Die falsche Alternative
Ordnungspolitik gilt vielen Ökonomen heute als Konzept von gestern – als Rahmen für stabile Zeiten, der aber in Krisen an seine Grenzen stoße. Selbst ordnungspolitisch Sozialisierte wie Michael Hüther (IW Köln) argumentieren: Traditionelle Ordnungspolitik sei für „normale Zeiten“ geeignet, aber Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie erforderten eine „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“ – Investitionsprogramme, Industriepolitik, Schuldenregeln-Suspendierung.[1]
Keynesianische Ökonomen (Dullien, Truger, Bofinger) gehen weiter: In Krisen brauche es Handlung statt Prinzipien, Effektivität statt Märkte, strategische Steuerung statt Selbstkoordination. Gemeinsam ist diesen Positionen ein impliziter Grundsatz: Ordnungspolitik ist ein Luxusgut – nützlich in ruhigen Zeiten, aber in Ausnahmesituationen müsse der Staat „mitspielen“ statt „schiedsrichtern“.
Diese Sichtweise beruht auf einem fundamentalen Missverständnis. Die Debatte stellt die falsche Alternative auf: Ordnungspolitik oder Krisenbewältigung. Doch genau das Gegenteil ist richtig.
Die These dieses Beitrags: Gerade in Krisen zeigt sich die Überlegenheit ordnungspolitischer Prinzipien über interventionistische Eingriffe – nicht trotz, sondern wegen der Krise. Die Begründung erfolgt auf vier Ebenen: wissenstheoretisch, systemdynamisch, institutionell und ordnungsökonomisch.
I. Wissenstheoretisch: Krisen verschärfen das Wissensproblem
Das interventionistische Paradox: Der Staat soll gerade dann zentral planen, wenn die Unsicherheit maximal ist.
Frank Knight unterschied 1921 zwischen Risiko (kalkulierbar) und echter Unsicherheit (fundamental unkalkulierbar).[2] Krisen sind Phasenübergänge in radikale Unsicherheit – bekannte Muster brechen, was gestern galt, gilt heute nicht mehr.
Planung setzt Wissen voraus. In radikaler Unsicherheit existiert dieses Wissen nicht als abrufbare Information – es muss erst entstehen durch Versuch, Irrtum, Anpassung.
Hayek zeigte: Das für wirtschaftliche Koordination relevante Wissen ist niemals zentral verfügbar.[3] Es ist verstreut, implizit, situativ, lokal. In Krisen wird dieses Problem massiv verschärft.
Die Koordination erfolgt über Preise – Signale, die dezentrales Wissen aggregieren. Ein steigender Preis löst Millionen dezentraler Anpassungen aus: weniger verwenden, Substitute suchen, mehr produzieren. Interventionen zerstören diese Signale: Preisdeckel lassen Signale verschwinden, Subventionen erzeugen falsche Signale, Rationierung setzt bürokratische Allwissenheit voraus.
Roger Koppl zeigte: Experten versagen systematisch, wenn sie monopolistisch organisiert sind, politischem Druck unterliegen und keine Haftung tragen.[4] In Krisen sind alle drei Bedingungen erfüllt – und es gibt keine belastbaren historischen Parallelen.
Interventionen ohne hinreichendes Wissen erzeugen unintendierte Folgen, die als neue Probleme wahrgenommen werden und nach weiteren Interventionen rufen: die Interventionsspirale.[5]
II. Systemdynamisch: Zerstörung stabilisierender Feedbacks
Wirtschaft und Gesellschaft sind komplexe adaptive Systeme, gesteuert durch Feedbackschleifen:
Negative Feedbacks (stabilisierend): Wirken Abweichungen entgegen. In Märkten sind Preise solche Feedbacks: Preis zu hoch ? weniger Nachfrage + mehr Angebot ? Preis sinkt.
Positive Feedbacks (selbstverstärkend): Verstärken Abweichungen. Ohne negative Feedbacks laufen sie aus dem Ruder (Panik, Blasen).
Marktwirtschaft – Kennzeichen: Multiple stabilisierende Feedbacks
Eine Marktwirtschaft besitzt zahlreiche negative Feedbacks zur Selbststabilisierung:
- Höherer Preis -> mehr Produktion -> mehr Angebot -> Preis sinkt
- Höherer Preis -> weniger Nachfrage -> Preis sinkt
- Hoher Preis -> Innovation -> Kostensenkung
- Hohe Gewinne -> Markteintritt -> mehr Wettbewerb
Diese Feedbacks sind dezentral, parallel, redundant. Das System ist resilient.
