Überlebt das „Geschäftsmodell Deutschland“ die Seuche?
Struktureller Wandel, süddeutscher Rostgürtel und private Unternehmer

„Wenn wir die Industrie aus Deutschland vertreiben, wird die weltweite CO2-Bilanz nicht besser, aber unser Sozialstaat kleiner“ (Christoph Münzer)

Die Welt beneidet Deutschland. Es scheint gegen Schocks gut gewappnet. Der Corona-Einbruch ist wirtschaftlich zwar gewaltig. Gegen massenhaft steigende Arbeitslosigkeit scheint Deutschland aber immun. Der positive Eindruck könnte allerdings täuschen. Unter der Oberfläche brodelt es. Das Herz der deutschen Wirtschaft, der industrielle Sektor, gerät aus dem Takt. Tag für Tag kommen aus industriellen Vorzeigebranchen, wie der Autoindustrie und seinen Zulieferern aber auch aus dem Maschinen- und Anlagebau, neue Hiobsbotschaften. Viele Unternehmen planen trotz verlängertem Kurzarbeitergeld, enormen finanziellen Hilfen des Staates und ausgesetzter Insolvenzanmeldepflicht massenhafte Entlassungen. Das alles hat aber weniger mit dem Corona-Schock zu tun. Er ist nur der Auslöser. Der Strukturwandel, der sich seit langem aufgestaut hat, bricht auf. Deutschland steht vor einem multiplen strukturellen Wandel, inter-sektoral, intra-sektoral und inter-personell. Es ist denkbar, dass sich mit dem Corona-Schock auch das Muster des sektoralen Strukturwandels ändert. Einzelne Branchen personenbezogener Dienstleistungen, sektorale Hoffnungsträger des strukturellen Wandels, könnten darunter leiden.

Strukturwandel treibt Wachstum

Ohne ständigen strukturellen Wandel ist nachhaltiges Wachstum und materieller Wohlstand nicht möglich. Es ist vor allem die Produktivität, die das Wachstum treibt. Sie steigt, wenn Dinge auf eine neue Art angepackt werden. Dazu braucht es neue Ideen. Wenn es gut läuft, sind neue Produkte, neue Prozesse, neue Organisationen und neue Märkte das Ergebnis. Neues Wissen entsteht allerdings nicht aus dem individuellen Nichts. Es braucht Forscher, die Neues erfinden, Arbeitnehmer, die neue Fähigkeiten entwickeln und Unternehmer, die das Neue auf den Märkten umsetzen. Wirken alle zusammen, entsteht oft Neues, radikales und „kleineres“. Ein Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ kommt in Gang. Altes verschwindet, Neues entsteht. Ein oft schmerzhafter struktureller Wandel ist unvermeidlich. Alte Unternehmen und Arbeitsplätze werden obsolet, neue treten an ihre Stelle. Produktionsfaktoren werden neu kombiniert. Kapital, Arbeit und Wissen wandern in neue, effizientere Verwendungsarten. Das Ergebnis dieses strukturellen Wandels ist eine höhere Produktivität und ein höheres wirtschaftliches Wachstum. Der Strukturwandel ist das „Dienstmädchen“ des wirtschaftlichen Wachstums (Joseph A. Schumpeter).

Die treibende Kraft des strukturellen Wandels sind private Unternehmen. Sie sind immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, Gewinne zu erzielen. Dafür müssen sie ein Gespür dafür haben, was künftig nachgefragt wird. Sie sind die Trüffelschweine der Marktwirtschaft (hier). Fündig werden sie, wenn es ihnen gelingt, überzeugende Antworten auf neue Probleme zu finden. Dafür müssen sie die knappen Ressourcen effizienter kombinieren. Damit verringern sie die wirtschaftliche Unsicherheit („unknown unknowns“). Sie transformieren unkalkulierbare Unsicherheiten in kalkulierbare, wirtschaftspolitisch eher beherrschbare Risiken („known unknowns“). Das wird auch in Zeiten von Corona der Fall sein.  Innovationen bei Impfstoffen und Medikamenten sind nur die Spitze des Eisberges. Viele kleinere Verbesserungen im Umgang mit der Seuche werden der Gesellschaft helfen, besser mit dem infektiösen Virus zu leben. Privates Unternehmertum kann aber nur gedeihen, wenn die wirtschaftliche Freiheit blüht. Es ist Aufgabe des Staates, den Ordnungsrahmen so zu setzen, dass private Unternehmer ihre komparativen Vorteile als „Spezialisten für die Zukunft“ auch wirklich ausspielen können.

