„Es ist nicht der Unternehmer, der die Löhne zahlt – er übergibt nur das Geld. Es ist das Produkt, das die Löhne zahlt.“ (Henry Ford)
Die Finanzkrise hat die Welt an den Rand einer Depression geführt. In vielen Unternehmen drohten 2009 die Lichter auszugehen. Das alles scheint vergessen. Auf den deutschen Arbeitsmärkten ist der Einbruch des Bruttoinlandsprodukts glimpflich verlaufen. Nun nimmt auch das wirtschaftliche Wachstum wieder Fahrt auf. Es scheint also wenig Grund zu geben, Grundlegendes zu ändern. Das sagen sich wohl auch die Tarifpartner. In der Lohn- und Tarifpolitik läuft alles wie immer. Die Tarifpartner üben sich in einem medienwirksamen, archaischen Ritual. Gewerkschaften fordern nach den Entbehrungen der letzten Jahre einen kräftigen Schluck aus der Pulle. Bei Widerstand droht Streik. Arbeitgeberverbände sehen die zarte Pflanze des Aufschwungs ernsthaft in Gefahr. Sie drohen mit einem Abbau von Arbeitsplätzen. Beide Seiten bringen ihren Wirtschaftsweisen in Stellung. Es ist wie immer, nur die Realität ist eine andere.
Alte Glaubenssätze
Trotz der kräftigen Erholung ist der Aufschwung noch labil. Ein „double dip“ ist weiter möglich, die Angst vor dem Einbruch geht um. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise sind die Keynesianer überall auf der Überholspur. Allerdings stoßen die gigantischen staatlichen Ausgabenprogramme an fiskalische Grenzen. Die Angst vor künftig höheren Belastungen mit Steuern und Abgaben wirkt konjunkturpolitisch kontraproduktiv. Kräftige Lohnerhöhungen sollen deshalb an ihre Stelle treten und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stärken. Allerdings hat die Kaufkrafttheorie des Lohnes zwei irreparable Schwachstellen: Unternehmen werden international weniger wettbewerbsfähig und rationalisieren stärker. Das tut weder der Beschäftigung gut noch der gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Kein Wunder, dass Keynes wenig davon gehalten hat, die Güternachfrage in der Rezession durch höhere Löhne zu steigern.
Zudem schwächt eine expansive Lohn- und Tarifpolitik die Arbeitsnachfrage, wenn sie die Lohnstückkosten erhöht. Keynesianische Arbeitslosigkeit verwandelt sich in klassische. Probleme auf der Nachfrageseite führen zu Ärger auf der Angebotsseite. Nicht mehr ein Mangel an Nachfrage, sondern die mangelnde Rentabilität der Investitionen dominiert. Diese Gefahr ist real. Die gegenwärtig relativ günstige Lage auf den Arbeitsmärkten wurde durch Einkommensverzicht der Arbeitnehmer und das „Horten“ von Arbeitskräften der Unternehmen erkauft. Trotz staatlich subventionierter Kurzarbeit stiegen die Lohnstückkosten sprunghaft an. Die Unternehmen konnten die teilweise hohen Verluste nur überstehen, weil sie über eine im internationalen Vergleich relativ gute Eigenkapitalbasis verfügten. Die ist nun abgeschmolzen. Steigen die Lohnstückkosten weiter, sind Entlassungen unvermeidlich.
Trotzdem erlebt die derangierte traditionelle Kaufkrafttheorie des Lohnes gegenwärtig eine Renaissance in neuem Gewand. Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte in der Leistungsbilanz werden als eine sprudelnde Quelle der Krise ausgemacht. Kräftige Lohnsteigerungen hierzulande sollen die Binnennachfrage steigern, die hohen Leistungsbilanzüberschüsse eliminieren und das Spielgeld im internationalen Casino kürzen. Die Folgen sind klar. International wettbewerbsfähige deutsche Unternehmen werden lohn- und tarifpolitisch ausgebremst, der industrielle Sektor wird dezimiert, der international weniger handelbare Dienstleistungen werden gestärkt. Während die traditionelle Kaufkrafttheorie noch bestritt, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit sinkt, wird sie nun Motor eines rabiaten strukturellen Wandels. Die Folgen für den Arbeitsmarkt sind eindeutig: Die strukturelle Arbeitslosigkeit steigt deutlich, auch weil viele Arbeitnehmer diesem Strukturwandel nicht gewachsen sind.
