„Of course Brexit means that something is wrong in Europe. But Brexit means also that something was wrong in Britain.” (Jean-Claude Juncker)
Die Lage scheint ziemlich verfahren. Der Brexit-Prozess steckt in den politischen Mühlen des britischen parlamentarischen Systems fest. Es gelingt der Politik im Vereinigten Königreich bisher nicht, den gordischen Knoten zu zerschlagen. Die Regierung findet für den Scheidungsvertrag mit der Europäischen Union keine Mehrheit. Um das Schlimmste zu verhindern, den ungeordneten Brexit, schiebt man im Einklang mit dem Rat der Europäischen Union den Austrittstermin ein ums andere Mal auf. Einer Lösung kommt man allerdings nicht näher. Ob es Theresa May gelingt, sich mit Jeremy Corbyn über den Scheidungsvertrag zu einigen, ist ungewiss. Es wäre für das britische parlamentarische System revolutionär. Der Brexit-Prozess steckt in einer Sackgasse, einem Trilemma. Die Ziele, die man mit dem Brexit verfolgt, stehen in einem Zielkonflikt. Alle sind nicht gleichzeitig zu erreichen. Mindestens auf eines muss man verzichten. Solange sich die britische Politik nicht entscheidet, wie sie die Ziele gewichtet, wird es keine Lösung geben. Das ist äußerst kompliziert, weil die Präferenzen heterogen sind und quer durch die Parteien verlaufen.
Das Trilemma
Die Brexiteers strebten im Referendum im Jahr 2016 zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union vor allem drei Kernziele an. Sie wollten neue handelspolitische Optionen für das Vereinigte Königreich, eine Begrenzung der ausländischen Zuwanderung in die Arbeitsmärkte und den Sozialstaat des Vereinigten Königreichs und mehr Unabhängigkeit von den Bürokraten in Brüssel, den Parlamentariern des Europäischen Parlamentes in Straßburg und Brüssel und den Juristen des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. In beinharten Verhandlungen über den Brexit sind in zwei Jahren die Zuwanderung aus der Europäischen Union und die Abhängigkeit von Brüssel, Straßburg und Luxemburg etwas in den Hintergrund getreten. Das gilt zumindest für den ausgehandelten, vom britischen Unterhaus noch nicht ratifizierten Scheidungsvertrag. Der gegenwärtige Streit konzentriert sich auf die Autonomie der britischen Handelspolitik, die territoriale Integrität des Vereinigten Königreichs und den weiterhin „grenzlosen“ Zustand zwischen Nordirland und der Republik Irland.
Das Problem besteht darin, dass nicht alle drei Ziele gleichzeitig erreicht werden können. Auf mindestens eines muss immer verzichtet werden. Die Zielkonflikte werden offenkundig, wenn man die wichtigsten handelspolitischen Alternativen analysiert, die in der Diskussion sind. Ein Freihandelsabkommen ist eine erste Variante. Dabei kann das Vereinigte Königreich eine autonomere Handelspolitik betreiben. Auch die territoriale (wirtschaftliche) Integrität bleibt erhalten. Allerdings kommt es zu einer „harten“ Grenze zwischen Nordirland und Irland. Beim „Desintegrations-Modell“ wird die britische Handelspolitik zwar autonomer, ohne eine „harte“ Grenze auf der irischen Insel zu installieren. Allerdings müsste die Handelsgrenze zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich in die irische See verlegen werden. Das würde die territoriale (wirtschaftliche) Integrität des Vereinigten Königreichs beschädigen.
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Die am häufigsten diskutierten Handelsmodelle im erst noch auszuhandelnden Handelsvertrag mit der Europäischen Union sind eine Zollunion des Vereinigten Königreichs mit der Europäischen Union und ein „Binnenmarkt 2.0“. Mit einer Zollunion kann eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland vermieden werden. Auch mit der (wirtschaftlichen) Integrität des Vereinigten Königreichs gäbe es keine Probleme. Allerdings wird ein Kernziel der Brexiteers verletzt: Eine autonomere Handelspolitik ist weiterhin nicht möglich. Und ganz ohne neue handelspolitische Regulierungen wird es auch nicht abgehen. Auch den für das Vereinigte Königreich wichtigen Binnenmarkt für Dienstleistungen gibt es nicht mehr. Beim „Binnenmarkt 2.0“ (Norwegen-Modell) kann eine „harte“ Grenze auf der irischen Insel vermieden werden. Die territoriale (wirtschaftliche) Integrität bleibt gewahrt. Allerdings ist auch bei dieser Lösung keine autonomere britische Handelspolitik möglich. Die handelspolitische Musik spielt weiter in Brüssel, nicht in London.