Instabiles „Geschäftsmodell Deutschland“

Das Herz der deutschen Wirtschaft schlägt weiter im industriellen Sektor. Deutschland profitiert noch immer übermäßig stark von seinen „alten“ Industrien. Daran hat sich nichts geändert. Verändert hat sich allerdings das wirtschaftliche Umfeld. In einem Blog-Beitrag vor über zwei Jahren schrieb ich: „Einen wichtigen Impuls für diese positive Entwicklung setzt der industrielle Sektor. Er ist auf den Weltmärkten sehr erfolgreich, schafft gut bezahlte Arbeitsplätze, ist ausgesprochen innovativ, treibt das wirtschaftliche Wachstum und ist eine wichtige Quelle des Wohlstandes für alle. Damit könnte es aber bald ein Ende haben. Der Aufschwung ist ein Boom auf Messers Schneide. Über allem schwebt das Damoklesschwert des strukturellen Wandels. Deutschland hinkt strukturell erheblich hinterher. Schon der “Flügelschlag eines Schmetterlings” könnte chaotische Zustände im Strukturwandel auslösen.“ (hier) Das scheint jetzt der Fall zu sein. Es spricht einiges dafür, dass der Corona-Schock diesen folgenschweren Impuls ausgelöst hat. Der industrielle Sektor zeigt bisher nicht gekannte Schwächen. Das lange erfolgreiche „Geschäftsmodell Deutschland“ wankt.

Es kommt von mehreren Seiten unter Druck. Verändertes Ausgabenverhalten von Haushalten und Unternehmen und internationale Spezialisierung setzen dem industriellen Sektor zu (hier). Zum einen fragen private Haushalte mit steigendem Wohlstand vermehrt personenbezogene Dienstleistungen nach. Das veränderte Erwerbsverhalten der Frauen verstärkt diese Entwicklung. Die Haushaltsproduktion geht zurück. Private personenbezogene Dienstleistung treten an ihre Stelle. Zum anderen ändern auch Unternehmen ihr Ausgabenverhalten. Immer mehr Vorprodukte sind unternehmensbezogene Dienstleistungen. Produktnahe Dienste aber auch Software-Dienstleistungen tragen dazu bei, dass Industrieprodukte dienstleistungsintensiver werden. Schließlich beschleunigen weltweit offenere Märkte den Prozess der Spezialisierung. Das gilt auch für den Industriesektor. Reiche Länder konzentrieren sich auf das Spezialitätengeschäft der High-Tech-, ärmere Länder auf das Massengeschäft der Low-Tech-Produkte. In wohlhabenden Ländern geht der industrielle Beitrag zur Wertschöpfung, vor allem aber der Beschäftigung zurück.

Der Prozess der schleichenden De-Industrialisierung, der aus individuellen Entscheidungen der Haushalte und Unternehmen resultiert, lässt sich nicht aufhalten. Anders ist es bei politischen Entscheidungen. Es ist erstaunlich, dass die deutsche Politik vieles tut, das eigene Geschäftsmodell zu zerstören. Einen ersten Schritt geht sie mit einem expandierenden Sozialstaat. Immer mehr wenig zielkonforme Umverteilung (Rente mit 63, Aufstockung der Grundsicherung, höheres Kindergeld etc.) öffnet die Steuer- und Abgabenschere weiter. Das tut der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen nicht gut. Vielfältige sozialpolitisch motivierte regulierende Eingriffe in die Arbeitsmärkte setzen den Unternehmen weiter zu, oft ohne den „Begünstigten“ wirklich zu helfen. Wirklich weh tun allerdings viele andere standort- und wettbewerbsfeindliche Aktivitäten. Die Politik hat es geschafft, die Atomindustrie zu vertreiben, die Gentechnik aus Deutschland zu verbannen und der Chemieindustrie das Leben schwer zu machen. Den härtesten Schlag gegen die eigenen Unternehmen führt sie in der Umweltpolitik. Mit tatkräftiger Unterstützung aus Brüssel betreibt sie eine Klimapolitik, die sich am „Hass auf die Verbrenner“ orientiert. Eine Reduktion der CO2-Emmissionen um 55 % bis 2030 wird vor allem der deutschen Autoindustrie nicht bekommen. Mit der klimapolitischen Peitsche treibt die Politik den strukturellen Wandel weiter an. Dem klimapolitischen Wahn werden zehntausende gut bezahlter Arbeitsplätze in Deutschland zum Opfer fallen.