Die Realität
Der medienwirksame Kampf der siamesichen Zwillinge von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften um Lohnprozente führt an der Realität vorbei. Und die Tarifpartner wissen es. Um wie viel die Löhne steigen können, hängt allein von der wirtschaftlichen Lage der einzelnen Unternehmen ab. Im Gegensatz zu früher streut die allerdings sehr viel stärker. Die Welt ist inter- und intra-sektoral heterogener geworden. Im industriellen Sektor werden Arbeitsplätze abgebaut, nicht erst seit heute. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Spannend ist allein die Frage, wie schnell es geht. Den industriellen Sektor in Deutschland wird es besonders hart treffen. Er hat die eigentliche Anpassung noch vor sich. Gleichzeitig werden im Bereich der Dienstleistungen neue Arbeitsplätze geschaffen. Das sind nicht nur solche für einfache Arbeit, ganz im Gegenteil. Die Zukunft hochqualifizierter Arbeit liegt im Dienstleistungssektor.
Aber auch in den Branchen läuft die Entwicklung differenzierter. Die Erträge der einzelnen Unternehmen  entwickeln sich ungleicher als früher. Einige gewinnen, andere verlieren. Die Finanzkrise hat dies noch einmal verdeutlicht. In der stark gebeutelten Automobilindustrie taumelten einige, wie etwa Opel, am Rande des finanziellen Abgrundes. Andere, wie etwa Volkswagen, meisterten die Krise ausgezeichnet. Das war auch im Maschinenbau nicht anders. Unternehmen, wie etwa Heidelberger Druck, hätten ohne staatliche Hilfe nicht überlebt. Andere, wie etwa Groz-Beckert, schrieben selbst in der schwersten Krise pechschwarze Zahlen. Auch im Finanzsektor zeigte sich, wie heterogen die wirtschaftliche Entwicklung inzwischen verläuft. Während die Commerzbank ohne die Beteiligung des Staates wohl das Zeitliche gesegnet hätte, war die Deutsche Bank erfolgreich wie eh und je.
Eine neue Heterogenität lässt sich auch bei den Arbeitnehmern in den Unternehmen beobachten. Weltweit offenere Güter- und Faktormärkte und neue IuK-Technologien verändern die Struktur der Arbeitsnachfrage der Unternehmen. Einfache Arbeit wird weniger, qualifizierte Arbeit verstärkt nachgefragt. Das verändert auch die Arbeitsbeziehungen in den Unternehmen. Vor allem Arbeitnehmer an den Schnittstellen der Betriebe, wie etwa die Lokführer bei der Bahn, spielen ihre spezifische Macht aus. Sie wollen immer weniger auf mögliche Lohnzuwächse verzichten, um einfache Arbeit quer zu subventionieren. Der traditionelle Klassenkampf von Arbeit gegen Kapital tritt in den Hintergrund. Heute dominiert der Kampf unterschiedlicher Gruppen von Arbeitnehmern um die größten Stücke am Kuchen. Die Lohn- und Tarifpolitik muss diese größere Heterogenität unter den Arbeitnehmern berücksichtigen.