Die Zielkonflikte
Das Vereinigte Königreich steckt in der Zwickmühle. Der ausgehandelte Scheidungsvertrag mit der Europäischen Union ist nicht handelsvertragsneutral. Er schränkt den Verhandlungsspielraum der britischen Regierung beim erst noch auszuhandelnden Handelsvertrag stark ein. Der hauptsächliche Grund ist der sogenannte irische „Backstop“. Theresa May war verhandlungsstrategisch nicht gut beraten als sie vorschlug, eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu vermeiden, koste es was es wolle. Damit scheiden Freihandelsabkommen in den unterschiedlichsten Varianten aus (hier). Alle Freihandelszonen erlauben zwar eine autonomere Handelspolitik, erfordert aber auch Kontrollen an den nationalen Außengrenzen. Es gibt (noch) keine technischen Möglichkeiten, die physischen Kontrollen an den Grenzen zu vermeiden. Damit hat sich das Vereinigte Königreich einer wichtigen handelspolitischen Möglichkeit beraubt. Es hat handelspolitisch nur noch die Wahl zwischen territorialer Desintegration, einer Zollunion und einem „Binnenmarkt 2.0“.
Der Weg der territorialen Desintegration ist politisch keine ernsthafte Alternative. Die Einheit des Vereinigten Königreichs stünde auf dem Spiel. Nordirland bliebe in der Zollunion mit der EU und im europäischen Binnenmarkt. Mit der nordirischen Sonderbehandlung würden andere Teile des Vereinigten Königreichs ebenfalls mehr politische Eigenständigkeit fordern. Vor allem die europaaffinen Schotten würden wohl darauf drängen, enger mit der Europäischen Union verbunden zu bleiben. Auch der Ruf nach mehr Autonomie von London könnte wieder lauter werden. Ein neues Referendum, das Schottland unabhängiger vom Vereinigten Königreich machen soll, wäre eine mögliche Folge. Der Bestand des Vereinigten Königreichs wäre in Gefahr. Die Hardcore-Brexiteers wären vielleicht bereit, diesen hohen politischen Preis zu zahlen, wenn sie dafür mehr handelspolitische Autonomie erhielten. Allerdings sind die politischen Mehrheiten im Vereinigten Königreich und der Europäischen Union nicht so, dass diese Variante ernsthaft erörtert wird.
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Als realistische Möglichkeiten bleiben dem Vereinigten Königreich, das tatsächlich raus will aus der Europäischen Union, nur eine Zollunion mit der EU oder ein „Binnenmarkt 2.0“. Beides sind keine bevorzugten handelspolitischen Lösungen für die Brexiteers. In beiden Fällen ergeben sich keine neuen handelspolitischen Handlungsspielräume für das Vereinigte Königreich. Sowohl bei der Zollunion als auch dem „Binnenmarkt 2.0“ wird handelspolitisch zentral entschieden. Länderspezifische Abweichungen sind (kaum) möglich. Der „Binnenmarkt 2.0“ ist für die Brexiteers noch unattraktiver als eine Zollunion. Es herrscht weiter Personenfreizügigkeit und der Einfluss aus Brüssel, Straßburg und Luxemburg ist kaum geringer als zuvor. Das Vereinigte Königreich kann zwar aus der Agrar- und Fischereipolitik aussteigen. Dennoch kommt ein „Binnenmarkt 2.0“ einem Exit vom Brexit ziemlich nahe. Die Hardcore-Brexiteers werden dagegen politisch Sturm laufen. Die Gefahr, dass die Tories daran zerbrechen, ist nicht von der Hand zu weisen.
Die Entscheidung
Alle Brexit-Varianten lösen Zielkonflikte aus. Die Politik im Vereinigten Königreich muss sich diesen Konflikten stellen. Sie muss sich zwischen der von ihr präferierten Brexit-Variante und einem Exit vom Brexit entscheiden. Sind weder eine „harte“ irische Grenze noch die territoriale Desintegrität eine Option, bleiben nur „weichere“ Brexit-Varianten. Hat sich die Politik im Vereinigten Königreich auf eine Variante festgelegt, muss sie entscheiden, ob es sich wirklich lohnt, aus der Europäischen Union auszusteigen. Dieser Entscheidungsprozess braucht allerdings Zeit. Er lässt sich nicht von heute auf morgen organisieren und zu Ende führen. Mit immer wieder kurzen Aufschüben von Austrittsterminen ist es nicht getan. Die Europäische Union muss dem Vereinigten Königreich viel mehr Zeit einräumen, um zu einem mehrheitlich getragenen Ergebnis zu kommen. Der Ansatz von Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, den Austrittstermin um viele Monate, vielleicht Jahre zu verschieben, geht in die richtige Richtung.