Veränderter Strukturwandel nach Corona?

Der Corona-Schock scheint den Charakter des strukturellen Wandels zu verändern. Er ist ein originärer Angebotsschock, der Branchen und Unternehmen unterschiedlich zusetzt. Auf den ersten Blick folgt er nicht dem traditionellen Muster des inter-sektoralen Strukturwandels. Unter der Seuche haben beide zu leiden, Industrie- und Dienstleistungssektor. Grundsätzlich gilt: Sektoren, die räumliche Nähe brauchen, verlieren; Sektoren, die räumliche Distanz ermöglichen, gewinnen. Die Verlierer sind vor allem im Dienstleistungssektor zu finden. Touristik, Hotellerie und Gastgewerbe zählen dazu. Wie schwer sie von Corona getroffen werden, zeigt auch der hohe Anteil der genutzten Kurzarbeit im Dienstleistungssektor und deren Branchen. Wesentlich mehr Kurzarbeit wird allerdings vom Verarbeitenden Gewerbe in Anspruch genommen. Die Automobilwirtschaft, die Metallindustrie und der Maschinenbau fragen sie am stärksten nach. Diese Bereiche leiden aber weniger, weil sie räumliche Nähe bräuchten. Sie waren zu Beginn der Krise in Schwierigkeiten, weil ihre weltweiten Lieferketten rissen. Die sind allerdings inzwischen weitgehend repariert. Es spricht vieles dafür, dass die Probleme des Verarbeitenden Gewerbes eher weniger Corona-bedingt sind.

Der Corona-Schock hat aber auch Gewinner produziert, absolute und relative. Gewonnen haben vor allem Branchen, die es geschafft haben, Anbieter und Nachfrager räumlich zu distanzieren. Dazu zählen etwa der Online-Handel und E-Commerce. Biotech und die Medizintechnik gewannen, weil die Nachfrage nach Gesundheitsgüter in der Corona-Krise stieg und sich die Angst verbreitete, sie könnte länger anhalten. Ein Blick auf die Kurzarbeitstatistik bestätigt diese Vermutung. Gewinner sind sowohl Dienstleister als auch Industriebetriebe. Dabei hat die fortschreitende Digitalisierung eine gewisse Rolle gespielt. Überall wo es gelingt, den Produktionsprozess stärker zu digitalisieren (z.B. Home-Office), können die negativen Wirkungen des Virus eingedämmt werden. Das bleibt allerdings nicht ohne Folgen für den Strukturwandel. Micheal Spence, der amerikanische Nobelpreisträger, hat darauf hingewiesen, dass Branchen mit viel intangiblem Kapital in Zeiten von Corona eindeutig im Vorteil seien (hier). Ob sie vorwiegend im Industrie- oder im Dienstleistungssektor residieren, ist allerdings unklar. Zweierlei liegt aber auf der Hand: Intra-sektoral gewinnen die Unternehmen mit viel intangiblem Kapital. Der laufende Konzentrationsprozess wird sich weiter fortsetzen. Aber auch inter-personell wird der Prozess der Digitalisierung sichtbar Spuren hinterlassen. Qualifizierte Arbeit wird weiter gewinnen, einfache Arbeit noch mehr verlieren.

