De-Industrialisierung ante portas?
Politik für den Strukturwandel statt Strukturpolitik mit der Gießkanne

„Die Förderung einer Branche ist der sicherste Weg, sie zu ruinieren.“ (Raghuram Rajan)

Biontech konzentriert seine Krebsforschung künftig in Großbritannien, Bayer verlagert seine Gentech-Sparte in die USA, die BASF produziert chemische Grundstoffe verstärkt in China und den USA. Tesla baute ein neues Automobil-Werk in Grünheide, Apple baut sein europäisches Designzentrum in München aus, Intel will in Magdeburg in eine neue Chip-Fabrik investieren, wenn die staatliche Kohle stimmt. Das wirft Schlaglichter auf die Dynamik des Strukturwandels. Ausgewogen ist diese Entwicklung allerdings nicht. Das Geschäftsmodell Deutschland steht auf dem Prüfstand. Deutschland ist ein Nachzügler im inter-sektoralen Strukturwandel. Nun ist aber der Prozess der De-Industrialisierung auch hierzulande in Gang gekommen, stärker als manchen lieb ist. Klimapolitik und Energiekrise beschleunigen die Entwicklung. Die Politik kann den Niedergang der „alten“, oft energieintensiven Industrien nicht aufhalten, auch nicht mit einer Industriepolitik mit der Gießkanne. Es wird ihr aber auch nicht gelingen, „neue“, zukunftsträchtige Branchen mit Subventionen dauerhaft nach Deutschland zu locken. Die Politik maßt sich ein Wissen an, das sie nicht hat. Sie wird scheitern. Helfen kann nur eine allgemeine, diskriminierungsfreie Angebotspolitik. Der Strukturwandel wird zeitlich asynchron verlaufen. Das wird wirtschaftliche, regionale und soziale Probleme machen. Deutschland hat erheblichen Nachholbedarf. Der industrielle Sektor ist zu groß, der dienstleistungsintensive zu klein, grob gesprochen. Das Dilemma ist: Die industriellen Verluste werden zügig eintreten, die möglichen Gewinne bei den Dienstleistungen aber erst zeitverzögert anfallen. Deutschland ist in einer misslichen Situation.

Einmaleins des Strukturwandels

Der strukturelle Wandel ist allgegenwärtig. Mal ist er schneller, mal langsamer. Unternehmen kommen und gehen. Das ist in einer funktionierenden Marktwirtschaft normal. Zukunftsträchtige Unternehmen prosperieren, weniger produktive verschwinden. Aber auch „alte“ Branchen, wie der Agrar- und Industriesektor, schrumpfen, „neue“ dienstleistungsintensivere Sektoren wachsen. In den Sektoren gibt es „bessere“ und „schlechtere“ Unternehmen. Die „besseren“ schaffen neuen Wohlstand, „schlechtere“ schrumpfen ihn. Mit den Unternehmen kommen und gehen auch die Arbeitsplätze. Arbeitskräfte verlieren sie in niedergehenden Unternehmen, in wachsenden Firmen suchen sie eine neue Beschäftigung. Wenn alles gut geht, wandern Arbeit und Kapital (möglichst schnell) in produktivere Verwendungen. Strukturwandel ist ein Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ (Joseph A. Schumpeter). „Altes“ verschwindet, „Neues“ entsteht. Der strukturelle Wandel ist allerdings janusköpfig. Er ist zweifellos ein starker Motor des wirtschaftlichen Wachstums und materiellen Wohlstandes. Das ist die positive Seite des Strukturwandels. Der Verlust von Arbeitsplätzen, aber auch von Human- und Realkapital in den schrumpfenden Branchen ist die andere, negative Seite der Medaille. Vor allem einfache Arbeit verliert.

