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„NZZ: Welche langfristigen Folgen wird die Pandemie haben, gesellschaftlich und politisch? Steven Pinker: Darauf habe ich eine klare Antwort: Das meiste, was nun gesagt und geschrieben wird, wird sich als falsch herausstellen. Schauen wir mal.“ (NZZ-Interview mit Steven Pinker vom 11. April 2020)
Covid-19 versetzt die Welt in Angst und Schrecken. Die Menschen bangen weltweit nicht nur um ihre Gesundheit. Nach dem staatlich verordneten Lockdown fürchten sie auch um ihre materielle Existenz. Das Coronavirus breitet sich rasend schnell weltweit aus. Die Gefahr ist groß, dass die medizinischen Kapazitäten einiger Länder an ihre Grenzen stoßen. Es drohen italienische Verhältnisse. Die Menschen müssen um Leib und Leben fürchten. Im schlimmsten Fall ist Bergamo überall. Rigorose staatliche Eingriffe sind unvermeidlich. Der ökonomische Stillstand bringt allerdings die Ökonomien an den Rand des Abgrundes. Unternehmen gehen reihenweise Pleite. Arbeitnehmer müssen um ihre Arbeitsplätze fürchten. Den Staaten brechen die Steuereinnahmen weg, die Ausgaben explodieren. Künftigen Generationen wird ein gigantischer Schuldberg aufgebürdet. Im schlimmsten Fall können Gesellschaften nur zwischen Pest und Cholera wählen: Entweder medizinische Triage oder ökonomischer Kollaps. Wenn es dumm läuft, müssen sie mit beidem rechnen. Noch dominieren die medizinischen die ökonomischen Aspekte. Tatsächlich muss aber zwischen beiden abgewogen werden. Die Politik muss nach Wegen suchen, aus dem Dilemma herauszukommen.
Ist dieses Mal alles anders?
Die Politik hat entschieden, der Medizin einen Vorrang einzuräumen. Mit einer ökonomischen Vollbremsung will sie verhindern, dass sich das Virus ungebremst ausbreitet. Nachdem sie versäumt hat, rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen, bleibt ihr keine andere Alternative. Dieses Staatsversagen fordert allerdings ökonomisch einen hohen Preis. Die Politik versucht mit allen finanziellen Mitteln, die schweren ökonomischen Folgen des wirtschaftlichen Stillstandes abzufedern. Ein verbessertes Kurzarbeitergeld, verstärkte Liquiditätshilfen, einfachere Kredite und vermehrte Bürgschaften sollen Unternehmen am Leben halten, Arbeitsplätze sichern und Kaufkraft erhalten. Das ist alles gut und schön. Es ist aber nicht mehr als sündhaft teure weiße Salbe. Es wird der (Fiskal)Politik nicht gelingen, Output und Beschäftigung auf dem alten Niveau zu stabilisieren. Auch die geldpolitischen Hilfen der Europäischen Zentralbank können daran nichts ändern. Die kriegsentscheidende Größe ist das gesamtwirtschaftliche Angebot (hier). Und das ist durch die medizinischen Maßnahmen, die das Coronavirus in Schach halten sollen, ökonomisch eingefroren.
Wie die Ölpreiskrise der 70er Jahre ist auch die Coronakrise zuerst und vor allem eine Störung auf der Angebotsseite. Mit unweigerlich sinkendem Output und Beschäftigung infiziert sie allerdings auch die Nachfrageseite. Arbeit wird stillgelegt, weil die Arbeitnehmer krank sind oder nicht arbeiten dürfen. Der Staat verbietet die Produktion vor allem bei personenbezogenen Dienstleistungen. Es fehlen aber auch Vorleistungen, weil nationale und internationale Lieferketten wegen des Virus gerissen sind. Es wird nicht gelingen, sie auf absehbare Zeit vollständig zu reparieren. Noch immer hat die Pandemie weltweit ihren Höhepunkt nicht erreicht. Eingefrorene Arbeit und fehlende Vorleistungen sind die beiden entscheidenden Engpassfaktoren, die Output und Beschäftigung einbrechen lassen. Eine nachfragepolitische Antwort à la Finanzkrise wäre verfehlt. Sie würde allenfalls inflationär wirken, solange die Rationierung auf der Angebotsseite nicht behoben ist. Besserung ist erst in Sicht, wenn die Stockungen auf der Angebotsseite verringert werden. Erst dann verschiebt sich die gesamtwirtschaftliche Angebotskurve xAT1 nach rechts. Das kann durch einen Impfstoff oder Medikamente oder durch einen lockereren Shutdown erfolgen.