Wie der Corona-Schock den Strukturwandel verändert, ist in vielen Punkten noch unklar. Sollte er nur temporär sein, ändert der strukturelle Wandel seinen Charakter kaum. Medizinischer Fortschritt, ökonomische Innovationen und effizienterer Umgang mit dem Virus gehen in diese Richtung. Das würde allerdings die Probleme des industriellen Sektors hierzulande nicht aus der Welt schaffen. Der aufgestaute inter-sektorale Strukturwandel wird sich Bahn brechen, so oder so. Teilen des Verarbeitenden Gewerbes würde es allerdings schwerer fallen, das gegenwärtige „rent seeking“ fortzusetzen. Verliert das Virus über längere Zeit hinweg seinen Schrecken nicht, weil weder Impfstoffe noch Medikamente es wirksam eindämmen, könnte sich das Muster des Strukturwandels ändern. Vor allem Teile des (personenbezogenen) Dienstleistungssektors kämen in Schwierigkeiten. Ob neue Technologien hier Abhilfe schaffen und Angebot und Nachfrage räumlich distanzieren können, steht in den Sternen. Andere Segmente der (unternehmensbezogenen) Dienstleistungen könnten dagegen weiter gewinnen. Alles in allem: Vieles ist noch unklar. Klar ist aber: Der Niedergang des industriellen Sektors wird sich fortsetzen.

Politik für den Strukturwandel

Erfolgreich ist der Strukturwandel nur, wenn knappe Ressourcen aus überkommenen Verwendungsarten in effizientere neue transformiert werden. Das gelingt am ehesten, wenn Arbeit, Kapital und Wissen mobil sind. Möglich ist das nur, wenn Güter- und Faktormärkte offen sind. Eine erfolgreiche Strukturpolitik ist deshalb vor allem eine Politik der De-Regulierung. Das reicht aber nicht. Die knappen Ressourcen müssen auch in effizientere Verwendungsarten kommen. Dazu muss man allerdings wissen, welche Bereiche zukunftsträchtig sind. Dieses Wissensproblem ist nur schwer lösbar. Es lässt sich am ehesten verringern, wenn die Politik die „Spezialisten für die Zukunft“, die privaten Unternehmen, ranlässt. Die Politik muss dafür sorgen, dass der Staat private Unternehmen unternehmen lässt, Unternehmen unternehmen können und Unternehmen auch unternehmen wollen (hier). Alles in allem: Eine Strukturpolitik hat überhaupt nur eine Chance, einigermaßen erfolgreich zu sein, wenn sie Hemmnisse und Hindernisse auf den Märkten abbaut und privates Unternehmertum fördert. Von allem anderen sollte die Politik die Finger lassen.

So läuft es aber in der Realität nicht ab. Die Politik betreibt weiter traditionelle Strukturpolitik aber nur wenig Politik für den Strukturwandel. Noch immer steht für sie der industrielle Sektor im Zentrum ihres wirtschaftspolitischen Handelns. Alte Strukturen werden mit Subventionen gepäppelt, staatliche Protektion begünstigt. Damit wird viel Geld verbrannt, Märkte werden abgeschlossen. Industrielle Arbeitsplätze verschwinden trotzdem, die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer leidet weiter. Mit einer konzentrierten Industriepolitik, die vor allem Cluster-Politik ist (hier), setzt die Politik auf „zukunftsträchtige“ Technologien, Unternehmen und Regionen. Der Staat maßt sich ein Wissen an, das er nicht hat. Erfolgreich ist er in den seltensten Fällen. Cluster-Politik leidet unter dem „MITI-Syndrom“: Entweder ist sie irrelevant oder kontraproduktiv. Fehlanreize sind programmiert, der Wettbewerb wird verzerrt, Strukturen werden konserviert. Und der Kampf um die Fleischtöpfe der Clusterförderung verstärkt „rent seeking“. Die Gefahr ist groß, dass die Politik zu Ausgaben neigt, die keinen volkswirtschaftlichen Nutzen stiften.