Was treibt den Strukturwandel? Ist er marktgetrieben oder politikgemacht? Die Antwort ist: Er ist beides. Er ist einerseits marktgetrieben, weil wirtschaftliche Akteure ihre Präferenzen ändern, neue Technologien implementieren und auf veränderte relative Preise reagieren. Demographie und Digitalisierung fallen in diese Kategorie. Beide sind primär marktgetrieben. Mit steigendem Wohlstand fragen Haushalte und Unternehmen mehr Dienstleistungen nach, die Haushalte als Endprodukte, die Unternehmen als Zwischenprodukte (hier). Der industrielle Sektor verliert, der Sektor der Dienstleistungen gewinnt. (Weltweit) offenere Märkte (Globalisierung) beschleunigen den Strukturwandel. Eine schleichende De-Industrialisierung ist das Ergebnis wachsenden Wohlstandes, veränderter Präferenzen und neuer Technologien. Es gibt allerdings keine „optimale“ Industriequote. Haushalte und Unternehmen tragen mit ihren individuellen Entscheidungen mit dazu bei, wie hoch der Industrieanteil ausfällt. Politische Entscheidungen tun allerdings ein Übriges. Deutschland ist ein Nachzügler unter den reichen Ländern der Welt. Sein industrieller Sektor ist nach wie vor größer als anderswo. So oder so, Deutschland steht ein Prozess der De-Industrialisierung bevor, unabhängig von allen klimapolitischen Entscheidungen der Transformation.

Der Strukturwandel ist auch politikgetrieben. Mit Regulierungen und Subventionen stellt die Politik oft die Weichen für den strukturellen Wandel. Bis vor kurzem wurde Deutschland vorgeworfen, mit Lohndumping „strukturellen Merkantilismus“ (Martin Wolf) zu betreiben. Überschüsse in der Leistungsbilanz dienten als Indiz. Von Lohndumping konnte aber keine Rede sein. Die deutsche Lohnpolitik war nur stärker produktivitätsorientiert als anderswo. Zusammen mit einem schwachen Euro begünstigte das die Wettbewerbsfähigkeit des industriellen Sektors. Er blieb international außergewöhnlich groß. Die Entwicklung hat sich allerdings gedreht. Eine effizienzverschlingende Politik der Dekarbonisierung („dümmste Energiepolitik der Welt“, WSJ), die wachsende gesellschaftliche Abneigung gegen Innovationen, aber auch Tendenzen der De-Globalisierung setzen dem „Geschäftsmodell Deutschland“ schwer zu. Mit einer falschen Schrittfolge in der Energiepolitik – klimafreundliche atomare Energiequellen werden abgeschaltet bevor flatterhafte Erneuerbare von Nord nach Süd tranferierbar und effizient speicherbar sind – und einer ineffizienten Mittelwahl – Ordnungsrecht statt Emissionshandel – wird ein tragender Pfeiler des Geschäftsmodells Deutschland mutwillig eingerissen. Das ist auch deshalb unverständlich, weil man damit dem weltweiten 1,5 %-Ziel der Klimapolitik keinen Schritt näher kommt.

Unternehmer und Strukturwandel

Strukturwandel ist immer ein Prozess der „schöpferischen Zerstörung“. Altes verschwindet, neues entsteht. Knappe Ressourcen werden produktiver eingesetzt. Das hilft Wohlstand und Wachstum. „Schöpferische Zerstörung“ ist das „Dienstmädchen des wirtschaftlichen Wachstums“ (Joseph A. Schumpeter). „Alte“ Sektoren verschwinden nicht von heute auf morgen. Es ist oft ein langer Prozess des Siechtums. Ökonomische Schocks, wie etwa durch Kriege verursachte Energiepreiskrisen, oder politische Schocks, wie eine forcierte Politik der Dekarbonisierung, können den Prozess beschleunigen. Ketchup-Effekte des Strukturwandels werden möglich. Auch „neue“ Branchen mit zukunftsträchtigen Gütern entstehen nicht von heute auf morgen. Neue Produkte, neue Verfahren, neue Organisationen kommen nicht aus dem Nichts. Forscher entwickeln mühsam Neues, Arbeitnehmer investieren in Humankapital, Unternehmen setzen das Neue auf Märkten um. Alles zusammen wirkt (manchmal) innovativ. Die treibende Kraft des Strukturwandels sind private Unternehmer. Sie sind Spezialisten für die Zukunft, die Trüffelschweine der Marktwirtschaft. Dabei gehen sie oft (erhebliche) Risiken ein, meist scheitern sie. Ein adäquater Ordnungsrahmen für privates Unternehmertum (hier) verringert die Risiken und erleichtert den Strukturwandel.