Interventionismus – Kennzeichen: Kappt negative Feedbacks
Beispiel Preisdeckel: Gaspreise steigen -> mit Preisdeckel: Verbraucher sparen nicht, Unternehmen investieren nicht -> Angebot bleibt knapp -> Rationierung nötig. Deutschland 2022/23: Gaspreisbremse reduzierte Sparanreize, Investitionen blieben aus.
Beispiel Bailouts: Fehlinvestition -> mit Staatsrettung: Geschäftsmodell bleibt -> Erwartung künftiger Rettung -> Moral Hazard. Bankensektor nach 2008: Alle systemrelevanten Banken gerettet, Erwartung verfestigt, Banken wurden noch größer.
Beispiel Zombifizierung: Mit Subventionen bleiben Ressourcen in alten Strukturen gebunden -> Produktivität stagniert. Der Anteil zombifizierter Unternehmen verdreifachte sich 2010–2020 auf 6% (Deutschland).[6]
Interventionismus schafft positive Feedbacks, d.h. Eskalationsspiralen
Drei Beispiele sind allgegenwärtig:
- Rent-Seeking-Spirale: Intervention -> Gewinner lobbyieren für Verlängerung -> Ausweitung -> permanent
- Moral-Hazard-Spirale: Bailout -> höhere Risikobereitschaft -> größere Systemrisiken -> nächste Krise teurer
- Regulierungskaskade: Eingriff A erzeugt Problem B -> Eingriff C erzeugt D -> Regelflut
Hinzu kommen Delays: Positive Effekte sind sofort sichtbar, negative treten hingegen verzögert auf. Politiker operieren in Vier-Jahres-Zyklen. Sie sehen die „Rettung“, nicht die langfristige Erosion.
Interventionismus ist nicht nur ineffizient – er ist systemisch destabilisierend (siehe Grafik).

III. Institutionell: Pfadabhängigkeiten und Ratchet-Effekt
Robert Higgs dokumentierte: In Krisen expandiert der Staat, nach der Krise schrumpft er nur teilweise.[7] Die neue Baseline ist höher. Die Staatsquote in Deutschland stieg von ~15% (1913) auf ~49% (heute). Jede Krise hinterließ einen höheren Sockel.
Der Mechanismus besteht aus vier Komponenten: 1. Die Krise legitimiert eine Kompetenzerweiterung. 2. Neue Behörden/Gesetze werden geschaffen. 3. Die Strukturen bleiben nach der Krise erhalten. 4. Die erweiterten Kompetenzen bilden die Baseline für nächste Krise.
Politische Ökonomie ist eine relevante Erklärung: Politiker werden für sichtbares Handeln belohnt, nicht für langfristige Problemlösung. Bürokraten maximieren Budgets. Interessengruppen organisieren sich für Verlängerung – Belastete bleiben desorganisiert. Ein Beispiel sind die EZB-Programme: OMT (2012), QE (2015), PEPP (2020), TPI (2022). Alle wurden als „temporär“ verkauft, alle sind de facto permanent.
Anpassungs-Irreversibilitäten sind ein inhärenter Bestandteil des Interventionismus. Unternehmen stellen Geschäftsmodelle auf die staatliche Förderung ein,.Moral Hazard wird institutionalisiert. Das System wird abhängig von fortgesetzter Intervention. DieselbstgestellteFalle schnappt zu.
IV. Ordnungsökonomisch: Funktionsbedingungen statt Gestaltungsziele
Euckens Konstitutive Prinzipien: Walter Eucken unterschied Prinzipien, die eine Wettbewerbsordnung konstituieren: funktionsfähiges Preissystem, Primat der Währungspolitik, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftung, Konstanz der Wirtschaftspolitik.
Der fundamentale Fehler des Kriseninterventionismus besteht darin, dass er konstitutive Prinzipien suspendiert. Preise werden gedeckelt, Geldpolitik wird fiskalischen Zielen untergeordnet, Haftung wird ausgesetzt.
Die Wahrheit lautet: Gerade in Krisen sind Funktionsbedingungen essentiell. Wenn das Preissystem nicht funktioniert, kann sich das System nicht anpassen.
Das lässt sich prägnant mit Peter Boettkes Formel erläutern: 3P?3I, d.h. Prices, Property, Profit/Loss sorgen für Information, Incentives, Innovation. Diese Formel gilt gerade in Krisen, weil Krisen Anpassung erfordern – drei ausgewählte Kombinationen:
- Prices -> Information: Preise aggregieren Wissen über veränderte Knappheiten
- Property -> Incentives: Eigentumsrechte setzen Investitionsanreize
- Profit/Loss -> Innovation: Gewinne/Verluste sortieren funktionierende von dysfunktionalen Lösungen
Schließlich sei Subsidiarität als Resilienzprinzip erwähnt. Dezentrale Systeme sind robuster. Anders als zentrale und hierarchisch gesteuerte Systeme zeichnen sie sich durch Diversität, Redundanz, Modularität und adaptive Kapazität aus.