Die Europäische Union könnte helfen, die „Exit vom Brexit“-Variante für das Vereinigte Königreich attraktiver zu gestalten. Es ist völlig richtig, dass sie nicht an den vier Grundfreiheiten herumfummeln will. Ein funktionierender Binnenmarkt ist die realwirtschaftliche Basis der wirtschaftlichen Integration in der Europäischen Union. Sie sollte keinesfalls beschädigt werden. Den Briten könnte allerdings ein wenig die Angst vor ungeregelter Zuwanderung in den Sozialstaat genommen werden, wenn die Europäische Union bei distributiven Sozialausgaben endlich das „Heimatland“-Prinzip einführen würde. Die Personenfreizügigkeit bliebe erhalten, die armutsgetriebene Immigration würde beschränkt. Und noch etwas könnte die Europäische Union auf den Weg bringen, um die gefühlte Abhängigkeit der Briten von Brüssel, Straßburg und Luxemburg zu verringern: Eine neue Integrationsstrategie, die sich stärker an den heterogenen Präferenzen der Bürger orientiert, vertikale Kompetenzen neu verteilt und das Prinzip der Subsidiarität verwirklicht (hier).
Wie sollte man im Vereinigten Königreich den Prozess der Entscheidungsfindung organisieren, aus der Europäischen Union auszutreten oder weiter dabei zu bleiben? Im Unterhaus gibt es eine Mehrheit, aus der Europäischen Union auszusteigen. Ob diese Mehrheit auch in der Bevölkerung vorhanden ist, bleibt umstritten. Ein Weg, das herauszufinden, wären Neuwahlen im Vereinigten Königreich. Der Wahlkampf würde dann primär mit dem Brexit-Thema bestritten. Möglicherweise wären Neuwahlen der Anfang vom Ende der Zwei-Parteien-Herrschaft im Königreich. Die Liberaldemokraten könnten die Gewinner sein. Ein anderer Weg wäre ein zweites Referendum. Die Wähler müssten entscheiden, ob sie aus der Europäischen Union austreten wollen und welche der Brexit-Varianten sie präferieren. Entscheiden sie sich für einen Exit vom Brexit, ist das Theater zu Ende. Plädieren sie für einen Brexit, ist das Thema auch durch, weil die Wähler sich für eine Brexit-Variante entscheiden müssen. Noch gibt es allerdings im Unterhaus keine Mehrheit für den einen oder anderen Weg.
Fazit
Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Das gilt wohl auch für den geplanten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Der Scheidungsvertrag hat das Zerstörungspotential eines Brexit stark verringert. Für einen „ungeordneten“ Brexit gibt es im Vereinigten Königreich keine politische Mehrheit, weder im Parlament noch bei den Wählern. Mit dem irischen „Backstop“ einer „offenen“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland sind die Handlungsmöglichkeiten der britischen Seite für einen „geordneten“ Brexit stark eingeengt. Will man die territoriale Integrität des Vereinigten Königreichs mit einer (Außen)Grenze in der irischen See nicht aufs Spiel setzen, sind alle Varianten von Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union mehr oder weniger ausgeschlossen. Die Blütenträume der Hardcore-Brexiteers einer autonomen britischen Handelspolitik sind geplatzt. Es bleiben allenfalls „weichere“ Formen des Brexits, wie eine Zollunion oder Varianten eines „Binnenmarktes 2.0“. Darauf könnten sich vielleicht auch die Tories und Labour verständigen. Auch ein „weicher“ Brexit wäre allerdings immer noch ein Verlust für beide Seiten. Wenn es für die Hardcore-Brexiteers dumm läuft, kommt es zu einem Exit vom Brexit. Neuwahlen oder ein zweites Referendum könnten den Weg ebnen.
Blog-Beiträge zum Thema:
Dieter Smeets: Dieser Weg wird kein leichter sein … Wie geht es weiter mit dem Brexit?
Norbert Berthold: Neues aus der Anstalt. Gelingt der Exit vom Brexit doch noch?
Wolf Schäfer: Wenn Großbritannien fehlt
Norbert Berthold: The day after. Politischer Poker um den Brexit
Juergen B. Donges: Das Brexit-Theater, wie lange noch?
Andreas Freytag: Gibt es etwas Positives am Brexit-Desaster?
Norbert Berthold: Noch ist das Vereinigte Königreich nicht verloren. Angst vor Sozialtourismus und Brexit-Nachahmern
Tim Krieger: Remain, Britannia!
Dieter Smeets: Brexit-Chaos ohne Ende …
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