Wie reibungslos der Strukturwandel verläuft, hängt davon ab, wie gleichzeitig das Ungleichzeitige abläuft. Viel wäre gewonnen, wenn Sektoren ähnlich schnell schrumpfen und wachsen. Die Kosten der Transformation wären aber auch dann nicht Null, weil weder Qualifikationen noch Regionen oft nicht passen. Langfristig wächst der Wohlstand vor allem, wenn es gelingt, möglichst viel innovative Unternehmen und zukunftsträchtige Branchen zu haben. Damit kommt es entscheidend auf private Unternehmer an. Sind sie vital, geht es aufwärts; sind sie sklerotisiert, geht es abwärts. In reichen Ländern wird ihnen immer öfter die Vitalität abgesprochen. Sie seien bloß Trittbrettfahrer staatlich finanzierter Forschung und Entwicklung; sie agierten zu kurzsichtig und scheuten große Risiken; es fehlten die „Sputnik“-Momente. Damit würde es nichts mit Innovationen (Mariana Mazzucato). Oft seien die Politiker die besseren Unternehmer. Industriepolitisch sehr aktive Länder würden schneller wachsen. Das ist Unfug. Die eigentliche Schwierigkeit ist und bleibt das Wissensproblem. Politische Unternehmer sind privaten unterlegen (hier). „Weiche“ Budgetrestriktionen, Ressourcenentzug an anderer Stelle und „rent seeking“ sind weitere Schwachstellen. Die Industriepolitik leidet weiter unter dem MITI-Syndrom: Sie ist entweder irrelevant oder kontraproduktiv.

Die Politik kennt die Untiefen staatlicher Industriepolitik. Das gilt auch für Robert Habeck, dem gegenwärtigen Wirtschaftsminister. Einerseits setzt er auf Verbote beim Verbrenner und fossil betriebenen Heizungen. Andererseits weiß er aber auch (hoffe ich zumindest), dass sich das industriepolitische Wissensproblem nicht politisch lösen lässt. Dafür braucht er private Unternehmer. Um sie zu bewegen, aktiv zu werden, muss die Politik mehr Anreize schaffen, regulativ und monetär. Das geschieht anreizkompatibel am besten über eine umfassende Angebotspolitik. Das „Patent“ auf diese Art von Politik hat aber (theoretisch) die FDP. Die Grünen haben damit wenig am Hut. Sie haben nach wie vor eine Vorliebe für industriepolitische Planwirtschaft. Damit sind sie der (industrieaffinen) SPD nicht unähnlich. Der Wirtschaftsminister ist deshalb auf die Idee verfallen, eine „transformative“ Angebotspolitik auf den Weg zu bringen. Tatsächlich ist sein Vorschlag aber Etikettenschwindel. Es handelt sich nicht um eine für alle gültige, nicht diskriminierende, sondern um eine planwirtschaftlich gelenkte „Angebotspolitik“. Für einige „zukunftsträchtige“ Branchen, Technologien und Unternehmen sollen bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden, für andere allerdings nicht. Damit läuft diese Art von „Angebotspolitik“, wie jede lenkende Industriepolitik, auf eine Anmaßung von Wissen hinaus. Subventionen pflastern ihren Weg.

