Gastbeitrag
Warum ist die Bundesregierung so nachgiebig im Umgang mit Russland?

Der Konflikt mit Russland droht die außergewöhnlich friedliche Phase in Europa zu beenden. Verwunderlich ist daher, wie bedeckt sich die deutschen Politiker halten.

Der Beitrag vom 20. Januar 2022 ist auch heute – am Tag nach dem russischen Überfall der Ukraine – noch sehr lesenswert (NB).

Wer im Kalten Krieg aufgewachsen ist und die Jahrzehnte der Aufrüstung mit Phasen gegenseitiger Bedrohungen erlebt hat, kann sich nun bewusst darüber werden, wie besonders die vergangenen dreißig Jahre verlaufen sind. Wir haben seit 1990 in einer – für europäische Verhältnisse der letzten 300 Jahre – außergewöhnlich friedlichen Phase gelebt. Dieser Frieden scheint gerade in Gefahr zu geraten. Auf einmal fahren wieder Panzer an europäischen Grenzen auf und bedrohen russische Politiker ihre europäischen Nachbarn verbal.

Vor diesem Hintergrund kann man sich nur wundern, wie entspannt die meisten deutschen Politiker angesichts der wohl größten Bedrohung für den Frieden auf dem europäischen Kontinent seit dem Jugoslawien-Krieg auftreten.

Während die russische Armee an der ukrainischen Grenze ihre Kräfte weiter massiert und die russische Regierung von dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO) sowie von Finnland und Schweden weiterhin Unmögliches verlangt, hält sich die Bundesregierung – mit Ausnahme der Außenministerin – seltsam bedeckt. Man hört vornehmlich aus den Reihen der Sozialdemokraten (SPD) Beschwichtigungsphrasen und Ermahnungen, die russischen Befindlichkeiten nicht zu stören; so soll auf keinen Fall durch die Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine eine Provokation Russlands erfolgen. Mit wenigen Ausnahmen scheinen sie den Aufmarsch von etwa 100.000 russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine für völlig normal und nicht weiter beanstandungswürdig zu halten.

Traditionell argumentiert die Linkspartei ähnlich. Völlig überraschend ist außerdem die Aussage von Friedrich Merz, des designierten Vorsitzenden der Christdemokraten (CDU), dass Russland nicht aus dem internationalen Abrechnungssystem SWIFT ausgeschlossen werden dürfe, sollte es die Ukraine überfallen. Zu groß und negativ wären die Konsequenzen für das internationale Finanzsystem und für die deutsche Exportwirtschaft. Selbst die fortgesetzte Belieferung Deutschlands durch russisches Gas mittels der neuen Nord-Stream-2-Pipeline nach einem Überfall wird in diesem Zusammenhang nicht vollständig ausgeschlossen. Immerhin hat Bundeskanzler Scholz in den vergangenen Tagen angedeutet, dass die Nutzung der Pipeline ausgesetzt werden könnte.

Reicht das Kostenargument aus, um ein Appeasement zu begründen? Wird Wladimir Putin, für den der Zerfall der Sowjetunion eine der größten Katastrophen der Geschichte der Menschheit war, sich von Rücksichtnahme auf die ‚russische Seele‘ beruhigen lassen? Glauben die Politiker wirklich, dass die russische Regierung ohne eine klare Strategie auftritt? Muss man nicht eher davon ausgehen, dass die russische Regierung die deutschen Befindlichkeiten längst in ihrem Verhalten berücksichtigt hat? Das führt zu der verstörenden Frage, ob die Deutschen aus der Geschichte nicht gelernt haben?

Vermutlich sind die Konsequenzen eines Ausschlusses Russlands aus SWIFT für die deutsche Wirtschaft tatsächlich sehr negativ, zumindest in der kurzen Frist. Und die Festlegung der Bundesregierung (und ihrer Vorgängerregierung), auf Gas als Übergangstechnologie in der Transformation von fossiler auf erneuerbare Energie macht es teuer, auf russisches Gas zu verzichten. Zumal als Antwort auf eine Sanktion aus dem Westen vermutlich ein kurzfristiger Boykott der Gaslieferungen von russischer Seite nicht unwahrscheinlich wäre; in der mittleren Frist dürfte die russische Regierung auf die Gaseinnahmen angewiesen sein.

Das reicht aber nicht aus, vage und zögerlich zu agieren. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es für die deutsche Wirtschaft erheblich teurer werden würde, käme es zum Krieg in der Ukraine. Dann wäre nicht nur das Verhältnis der beiden Länder betroffen, unter anderem mit dem Ausfall von Gaslieferungen, verringerten Exporterlösen und Störungen des internationalen Zahlungsverkehrs. Auch die politische Lage auf dem Kontinent würde verworrener. Langfristig sind weit höhere Kosten als Störungen eines internationalen Abrechnungssystems zu erwarten. Hätte Russland den Krieg dann sogar ohne nennenswerte Kosten geführt, weil die Deutschen sich nicht klar äußerten und die Sanktionen insgesamt eher lax ausfielen, könnte die Regierung dies als Einladung betrachten, die Aggressionen auf das Baltikum oder Polen auszudehnen. Die Stabilität des Kontinents wäre dadurch erheblich gefährdet.