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Völlig hilflos ist die Wirtschaftspolitik allerdings nicht. Sie könnte versuchen, das unelastische gesamtwirtschaftliche Angebot elastischer zu gestalten. Durch den staatlich verordneten Lockdown sind in manchen Bereichen, wie der Gastronomie, der Touristik und der Luftfahrt, riesige Überkapazitäten entstanden. Auf der anderen Seite herrscht, wie im Gesundheitswesen, der Landwirtschaft, der Logistik und im Einzelhandel, ein Mangel an Arbeitskräften. Die Arbeitsmarktpolitik könnte helfen, diesen Mismatch auf den Arbeitsmärkten zu verringern. Ob ihr das allerdings gelingt, ist zweifelhaft. Schon in „normalen“ Zeiten, war dies eher schwierig. Und noch etwas könnte die Arbeitsmarktpolitik tun, um das Arbeitsangebot elastischer zu gestalten. Viele werden ihren Arbeitsplatz verlieren oder stehen als Berufsanfänger auf der Straße. Ein breit angelegtes staatliches Ausbildungsprogramm könnte den Arbeitslosen helfen, sich für einen Arbeitsplatz zu qualifizieren, in denen die Engpässe heute und wohl auch morgen am größten sind (hier). Verstärkte Investitionen in das Humankapital im Bereich des Gesundheitswesens, der Altenpflege oder der Informations- und Kommunikationstechnologie sind sicher auch langfristig keine Fehlinvestitionen.
Wo sind Lockerungen sinnvoll?
Der drohende wirtschaftliche Kollaps, rückläufige Neuinfektionen und weniger stark wachsende Todesfälle tragen dazu bei, dass die ersten Länder angekündigt haben, das medizinisch veranlasste ökonomische Koma (Paul Krugman) zu beenden. Österreich und Dänemark wollen die staatlichen Beschränkungen lockern. Auch Deutschland erwägt erste vorsichtige Schritte. Alle wollen die mittelalterliche Pandemiebekämpfung durch Isolierung an die Funktionsbedingungen moderner Gesellschaften anpassen (Frank Lübberding). Das ist nicht einfach, vielleicht ist es sogar unmöglich, wenn es um das Leben von Menschen geht. Die Meinungen, was zu tun ist, gehen teilweise weit auseinander. Einig sind sich allerdings alle, dass einige Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um die Kontaktsperren zu lockern. Die Neuinfektionen müssen niedrig sein und weiter zurückgehen, um eine für viele lebensbedrohende Überlastung der Krankenhäuser auszuschließen. Und es müssen flächendeckende und repräsentative Tests durchgeführt werden, um zu erkennen, wer infiziert ist. Notwendig sind auch effiziente Maßnahmen (Contact-Tracing), um Infektionen nachzuverfolgen. Nur so können neue Gefahrenherde schnell eingedämmt werden.