Politik und Subventionen

Der Strukturwandel schafft nicht nur „Neues“, er zerstört auch „Altes“. Er ist für viele Unternehmen in „alten“ Branchen ein Kampf ums Überleben. Dabei ist ihnen oft jede staatliche Hilfe recht. Die Politik gewährt diese Hilfe auch. Arbeitsplätze sind gefährdet, Wählerstimmen stehen auf dem Spiel. Die Fälle sind Legion. Eine Bremse für Industriestrompreise ist die neuste Variante. Sie soll energieintensiven Unternehmen solange finanziell unter die Arme greifen, bis billigere erneuerbare Energien zur Verfügung stehen. Damit will man verhindern, dass energieintensive Unternehmen in Branchen, wie etwa Stahl, Glas und Chemie, in großem Stil in Länder mit niedrigeren Energiepreisen abwandern. Eine solche Subventionspolitik mit der Gießkanne wird das aber nicht schaffen. Der Strukturwandel lässt sich so nicht aufhalten. Die anhaltend „dumme“ deutsche Energiepolitik wird die Energiepreise hierzulande noch lange hoch halten. Wärmepumpen und E-Mobilität werden die Nachfrage treiben, der Abbau von Kernkraft und Kohle das Angebot verringern. Wie sollen da die Preise für Energie absehbar sinken. Das Gegenteil ist richtig. Und eine Strompreisbremse ist teuer. Mitnahmeeffekte, geringere Investitionen in energieeffiziente neue Technologien, höhere Lasten für Bürger und andere Unternehmen schlagen zu Buche. Die Unternehmen werden das staatliche Geld nehmen und trotzdem über kurz oder lang verschwinden.

Diese „defensive“ Subventionspolitik hat immer Konjunktur. Die Pandemie trieb, der Ukraine-Krieg treibt weiter. Die Politik versucht, den Strukturwandel zu bremsen. Wummse, Doppelwummse, Gaskosten- und Strompreisbremsen sind Instrumente. Der Strukturwandel soll verlangsamt werden. Das ist bei der „offensiven“ Subventionspolitik anders. Mit ihr soll der Strukturwandel beschleunigt werden. Die eine Variante setzt darauf, „zukunftsträchtige“ Technologien, Unternehmen und Branchen zu fördern. Im Erfolgsfall werden im Inland hohe Renten geschaffen, aus dem Ausland werden Renten ins Inland umgeleitet. Diese Art der Industriepolitik ist allerdings störanfällig: Das Wissensproblem ist nicht gelöst, das Ausland kann zurückschlagen, Subventionswettläufe drohen. Die andere Variante offensiver Subventionspolitik ist klimapolitisch motiviert. Energieintensive, klimaschädliche Branchen sollen möglichst schnell verschwinden. Die freigesetzten Ressourcen werden für die zukunftsträchtigen Sektoren benötigt. Das sei umso wichtiger, weil der demographische Wandel einen Mangel an Arbeit produziert. Die Instrumente der „Klimapeitsche“ sind vielfältig. Emissionszertifikate, Umlagen und Verbote zählen dazu. Stetig steigende Preise für Emissionszertifikate beschleunigen den Strukturwandel, allerdings eher geordnet. Verbote von Technologien (Öl- und Gasheizungen; Verbrenner; Kernkraft) und Gebote (Dämmungen) sind dagegen Klimapolitik mit der Brechstange. Der strukturelle Wandel wird schockartig beschleunigt. Entsprechend hoch sind die Friktionen für Arbeitnehmer und Unternehmen.

Das polit-ökonomische Kalkül der Politiker führt zu einer bizarren Strukturpolitik. Es ist eine Politik des Bremsens und Gasgebens, gleichzeitig. Eine „defensive“ Subventionspolitik verlangsamt den Strukturwandel, eine „offensive“ Subventionspolitik beschleunigt ihn. Die Energiepolitik verdeutlicht das Problem. So forcieren etwa Subvention für Wärmepumpen, Photovoltaik und Windenergie den sektoralen Strukturwandel. Die Verbote von fossil betriebenen Heizungen und Verbrenner-Motoren verstärken diese Entwicklung. Dagegen konservieren Gaskosten- und Strompreisbremsen energieintensive sektorale Strukturen. Sie stützen den Verbrauch fossiler Energien und verringern die Anreize, in energieeffiziente neue Technologien zu investieren. Die Effizienzverluste von Bremsen und Gasgeben sind erheblich: Die fehlende Technologieoffenheit der „offensiven“ Subventionspolitik ist kostspielig. Sie schafft effizienzverschlingende Pfadabhängigkeiten. Auch die konservierende „defensive“ Subventionspolitik kostet wirtschaftlichen Wohlstand. Knappe Ressourcen werden zu lange in schlechten Verwendungsarten gefangen gehalten. Und noch etwas wird offenkundig. Diese Art von Politik begünstigt staatliche Interventionsspiralen. Die Politik verbietet etwa die Kernkraft. Das Energieangebot sinkt, die Preise steigen. Energieintensive Sektoren kommen in Schwierigkeiten. Eine weitere Intervention soll ihnen helfen, eine Industriestrompreisbremse. Die Energiepolitik hat offensichtlich die Orientierung verloren (Clemens Fuest).