Das alles gilt für den „alten“ sektoralen Strukturwandel. Dort dominiert noch immer Strukturerhaltungspolitik. Mit dem „neuen“ Strukturwandel steht die Politik vor einem weiteren Problem. Es ist ungewiss, wie lange der Corona-Schock dauert. Ist er nur temporär, ist nicht mit einem pandemiegetriebenen strukturellen Wandel zu rechnen. Es gibt allenfalls marginale Verhaltensänderungen, wie etwa eine schnellere Digitalisierung. Sie beeinflussen, wie schnell der Strukturwandel abläuft. „Alte“ Strukturpolitik ist bei pandemiegetriebenem, temporärem Strukturwandel kontraproduktiv. Außer Spesen („rent seeking“) nichts gewesen. Sollte der Corona-Schock dauerhaft sein, wird es für manche Branchen, wie der Touristik und dem Luftverkehr, schwer. Ein heftiger Strukturwandel ist unvermeidlich. Staatliche Rettungspakete sind fehl am Platz. Sie konservieren nicht überlebensfähige Strukturen. Es kommt allerdings der Zeitpunkt, wo sich trotz staatlicher Konservierung die strukturellen Spannungen abrupt entladen (Ketchup-Effekt). Unternehmen gehen massenhaft pleite, die Arbeitslosigkeit explodiert. Niemand kann allerdings wissen, ob der Corona-Schock temporär oder dauerhaft ist. Es spricht deshalb vieles dafür, die Strukturpolitik darauf auszurichten, Hemmnisse und Hindernisse im Strukturwandel zu beseitigen und privates Unternehmertum zu fördern. Zumindest sollte ihm aber keine Steine in den Weg gelegt werden. Das wäre die adäquate Antwort auf den unvermeidlichen „alten“ und den möglichen „neuen“ Strukturwandel.

Staatliche Hilfen im Strukturwandel

Wirtschaftlicher Strukturwandel ist immer und überall „schöpferische Zerstörung“. Altes verschwindet, Neues entsteht. Die Frage ist, ob der Staat die Verlierer im Regen stehen lassen soll. Verlierer sind Unternehmen, die im Strukturwandel auf der Strecke bleiben. Verlierer sind aber auch Arbeitnehmer, die arbeitslos werden. Im Strukturwandel „alten“ Musters, gibt es keinen Grund, dass der Staat den Unternehmen hilft. Das eingesetzte Kapital ist verloren, ganz oder teilweise. Scheitern fällt unter das unternehmerische Risiko. Das ist bei Arbeitnehmern anders. Der Staat greift ihnen unter die Arme. Arbeitnehmer verlieren zwar mit dem Arbeitsplatz ihr Humankapital, die einen mehr, andere weniger. Sie haben aber die Chance, nach dem Erwerb neuen marktfähigen Humankapitals in anderen produktiveren Verwendungsarten eingesetzt zu werden. Die Aufgabe des Staates besteht darin, arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer in diesem Prozess der Reallokation zu helfen. Das kann über monetäre Hilfen geschehen, wie dem Arbeitslosengeld oder der Grundsicherung, die im günstigsten Fall als kurzfristige finanzielle Stützen bis zum neuen Arbeitsplatz angelegt sind. Der Staat hilft aber auch mit aktiver Arbeitsmarktpolitik, wie Beratung, Vermittlung und Qualifizierung, Arbeitslose wieder in den regulären Arbeitsprozess einzugliedern. Viel zu erwarten ist davon allerdings nicht. Die leidvolle Erfahrung zeigt, erst der Generationenwechsel entspannt die humankapitaldefizitäre Lage auf den Arbeitsmärkten nachhaltig.

In Zeiten von Corona könnte sich das Muster des Strukturwandels ändern. Bleibt die Seuche dauerhaft, ist ein pandemiegetriebener struktureller Wandel unvermeidlich. Einige Branchen haben in der alten Form keine Zukunft mehr, andere verschwinden ganz. Die Sektorstrukturen verändern sich dauerhaft. Der Grundsatz des „alten“ Strukturwandels bleibt aber: Hilfe für Arbeitslose, keine Rettung von Arbeitsplätzen. Passive und aktive Arbeitsmarktpolitiken sind wirtschaftspolitische Antworten der Reallokation. Es kann aber auch ganz anders kommen. Und dafür spricht viel. Über kurz oder lang verliert die Seuche ihren Schrecken. Die Medizin macht Fortschritte. Individuen lernen mit dem Virus zu leben. Archaische Lockdowns spielen keine Rolle mehr. Auf lokale Ausbrüche wird selektiv und flexibel reagiert. Die Angebotsschocks sind nur temporär. Groß angelegte Rettungsaktionen sind reine Geldverschwendung, von der vor allem Rentenjäger profitieren. Die Politik besinnt sich auf eine Reform der Arbeitsmarktpolitik und gestaltet die Grundsicherung (Hartz IV) anreizverträglich. Und die Tarifpartner springen über ihren organisationspolitischen Schatten und beschleunigen den Prozess der betrieblichen Lohn- und Tarifpolitik.