Zusätzlich dürfte die zögerliche Haltung der Bundesregierung gegenüber dem aggressiven russischen Auftreten die Verbündeten noch weiter verprellen. Das Beharren auf Inbetriebnahme von Nord Stream 2 (weil es ein rein wirtschaftliches Projekt sei) hat bereits heute für Verstimmung gesorgt. Weiteres Zögern wird die Bereitschaft der Partner, im Falle der Zuspitzung des Konflikts den deutschen Energiehunger zu stillen, eher noch reduzieren.

Vor diesem Hintergrund wird es Zeit, eine klarere Haltung zu entwickeln und keinen Zweifel daran zu lassen, dass ein Krieg in der Ukraine für die russische Seite mit harten und teuren Sanktionen verbunden ist. Die Sanktionsandrohungen der NATO-Partner sollten nicht länger durch deutsche Politiker verwässert werden. Das ist nicht nur im Interesse der Ukraine, sondern auch in unserem Interesse.

Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich, dass es strategisch unklug ist, drängende Probleme jeweils isoliert zu betrachten. Unsere Energieversorgung, die Sicherheitslage der Ukraine und der Klimaschutz scheinen weit stärker verwoben zu sein, als es in Berlin wahrgenommen beziehungsweise anerkannt wird. Mit dem Versuch der radikalen Lösung des Klimaproblems – Abschaltung aller konventionellen Kraftwerke möglichst schnell – trägt die Bundesregierung unter Umständen zu einer instabilen Sicherheitslage in Europa genauso bei wie zu Störungen der Energieversorgung hierzulande. Letztere wiederum können Aggressoren ermutigen und zu Streit innerhalb des westlichen Bündnisses führen.

Insofern könnte sich die voreilige Festlegung der Bundesregierung auf einen sehr schnellen Atomausstieg in zweierlei Hinsicht nachteilig auswirken. Zum Ersten haben sich die Deutschen insofern angreifbar gemacht, als dass sie zumindest vorübergehend besonders abhängig vom Gas zu sein scheinen. Zum Zweiten könnte der Ausstieg von der russischen Regierung als ein Signal dahingehend aufgefasst worden sein, dass die Bundesregierung russischen Aggressionen gegenüber unentschlossen auftreten würde. Ob es so ist, wird man wohl nicht erfahren. Man sagt der russischen Regierung aber nach, immer das Gesamtbild im Auge zu behalten. Das sollte sich die Bundesregierung zum Vorbild nehmen.

Hinweis: Der Beitrag erschien am 20. Januar 2022 in der Online-Ausgabe der Wirtschaftswoche.

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold: Russland fordert die NATO heraus. Wie glaubwürdig sind Sanktionsdrohungen?

4 Antworten auf „Gastbeitrag
Warum ist die Bundesregierung so nachgiebig im Umgang mit Russland?“

  1. Leider nicht nur ein Alptraum

    Trotz mancher nachdenklich stimmender Argumente aus der ökonomischen Sanktionsdebatte und den oft in den Vordergrund gerückten Ineffizienzen dieses Instruments, trifft Andreas Freytag mit seinem Beitrag insgesamt klar „ins Schwarze“. Per Saldo sind seine Schlussfolgerungen überzeugend, wenn er etwa feststellt: „Die Sanktionsandrohungen der NATO-Partner sollten nicht länger durch deutsche Politiker verwässert werden. Das ist nicht nur im Interesse der Ukraine, sondern auch in unserem Interesse.“

    Pointierter als normalerweise in diesem Medium üblich hat sich heute ein Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenfalls zu der Problematik geäußert: „Wer Sanktionen von vornherein defätistisch als unsinnig und wirkungslos deklariert, sollte lieber Tretboot auf der Spree fahren.“ (https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/verteidigungspolitik-und-ukraine-deutschlands-strategischen-defizite-17830797.html#void).

    Trotz der eingängigen saloppen Formulierung ergänzt Gerald Braunberger in seinem Analysepart den lesenswerten Beitrag oben noch um einige weitere bedenkliche strategische Schwächen deutscher Politik, etwa durch Hinweisen zu eklatanten Mängeln bei der Ausrüstung der deutschen Streitkräfte.

    Nicht gerade wenige auffällige Mängel müssten folglich schnellstmöglich behoben werden, deren Ursache allzu oft in fahrlässig erscheinendem Überoptimismus zu liegen scheinen. Gelingt dies nicht zügig, stecken wir in Europa bald in einem noch schlimmeren Alptraum, als es schon jetzt der Fall ist.

  2. Die letzten 3 Atomkraftwerke sollen noch in diesem Jahr abgeschaltet werden und auch der mit Merkels Zustimmung an Russland verkaufte Gasspeicher steht nicht in der Diskussion. Desweiteren fehlt mir eine Diskussion wie man gewillt ist eine Ukrainische Widerstandsbewegung nach der Übernahme der Ukraine durch Russland zu unterstützen. Auch der Zustand der Bundeswehr wird nicht diskutiert. Mir scheint, dass zwar die Stunde der Wahrheit gekommen ist, aber dass die neue Regierung der Herausforderung gewachsen ist, sehe ich noch nicht. Scholz, als Merkelnachfolger und gelehriger Merkelschüler, müsste sich neu erfinden und die meisten der hiesigen Politiker mit ihm. Übrigens, die AfD und die Linkspartei, ganz besonders. Eventuell sieht man bei den Grünen die Chance, die ein deutsches Umsteuern haben könnte. Ob auch eine Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke um vlt 5 Jahren dazu gehören würde? Nun, wir werden es sehen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert