verstärkt fortsetzen. Das muss allerdings nicht so sein. Es ist auch denkbar, dass der Austritt den Widerspruch verstärkt. Mit dem Brexit wird anderen unzufriedenen Mitgliedsländern signalisiert, dass es möglich ist, die EU zu verlassen. Dass diese These nicht ganz unbegründet ist, zeigt die Angst der EU-Instanzen vor Nachahmern des Brexit.
Unter diesem Aspekt erscheint der Brexit in einem etwas anderen Licht. Die wachsende Heterogenität in der EU macht eine grundlegende Reform notwendig. Das integrationspolitische Konzept der „ever closer union“ ist überholt. Ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ oder ein „Europa à la carte“ scheinen zukunftsträchtiger. Vertikale Kompetenzen müssen neu austariert werden. Ein modernes Konzept der europäischen Integration muss sich am Prinzip der Subsidiarität orientieren. Die Zentralorgane der EU zeigen aber strukturelle Beharrungstendenzen, allen voran die EU-Kommission und das Europäische Parlament. Ohne Druck werden sie keinen neuen Kurs einschlagen. Der Austritt des Vereinigten Königreichs könnte diesen Druck erhöhen. Allerdings ist das Gezerre um den Brexit nicht dazu angetan, die Drohung potentieller Nachahmer glaubwürdiger zu machen. Vor allem kleinere Länder dürften kaum in der Lage sein, Druck aufzubauen. Größere Länder könnten eher glaubwürdig drohen, die Europäische Union zu verlassen.
Asymmetrische Drohpotentiale
Die Möglichkeiten, glaubwürdig mit Abwanderung zu drohen, sind asymmetrisch zwischen den Mitgliedern der Europäischen Union verteilt. Kleinere Länder sind strukturell benachteiligt. Sie sind auf den europäischen Binnenmarkt angewiesen. Ein Austritt kommt sie wirtschaftlich teuer zu stehen. Für die größeren Länder der Europäischen Union sind die kleineren wirtschaftlich relativ unbedeutend. Es existiert ein erhebliches Machtgefälle in den möglichen Austrittsverhandlungen. Das hat selbst ein großes Land wie das Vereinigte Königreich im Brexit-Prozess schmerzlich zu spüren bekommen. Und die Europäische Union springt nicht gerade zimperlich mit kleinen Ländern außerhalb der Union um. Das muss die Schweiz gerade in den Verhandlungen über ein neues Rahmenabkommen erfahren. Für die Kleinen ist es besser, sich einen starken Partner in der Europäischen Union zu suchen. Sind sie eher marktwirtschaftlich orientiert, bietet sich trotz allen ordnungspolitischen Fehltritten immer noch Deutschland an. Damit kommt Deutschland bei den notwendigen strukturellen Reformen der EU eine wichtige Rolle zu.
Die Verhandlungsposition großer Länder ist anders. Sie können glaubwürdiger mit Austritt drohen. Dennoch sind selbst sie in einer schwächeren Position als die EU. Ein Land, das immer wieder verlauten lässt, es könnte aus der Europäischen Union aussteigen, ist Italien. Vor allem die linken und rechten Populisten der Regierung gehen damit gelegentlich hausieren. Glaubwürdig ist ihre Drohung aber dennoch nicht. Dafür sorgt allein schon die Europäische Währungsunion als Transferunion. Selbst wenn die Drohung glaubwürdig wäre, änderte das wenig am zentralistischen, planwirtschaftlichen Weg der europäischen Integration. Ein italienischer Ausstieg käme den mehr dezentral, marktwirtschaftlich orientierten Mitgliedern der Europäischen Union allerdings indirekt entgegen, weil sich italienische und britische Stimmen im Rat der EU kompensierten. Für die stärker marktwirtschaftlich orientierten Nordländer ist der Verlust des Vereinigten Königreiches allerdings schwerwiegender als der mögliche Verlust Italiens für die Südländer. Es gibt einfach mehr interventionistisch infizierte andere Mitglieder der EU, die in die Bresche springen können.
Fazit
Der Brexit ist ein einschneidendes Ereignis für die europäische Integration. Zum ersten Mal verlässt ein Mitgliedsland die Europäische Union. Das tut weder dem Vereinigten Königreich noch der Europäischen Union gut, beide verlieren, ökonomisch und politisch. Wie hoch die Verluste ausfallen, hängt davon ab, wie beide auf die neue Situation reagieren. Im noch auszuhandelnden Handelsvertrag zwischen Vereinigtem Königreich und der Europäischen Union können die größten Flurschäden noch verhindert werden. Der Brexit wirkt sich aber auch über den Umweg der Politik auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Europäischen Union aus. Die Gefahr ist groß, dass das marktwirtschaftliche Element in der Europäischen Union weiter geschwächt wird. Darunter würden alle Mitglieder der Europäischen Union leiden, die einen mehr, andere weniger. Es ist zwar denkbar, dass ein Brexit den „Widerspruch“ in der Europäischen Union stärkt. Die Drohung, aus der Europäischen Union auszutreten, könnte glaubwürdiger werden. Das gilt allerdings nur für größere, weniger marktwirtschaftsaffine Länder, wie etwa Italien, nicht für kleinere, stärker marktwirtschaftlich orientierte. Der Weg zu einem neuen, dezentralen Konzept der wirtschaftlichen und politischen Integration wird blockiert. Mit dem Brexit gerät die Europäische Union endgültig auf die schiefe, zentralistische Bahn. Das sind keine guten Aussichten.
Blog-Beiträge zum Thema:
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Norbert Berthold: The day after. Politischer Poker um den Brexit
Juergen B. Donges: Das Brexit-Theater, wie lange noch?
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