Fazit

Nach der Finanzkrise konnte man den Eindruck haben, Deutschland sei gegen negative Schocks immun. Der Corona-Schock zeigt, das ist nicht so. Der Lockdown hat Branchen des (personenbezogenen) Dienstleistungssektors ins Mark getroffen. Damit ist ein Hoffnungsträger des inter-sektoralen Strukturwandels ernsthaft in Schwierigkeiten, zumindest temporär. Gleichzeitig ist der industrielle Sektor, das Herz der deutschen Wirtschaft, schwer unter Druck. Das Undenkbare wird denkbar. Ein „süddeutscher Rostgürtel“ ist möglich. Der Niedergang des industriellen Sektors hat aber wenig mit Corona zu tun. Wichtiger ist: In Deutschland hat sich seit langem der inter-sektorale Strukturwandel aufgestaut. Der bricht nun auf. Das „Geschäftsmodell Deutschland“ steht auf tönernen Füßen. Verändertes Ausgabenverhalten von Haushalten und Unternehmen und die internationale Spezialisierung sind die treibenden Kräfte der Erosion. Aber auch die heimische Politik hat ihren Anteil. Sie zerstört das eigene Geschäftsmodell: Der umverteilende und regulierende Sozialstaat wuchert, die Politik kämpft mit vielen Mitteln gegen die Industrie, nicht nur klimapolitischen. Seit dem Ausbruch der Seuche versucht die Politik, mit gigantischen Rettungsschirmen industriepolitisch zu retten, was nicht zu retten ist. Gefragt ist keine „alte“ Strukturpolitik, die überkommene Strukturen konserviert und Rentenjäger begünstigt. Notwendig ist eine „neue“ Politik für den Strukturwandel, „alt“ oder pandemiegetrieben. Offene Güter- und Faktormärkte, ein leistungsorientierter Wettbewerb, mehr privates Unternehmertum, eine betriebliche Lohn- und Tarifpolitik, eine effiziente Arbeitsmarktpolitik und eine anreizkompatible Grundsicherung sind wichtige Zutaten.

6 Antworten auf „Überlebt das „Geschäftsmodell Deutschland“ die Seuche?
Struktureller Wandel, süddeutscher Rostgürtel und private Unternehmer

  1. Die größte Gefahr für Deutschland ist nicht Corona, sondern die Abhängigkeit vom Wachstum. Leute wie Prof. Sinn, der zwar ein hervorragender Analytiker ist, der aber für alle Probleme nur das Rezept „Wachstum“ kennt, haben ausgedient. Wirtschaftsindikatoren wie die Zahl der Neuzulassungen haben ausgedient, denn mehr Autos bedeuten mehr Staus, mehr Abgase, längeres Parkplatzsuchen – das heißt, Wachstum reduziert unsere Lebensqualität. Die Agenda 2010 hat uns Wachstum beschert, aber zu welchen Kosten! Und sie hat genau so funktioniert wie Doping im Sport: nämlich allein dadurch, dass die Konkurrenten nicht ebenfalls „gedopt“ und eine Agenda 2010 durchgezogen hatten. Die Agenda 2010 wie auch die Nullzinspolitik der EZB sind die letzten Versuche, Wachstum zu erzeugen, obwohl die Grenzen des Wachstums längst erreicht sind.

    „nachhaltiges Wachstum und materieller Wohlstand“ sind für die Autor die höchsten Ziele. Ich sehe das anders. Lebensqualität lässt sich nicht in Euro beziffern und wird deshalb immer wieder sträflich vernachlässigt. Der Strukturwandel muss erst mal in den Köpfen stattfinden.

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