Zum Niedergang der „monetären Analyse“ in der geldpolitischen Strategie des Eurosystems

Im Zuge der Neuausrichtung seiner geldpolitischen Strategie hatte der EZB-Rat im Sommer 2021 beschlossen, geldpolitische Entscheidungen künftig auf Grundlage zweier ineinandergreifender Analysen zutreffen, nämlich einer „wirtschaftlichen“ und einer „monetären und finanziellen Analyse“. Damit verbleibt der EZB-Rat zwar nominell in der Tradition seiner „Zwei-Säulen-Strategie“; allerdings setzt er inzwischen die Schwerpunkte völlig neu, und es hat den Anschein, dass die Geldmengenentwicklung in die Rolle einer Nebendarstellerin im geldpolitischen Entscheidungsprozess gedrängt wird. In den „Monetary policy statements“ zu Beginn der EZB-Pressekonferenzen wird die Geldmenge jetzt kaum noch erwähnt.

Dies irritiert jene, die in der QE-Politik der letzten Jahre eine wesentliche Ursache für den jetzigen Inflationsanstieg sehen. Tatsächlich belegt der Augenschein, dass dem jüngsten Anstieg der Inflationsraten eine beträchtliche Beschleunigung im Wachstum der Geldmenge M3 vorausgegangen war (Abbildung 1). Auch die Inflationsdynamik in der Periode 2007 bis 2015 folgt augenscheinlich dem vorherigen M3-Wachstum, das zunächst auf 12% p.a. angestiegen war und dann auf null Prozent abgesenkt wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint die Rückstufung der monetären Analyse erklärungsbedürftig, und eine Einschätzung ist notwendig, was davon zu halten ist.

Rückblick

Anfänglich spielte die Geldmenge in der geldpolitischen Strategie des Eurosystems eine „herausragende Rolle“, die sich in der Ankündigung eines Referenzwertes (von 4,5% p.a.) für das jährliche M3-Wachstum zeigte. Damit trug das Eurosystem der Tatsache Rechnung, dass „Inflation mittel- bis langfristig ein monetäres Phänomen ist“ und Preissteigerungen in der Regel „eng verknüpft (sind) mit Wachstumsraten der Geldmengen, die über die mittelfristigen realen Wachstumsmöglichkeiten der Wirtschaft hinausgehen“ (Europäische Zentralbank, 1999). Wenngleich temporäre Abweichungen vom Referenzwert keine automatische geldpolitische Reaktion erforderten (sofern sie auf Sonderfaktoren beruhten), hatte das M3-Wachstum den Stellenwert einer geldpolitischen Steuerungsgröße, die mittelfristig am Referenzwert liegen sollte. Zwar können kurzfristige Schocks die Prognoseeigenschaft der Geldmenge für die Preisentwicklung beeinträchtigen, weil sie direkt auf das Preisniveau einwirken. Solche Faktoren beurteilte der EZB-Rat im Rahmen der „wirtschaftlichen Analyse“, die neben der Geldmengenentwicklung die „zweite Säule“ des Analysekonzepts des Eurosystems bildete.

Der Bedeutungsverlust der Geldmenge begann mit der ersten Überprüfung der geldpolitischen Strategie im Mai 2003, als das M3-Wachstum zu einer Indikatorvariable wurde, die Informationen über künftige Preisrisiken lieferte, aber keine geldpolitische Reaktion mehr auslöste. Zudem wurde die „wirtschaftliche Analyse“ zur ersten Säule und um durch eine Vielzahl von Indikatoren ergänzt, die der Feststellung von kurz- und mittelfristigen Preisrisiken dienten. Die „monetäre Analyse“ wurde zur zweiten Säule und diente der Einschätzung des mittel- und langfristigen Inflationstrends. Dabei wurde das M3-Wachstum um zusätzliche Indikatoren ergänzt, die den Geldschöpfungsprozess beschreiben, insbesondere um die Kreditvergabe durch Geschäftsbanken. Konsequenterweise beendete der EZB-Rat die jährliche Überprüfung des Referenzwertes, der heute keine Rolle mehr spielt (Holm-Hadulla, 2021).

Mit der Neuankündigung der geldpolitischen Strategie im Sommer 2021wurden die Inhalte der zweiten Säule um einen Kanon an finanziellen Indikatoren erweitert. Konsequenterweise spricht der EZB-Rat seither von der „monetären und finanziellen Analyse“. Die finanzielle Analyse enthält Indikatoren, die es erlauben, Risiken für die Finanzmarktstabilität einzuschätzen, welche die geldpolitische Transmission durch den Bankensektor beeinträchtigen. Die monetäre Analyse befasst sich vor allem mit den Übertragungsmechanismen der Geldpolitik; die Geldmengenentwicklung spielt darin keine Rolle mehr.

Gründe für den Strategiewandel – zur Relevanz der Quantitätstheorie

Begründet wird der Niedergang der Geldmenge als Prognoseinstrument mit einem Bedeutungsverlust des Geldmengen-Preis-Mechanismus. Bereits zu Beginn der Währungsunion zeigte sich ein geringer Informationsgehalt des Geldmengenwachstums für die Inflationsrate in der kurzen Frist; allerdings galt die monetäre „Grunddynamik“ weiterhin als erklärungsrelevant für die langfristige Preisentwicklung. Auch dies wird inzwischen mit Verweis auf empirische Studien bezweifelt, die auch langfristig auf einen „abgeschwächten“ empirischen Zusammenhang zwischen der Geldmengenentwicklung und der Inflationsrate hindeuten (Überblick bei Deutsche Bundesbank, 2023).

Allerdings sind die Ergebnisse nicht eindeutig. Vielmehr bestätigen Teles et al. (2016) in einer Querschnittsanalyse die Gültigkeit der „naiven“ Quantitätstheorie nur für Hochinflationsländer, wo die Inflationsrate langfristig eins-zu-eins dem Geldmengenwachstum entspricht. Für Länder mit niedrigen Inflationsraten (unter 12% p.a.) gilt aber weiterhin die „modifizierte“ Quantitätstheorie, wie sie beispielsweise dem geldpolitischen Kurs einer „potentialorientierten Geldpolitik“ der Bundesbank bis 1999 zugrunde lag; danach wirkt das um den Trend der Umlaufgeschwindigkeit bereinigte langfristige Geldmengenwachstum inflationär, wenn es das Wachstum der Produktionsmöglichkeiten übersteigt (für die Eurozone siehe auch Mandler/Scharnagel, 2014). [1] Insofern ist die Quantitätstheorie „still alive“.

Risiken einer Kurzfristorientierung

Dennoch spielt das Geldmengenwachstum in den vom Eurosystem vierteljährlich durchgeführten Inflationsprognosen keine Rolle, die für die geldpolitischen Entscheidungen von großer Bedeutung sind. Die Projektionen umfassen einen Prognosezeitraum von zwei bis drei Jahren und erfolgen auf Grundlage makroökonomischer DSGE-Modelle, die eine Vielzahl von Indikatoren enthalten, zu denen die Geldmenge nicht gehört (zur Methodik siehe Europäische Zentralbank, 2016). Die Projektionen sind ab 2019 in Tabelle 1 wiedergegeben, wobei ein Vergleich mit der tatsächlichen Inflationsentwicklung aus Abbildung 1 zeigt, dass die EZB den seit Herbst 2020 einsetzenden Inflationsanstieg nicht vorhergesehen hat, obwohl M3 zuvor drastisch angewachsen war.

Es ist schwer zu beurteilen, ob der Fit mit der Geldmenge besser gewesen wäre, wenngleich es einzelne Untersuchungen gibt, die zeigen, dass sich die Prognoseleistung von DSGE Modellen durch Einbeziehung von Geld erhöht (Caraini, 2016). Allerdings hätte die M3-Explosion spätestens seit Mitte 2020 die Geldpolitik veranlassen können, die niedrigen Inflationsprognosen mit großer Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen. In den „monetary policy statements“ zu Beginn der Pressekonferenzen wurde das Geldmengenwachstum bis Juni 2021 zwar erwähnt, aber nicht als potenzielle Gefahr für die Preisstabilität hervorgehoben.

Die aktuelle Entwicklung der Inflationsrate offenbart eine Schwäche einer Politik der flexiblen Inflationssteuerung, bei der das Eurosystem auf Prognosen der zukünftigen Inflationsentwicklung angewiesen ist. Solche Prognosen erfolgen auf Basis von DSGE-Konjunkturmodellen, die es erlauben, die Inflationsrate nur für einen begrenzten Prognosezeitraum abzuschätzen. Mit dieser Kurzfristperspektive läuft die Geldpolitik aber Gefahr, die langfristig wirkenden Einflussgrößen auf die Inflationsentwicklung zu unterschätzen und auf eine zu starke Geldmengenexpansion erst zu reagieren, wenn diese sich auch in den Indikatoren niederschlägt, die im kurzfristigen Prognosemodell Eingang gefunden haben.

Vergesst die Geldmenge nicht!

Das Eurosystem sollte deshalb prüfen, ob es künftig die aus der Geldmengenentwicklung folgenden Informationen bei seiner Entscheidungsfindung (wieder) stärker berücksichtigt und zu einer Politik zurückkehrt, die das M3-Wachstum mittel- und langfristig auf einen stabilitätsgerechten Kurs hält. Es verwundert schon, wenn eine Notenbank jene Größe, die der „Stammtisch“ (zumindest in Deutschland, aber wohl nicht nur dort) als die zentrale Inflationsursache ansieht, nämlich das Geldmengenwachstum, in ihren Ausführungen (fast) völlig außer Acht lässt.

Literatur

Caraiani, P. (2016), The Role of Money in DSGE Models: A Forecasting Perspective, in: Journal of Macroeconomics, Vol. 47, S. 315-333.

Deutsche Bundesbank (2023), Von der monetären Säule zur monetären und finanziellen Analyse, in: Monatsbericht, 75. Jg., März, Frankfurt/M. S. 15-43.

Europäische Zentralbank (1999), Monetäre Analyse für das Euro-Währungsgebiet, in: Monatsbericht, 1. Jg., März, Frankfurt/M. S. 15-29.

Europäische Zentralbank (2003), Ergebnis der von der EZB durchgeführten Überprüfung ihrer geldpolitischen Strategie, in: Monatsbericht, 5. Jg., S. 87-102.

Europäische Zentralbank (2016), A Guide to the Eurosystem/ECB Staff Macroeconomic Projection Exercise, Frankfurt/M.

Holm-Hadulla, F., Musso, A., Rodriguez, D., Vlassopoulos, T. (2021), Evolution of the ECB`s Analytical Framework, Europäische Zentralbank, Occasional Paper, No. 277.

Mandler/Scharnagel (2014), Money Growth and Consumer Price Inflation in the Euro Area: A Wavelet Analysis, Deutsche Bundesbank, Discussion Paper, No 33/2014, Frankfurt/M.

Teles, P., Uhlig, H., Valle e Azevedo (2016), Is Quantity Theory Still Alive?, in: Economic Journal, Vol. 126, S. 442-464.


[1]) Allerdings wird der Fit zwischen dem bereinigten Geldmengenwachstum und Inflation für die Niedriginflationsländer schlecht, wenn man sich auf Perioden mit einer Inflationssteuerung beschränkt, weil sich dann die Inflationsraten zwischen den Ländern im Sample kaum unterscheiden.

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