Eine Rückkehr zur „alten“ Normalität wird es noch lange nicht geben. Mögliche Lockerungen können nur in kleinen Schritten erfolgen. Sie müssen beherrschbar und reversibel sein, sollte eine neue große Welle der Epidemie auftreten. Und mit neuen Wellen ist bei Epidemien immer zu rechnen. Das zeigen die Erfahrungen. Virologen und Epidemiologen akzeptieren eine Lockerung nur, wenn die Bevölkerung effiziente Hygiene-Regeln des Händewaschens einhält, ausreichend Abstand der Menschen im täglichen Leben sichergestellt ist und wirksame Schutzkleidung, wie etwa Mund- und Nasen-Masken, für große Teile der Bevölkerung verpflichtend werden. Das Abstandsgebot ist im industriellen Arbeitsleben oft leichter zu verwirklichen als im kontaktanfälligen Dienstleistungssektor. Der für Deutschland wichtige Industriesektor könnte schneller wieder anlaufen. Schwieriger ist es für einige Bereiche des Dienstleistungssektors. Nach ersten groben Schätzungen des Sachverständigenrates waren im gegenwärtig überwiegend geschlossenen Dienstleistungssektor im Jahre 2017 etwa 16 % der Dienstleistungsarbeitnehmer beschäftigt, die etwa 10 % der Bruttowertschöpfung des Dienstleistungssektors erbringen (hier).
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Vor allem Schweizer Ökonomen fordern, bei den geplanten Lockerungen nicht alles über einen Kamm zu scheren (hier). Sie haben den Föderalismus verstanden. Es sollte stärker nach Individuen, Regionen, Branchen und Unternehmen differenziert werden. Für Risikogruppen sollten strengere Regeln gelten als für andere Personen. Gelockert werden sollten zuerst (altersabhängig) die staatlichen Restriktionen für junge und nicht vulnerable Individuen. Ebenfalls weniger beschränkt werden sollen Individuen, die bereits infiziert wurden und inzwischen immun gegen das Virus sind. Offizielle Immunitätszertifikate, wie sie David Stadelmann vorgeschlagen hat, könnten dabei helfen (hier). Stärker differenziert werden müsste auch nach Regionen. Corona-Hotspots sind anders zu behandeln als Regionen mit geringer Corona-Intensität. Aber auch Branchen und Unternehmen sind vom Coronavirus ganz unterschiedlich betroffen. Auch in diesem Fall sind differenzierte Restriktionen sinnvoll. Christoph Schaltegger plädiert für eine tragfähige testbasierte Kanton-Branchen-Matrix für Unternehmen: Harte Lockdowns für Kantone und Branchen mit starker Ausbreitung des Virus, weniger oder keine Restriktionen für solche mit geringer Ansteckungsgefahr (hier).
Wie verändert sich die Wirtschaftsstruktur?
Die Coronakrise wird die Welt in eine Rezession stürzen. Wie viele andere Krisen wird sie auch wieder verschwinden. Allerdings wird sie tiefe Spuren in der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung hinterlassen. Das gilt für Unternehmen und Arbeitnehmer. Es trifft aber auch für den strukturellen Wandel zu. Die Unternehmen haben auf die staatlichen Restriktionen reagiert. Sie haben versucht, die Rationierung des Arbeitsangebotes so klein wie möglich zu halten. Wo die Nachfrage nach ihren Produkten noch da war, haben sie auf Homeoffice gesetzt. Dieser Prozess wird sich nicht zurückdrehen lassen. Die Arbeitsorganisation wird sich neu aufstellen. Künftig wird mehr von zuhause gearbeitet werden. Die Unternehmen haben auch gelernt, dass wenig diversifizierte nationale und internationale Lieferketten in Krisen kostspielig sind. Sie werden ihre Lieferketten künftig stärker diversifizieren. Einen beschleunigten Prozess der De-Globalisierung sehe ich allerdings nicht. Der Rückzug auf nationale Lieferketten ist einerseits nicht machbar, andererseits stellt er ein Klumpenrisiko dar. Die von Politikern geforderte nationale Selbstversorgung ist weder ökonomisch effizient noch mit weniger Risiken behaftet, ganz im Gegenteil.