Politik für den Strukturwandel

Die Strukturpolitik alter Schule, hat die Zukunft hinter sich. Wirtschaftliche Strukturen sind ständig im Fluss. „Altes“ verschwindet, „Neues“ kommt. Es ist sinnlos, alte sektorale Strukturen, die dem Untergang geweiht sind, koste es was es wolle zu erhalten. Das gelingt weder mit finanzieller noch regulativer Hilfe des Staates. Und es ist kostspielig, diskriminiert und befördert „rent seeking“. Außer Spesen ist oft nichts gewesen. Es ist aber auch riskant, auf neue sektorale Strukturen zu setzen, von denen Politik und Bürokratie meinen, sie seien „zukunftsträchtig“. Nicht-Markt-Akteure maßen sich ein Wissen an, das sie nicht haben. Politiker und Bürokraten sind nicht die besseren Unternehmer. Sowohl „defensive“ als „offensive“ Industriepolitiken verändern das Anreizsystem. Sie schaffen Anreize für Unternehmen, weniger auf wohlfahrtssteigernde ökonomische Renten zu setzen und nach wohlfahrtsmindernden politischen Renten zu jagen. Notwendig ist keine traditionelle Strukturpolitik, sondern eine Politik für den Strukturwandel. Die Aufgabe der Politik besteht nicht in kostspieliger Industrie-, sondern in effizienter Standortpolitik. Das geht nicht ohne einen adäquaten ordnungspolitischen Rahmen. Eine Angebotspolitik für alle, nicht nur für einige wenige, wie es die transformative Angebotspolitik eines Robert Habeck will, ist der richtige Weg.

Strukturwandel laufen lassen, Standort attraktiver gestalten und Friktionen sozial abfedern. Das sind die Regeln einer effizienten und gerechten Politik für den Strukturwandel. Das „A und O“ eines funktionierenden Strukturwandels sind offene Märkte, national und weltweit. Eine sinnvolle Angebotspolitik dereguliert, privatisiert und entbürokratisiert auf nationaler Ebene. Sie setzt weltweit möglichst multilateral auf offene Märkte. Nur so kann es gelingen, die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zu nutzen. Das wieder modisch gewordene „near- und friendshoring“ des Kalten Krieges ist internationale Arbeitsteilung 2. Klasse. Wichtiger ist es, Anreize für qualifizierte Zuwanderung zu schaffen. Das lockt produktive Talente an. Es funktioniert allerdings nur in einer toleranten Gesellschaft. Daran mangelt es. Und das Inland muss auch wieder attraktiver für internationales Kapital werden. Die Chancen auf den Zustrom neuer Technologien würden steigen. Steuern und Regulierungen sind das eine, qualifizierte Arbeitnehmer das andere. Auf effizienzverschlingende Subventionswettläufe nationaler Industriepolitiken sollte man besser nicht setzen, auf mehr staatliche Investitionen in Bildung und Grundlagenforschung dagegen schon. Ein besseres Klima für privates Unternehmertum würde ebenfalls nützen. Die Aussicht auf mehr Wohlstand würde steigen, ein schnellerer struktureller Wandel wäre allerdings unvermeidlich.