Vom Kopf auf die Füße
Die Diskussion um gesamtwirtschaftliche Lohnprozente ist vordergründig. Sie lenkt davon ab, dass die Landschaft der Unternehmen und deren Belegschaften heterogener werden. Die alte Art der Lohnfindung, die starren Flächentarife, ist reif für das Museum der Industriegeschichte. Notwendig ist eine betriebsnähere Lohn- und Tarifpolitik. Viele Betriebsräte und Geschäftsleitungen haben in der Krise gezeigt, wie es auf betrieblicher Ebene gelingen kann, Arbeitsplätze zu retten. Dem Lohnverzicht in der Krise entspricht allerdings eine Beteiligung der Arbeitnehmer am betrieblichen Erfolg im Aufschwung. Betriebliche Bündnisse werden beiden Situationen gerecht. Stärker ertragsabhängige Entlohnungen spielen eine wichtige Rolle. Betriebliche Bündnisse für Arbeit sind die Zukunft, da sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie verringern gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit und erhöhen die Lohnquote, also den Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen.
Die Dezentralisierung in der Lohn- und Tarifpolitik muss allerdings noch weiter gehen. Das haben spätestens die Streiks der Lokführer gezeigt. Heterogenere Arbeitnehmer in den Unternehmen erhöhen die Vielfalt der Interessen. Die Lohn- und Tarifpolitik muss dem Rechnung tragen. Einen ersten Schritt ging das Bundesarbeitsgericht, indem es die Tarifeinheit aufhob. Damit werden unterschiedliche Gruppen in Unternehmen tariffähig. Der Wettbewerb der Interessengruppen nimmt zu. Die Arbeitsbeziehungen werden aufgemischt, passgenauere Lösungen möglich. Das gilt für Arbeitszeiten, Einkommen, Qualifizierung aber auch für Mitarbeiterbeteiligungen. Die Politik darf sich nicht zum Handlanger der Tarifpartner machen, indem sie per Verfassungsänderung die Tarifeinheit wieder herstellt. Sie muss vielmehr für einen adäquaten Ordnungsrahmen sorgen, um einen wirksamen unternehmensinternen Wettbewerb der Interessengruppen zu garantieren.
Allerdings führt auch eine dezentralere Lohn- und Tarifpolitik die Arbeit noch nicht in eine bessere Zukunft. Das wird erst möglich, wenn private Unternehmen genügend neue Arbeitsplätze schaffen. Ein Feld, auf dem diese entstehen können, ist der hierzulande unterentwickelte Dienstleistungssektor. Zwei Maßnahmen können Bremsen lösen: Die Produktion von Dienstleistungen, besonders der freiberuflichen, muss dereguliert werden. Das ist das Ende des Entsendegesetzes, der Dienstleistungsrichtlinie, der gesetzlichen Mindestlöhne und der Regulierungen bei den freien Berufen. Viel ist auch gewonnen, wenn es gelingt, das Leben der „start ups“ von bürokratischem Ballast zu befreien. Das gilt für die Phase der Gründung, des laufenden Betriebs und der Schließung. Ein dynamischer Dienstleistungssektor schafft nicht nur die notwendigen zukunftsträchtigen Arbeitsplätze. Auch der Anteil international nicht-handelbarer Güter steigt, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte werden kleiner, zumindest temporär.
Fazit
Die Tarifpartner interpretieren die Krise nicht als einen Strukturbruch, sondern als eine Wachstumspause. Das ist allerdings kein Freibrief für die Lohn- und Tarifpolitik so weiter zu machen wie bisher. Dazu zählt auch das medienwirksam ausgetragene Gezänk um Lohnprozente. Tatsächlich hat die schwere Krise die längst eingetretenen tektonischen Verwerfungen in der Tariflandschaft noch einmal in aller Deutlichkeit offengelegt. Nicht nur die Unternehmen sind heterogener geworden, auch die Interessen der Arbeitnehmer sind sehr unterschiedlich. Der Streit um die Höhe einheitlicher Löhne und Tarife für ganze Branchen geht deshalb an der Sache vorbei. Die Lohn- und Tarifpolitik muss sich stärker an den heterogenen Interessen auf beiden Marktseiten orientieren. Das geschieht am ehesten auf betrieblicher Ebene. Die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften von heute werden morgen überflüssig.
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Eine Antwort auf „Lohn- und Tarifpolitik nach der Finanzkrise
Werden Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände überflüssig?“