Es wird bisweilen befürchtet, dass Covid-19 die Produktion im industriellen Sektor grundlegend verändern könnte (hier). Der Trend existiert seit langem und ist ungebrochen, Unternehmen rationalisieren ihre Produktion. Teurere Arbeit wird durch billigeres Kapital ersetzt. Diese Entwicklung würde verstärkt, wenn das Coronavirus internationale Lieferketten beschädigt. Da scheint nur eines zu helfen, Arbeitskräfte durch Roboter zu ersetzen. Tatsächlich konzentriert sich diese Entwicklung auf Sektoren, die am stärksten von der globalen Wertschöpfungskette abhängen. Hierzulande sind das die Auto- und Transportzulieferer, die Elektro- und Textilindustrie. Damit wird es wieder möglich, einen Teil der Produktion nach Hause zurückzuholen. Die Coronakrise könnte diese Entwicklung verstärken. Der einfachen Arbeit hierzulande täte das nicht gut. Gesetzliche und soziale Mindestlöhne würden den Trend zu steigender Arbeitslosigkeit unter Geringqualifizierten noch verstärken. Tatsächlich verstärkt Covid-19 diese Entwicklung aber nur, wenn es der Medizin nicht gelingt, wirksame Mittel gegen das Coronavirus zu entwickeln. Damit ist nicht zu rechnen.
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Mit der Coronakrise wird auch der strukturelle Wandel forciert. Deutschland wird seine riskante inter-sektorale Struktur schneller anpassen. Die Unternehmen des industriellen Sektors, wie der Maschinenbau, die Autobranche und die Chemie, werden die Krise nutzen, ihre Produktion hierzulande zügiger zu verringern. Das ist für Output und Beschäftigung eine schlechte Nachricht. Vor allem die wirtschaftlich erfolgsverwöhnten süddeutschen Bundesländer werden darunter sehr leiden (hier). Der Dienstleistungssektor wird auch künftig weiter wachsen. Allerdings könnte das intra-sektoral nicht ohne heftige Friktionen ablaufen. Unbestritten ist, wirtschaftliche Dienstleistungen werden auch künftig weiter zulegen. Was mit den personenbezogenen Dienstleistungen passiert, hängt allerdings vom medizinischen Fortschritt ab. Je schneller es gelingt, einen neuen Impfstoff oder wirksame Medikamente gegen Covid-19 zu entwickeln, desto schneller werden auch Dienstleistungen mit körperlicher Interaktion wieder dynamisch wachsen. Aber auch ohne medizinischen Fortschritt wird die „Herdenimmunität“ dem dynamischen Wachstum der personenbezogenen Dienstleistungen längerfristig keinen wirklichen Abbruch tun. Die Zeit bis dahin muss man mit wirksamen Schutzmaßnahmen überbrücken.
Fazit
Die Coronakrise ist nicht durch ökonomisches (Fehl)Verhalten verursacht. Sie lässt sich deshalb auch nicht mit ökonomischen Mitteln lösen. Das politisch veranlasste gegenwärtige ökonomische Koma lässt sich nur medizinisch in den Griff bekommen. Die Wirtschaftspolitik hat kaum Möglichkeiten, die durch den Lockdown eingefrorene Arbeit aufzutauen. Sie kann nur versuchen, die wirtschaftlichen Folgen abzufedern und das auch nur temporär. Der bekannte britische Historiker Niall Ferguson hat es kürzlich so ausgedrückt: „Eine stillgelegte Wirtschaft lässt sich nicht stimulieren – in einem Auto, dem zwei Räder fehlen, kann man auch nicht beschleunigen.“ (hier) Die Bundesregierung versucht dies in einem ersten Schritt mit einem gigantischen, schuldenfinanzierten Hilfsprogramm für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Damit lässt sich aber ein drastischer Einbruch von Output und Beschäftigung nicht verhindern. In einem zweiten Schritt wird die Politik versuchen, die staatlichen Restriktionen sukzessive zu lockern. Geht sie zu forsch vor, läuft sie aber Gefahr, dass eine neue Welle von Neuinfektionen auslöst. Abermalige Beschränkungen wären notwendig. Die ökonomische Misere bliebe bestehen. Wirkliche ökonomische Linderung kann nur die Medizin bringen, mit einem neuen Impfstoff oder wirksamen Medikamenten. Erst dann löst sich die Rationierung auf der Angebotsseite auf. Output und Beschäftigung nehmen zu, die infizierte Nachfrageseite kommt wieder auf die Beine. Bis dahin schauen wir tagtäglich weltweit in den wirtschaftlichen Abgrund.
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