Der Strukturwandel ist kein Zuckerschlecken, vor allem dann nicht, wenn sich bestehende inter-sektorale Strukturen auflösen, wie gegenwärtig. Ein Prozess der De-Industrialisierung ist mit Friktionen verbunden. Sie sozial abzufedern ist Aufgabe des (Sozial) Staates. Arbeit und Kapital im industriellen Sektor werden mit Lasten konfrontiert. Verluste an Realkapital sind unternehmerische Risiken. Staatlicher Hilfe bedarf es im Regelfall nicht (hier). Eine Ausnahme kann der Schutz kritischer Infrastruktur sein. Das ist bei entlassungsbedingten Verlusten an Humankapital anders. Hier sind staatliche Hilfen angesagt. Dabei sollte das Prinzip gelten: Nicht Unternehmen sollen geschützt werden, der Schutz der Menschen soll im Mittelpunkt stehen. Es geht nicht darum, industrielle Arbeitsplätze zu retten, es geht um staatliche Hilfen für Arbeitslose. Zuständig dafür ist der Sozialstaat. Notfall-Hilfe ist ein Element. Dafür sollten vor allem (versicherungsadäquate) Arbeitslosenversicherungen und (anreizkompatible) Grundsicherungen sorgen. Die Hilfe zur Selbsthilfe ist ein zweites Element. Eine effiziente aktive Arbeitsmarktpolitik (Beratung, Vermittlung, Qualifizierung) zählt ebenso dazu, wie klug konzipierte finanzielle Hilfen für flexible Einstiegslöhne von Arbeitslosen und eine wirksame Förderung der (beruflichen, sektoralen und regionalen) Mobilität.

Fazit

Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst der De-Industrialisierung. Deutschland ist ein Nachzügler im inter-sektoralen Strukturwandel. Das wird sich ändern. Wohlstand, Demographie und Digitalisierung treiben unerbittlich, hohe Energiepreise und die „weltweit dümmste“ (Energie)Politik erhöhen das Tempo noch. „Alte“, energieintensive Branchen werden (zu) schnell abgewrackt. Am weltweiten CO2-Ausstoß ändert das allerdings (fast) nichts. Der Preis, den Deutschland zahlen muss, ist hoch. Bisweilen hat man den Eindruck, die Ampel-Politik will das deutsche Geschäftsmodell möglichst schnell loswerden. Immer neue standortfeindliche Auflagen und Verbote setzen ihm zu. Da hilft auch keine camouflierende Strompreisbremse. Sie ist ein weiteres Element einer effizienzverschlingenden Interventionsspirale. Besser wäre es, den energiepolitischen Unfug zu lassen und auf einen Zertifikatehandel zu setzen, der möglichst viele Sektoren und Länder umfasst. Das ist aber nicht zu erwarten. Und die nächsten Fehler werden schon gemacht. Die Politiker glauben immer öfter, sie seien die besseren Unternehmer. „Neue“ zukunftsträchtige Technologien, Unternehmen und Branchen werden ausgeguckt und subventioniert. Auch diese Strategie wird scheitern.  Die „transformative Angebotspolitik“ ist Etikettenschwindel. Es ist falsch, eine staatlich gelenkte Angebotspolitik zu fahren, die nur auf einige Technologien, Unternehmen und Branchen setzt. Notwendig sind bessere, diskriminierungsfreie Rahmenbedingungen für alle und alles sowie ein anreizkompatibler sozialer Schutz der Arbeitnehmer vor den Friktionen im Strukturwandel. Der unvermeidliche Prozess der Transformation (Strukturwandel) würde in geregelteren Bahnen ablaufen, ohne heute wirtschaftlich alles kurz und klein zu schlagen und insgeheim auf einen Systemwechsel zu setzen.

Podcast zum Thema:

Deutsche Industrie unter Druck. Was ist die richtige Politik für den Strukturwandel?

Prof. Dr. Norbert Berthold (Julius- Maximilians-Universität Würzburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Oliver Holtemöller (Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Blog-Beiträge zum Thema:

Joachim Ragnitz (Ifo): Deutschland und die Zeitenwende. Strukturwandel fördern, nicht verhindern!

Norbert Berthold (JMU): Strukturwandel, Organisationsgrade und Tarifverträge. Sind betriebliche Bündnisse für Arbeit die tarifpolitische Zukunft?

Norbert Berthold (JMU): Strukturwandel (1). Schöpferische Zerstörung überall!? Treiber, Optionen und Populisten

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