V. Empirische Belege
Deutschland 1948 vs. Großbritannien zeigt den fundamentalen Unterschied: Während Ludwig Erhard die amerikanische Währungsreform mit der Aufhebung der Preisbindungen und umfassender Deregulierung verband, woraus das „Wirtschaftswunder“ erwuchs, hielt Großbritannien an Rationierung bis 1954 und Preiskontrollen fest. Die Folge war eine sehr langsame Erholung und die „British Disease“, die erst Thatchers Reformen ab 1979 überwinden konnten.
Die schwedische Bankenkrise 1991–93 liefert ein weiteres Beispiel ordnungspolitisch sauberer Krisenbewältigung.[8] Die Regierung restrukturierte Banken konsequent, statt sie zu retten. Aktionäre verloren ihre Einlagen, die Krise wurde transparent kommuniziert. Das Ergebnis: ein robustes Bankensystem ohne Folgekrisen – im Gegensatz zum Bailout-Modell nach 2008.
Die Energiekrise 2022/23 schließlich demonstriert dieselbe Dynamik in jüngster Zeit. Deutschland deckelte Gaspreise und stellte über 200 Milliarden Euro für einen „Schutzschild“ bereit – mit der Folge, dass Sparanreize ausblieben und Investitionen in Effizienz stockten. Skandinavische Länder hingegen ließen Preise ihre Signalfunktion erfüllen und unterstützten nur gezielt soziale Härtefälle. Die Konsequenz: Verbraucher passten sich stärker an, Unternehmen investierten schneller in Energieeffizienz.
Die Lektion aus allen drei Fällen ist eindeutig: Preise sind Information – wer sie deckelt, verhindert Anpassung und verschleppt die Krise, statt sie zu bewältigen.
VI. Das ordnungspolitische Alternativkonzept
Ordnungspolitik bedeutet nicht Nichtstun, sondern Aufrechterhaltung eines stabilen Ordnungsrahmens – gerade bei maximaler Unsicherheit.
Der ordnungspolitische Werkzeugkasten ist gut gefüllt und enthält:
- Deregulierung und schnellere Verfahren,
- Gezielte Transfers statt Preiseingriffe (Energiegeld statt Gaspreisbremse),
- Regelbasierte automatische Stabilisatoren (Arbeitslosen-/Insolvenzsysteme ohne politische Diskretion),
- Temporäre steuerliche Entlastungen (Liquidität ohne dauerhafte Verzerrungen).
Was Ordnungspolitik nicht tut: Keine Bailouts, keine Preiskontrollen, keine Industriepolitik, keine Verstaatlichungen, keine Schuldenmonetarisierung, keine dauerhaften Ausnahmezustände.
Fazit: Das Paradox auflösen
Ordnungspolitik ist keine Schönwetterdisziplin. Das Gegenteil ist der Fall: Interventionistische Politik kann in normalen Zeiten kaschieren, dass sie weder über verlässliches Wissen noch funktionierende Anreizstrukturen verfügt. In Krisen treten ihre Schwächen unbarmherzig zutage.
Die vier analytischen Ebenen führen zu einem klaren Befund:
- Wissenstheoretisch: Krisen verschärfen Ungewissheit -> die Notwendigkeit dezentraler Koordination steigt.
- Systemdynamisch: Krisen prüfen Selbststabilisierung -> funktionierende negative Feedbacks sind erforderlich.
- Institutionell: Krisen erzeugen Pfadabhängigkeiten -> temporäre Eingriffe werden dauerhaft.
- Ordnungsökonomisch: Konstitutive Prinzipien sind Funktionsbedingungen – besonders unter Druck und in einer Krise.
Drei Lehren gelten für Interventionisten dauerhaft:
- Der Glaube, Experten wüssten in Krisen, was zu tun ist, ist Wissensanmaßung
- Eingriffe destabilisieren Systeme, weil sie krisenabsorbierende Mechanismen zerstören.
- Interventionen bleiben nie temporär – sie verfestigen sich (Ratchet-Effekt).
Alexander Rüstow formulierte 1932: Selbstbeschränkung ist die Grundlage von Selbstbehauptung. Ein Staat, der sich auf Kernaufgaben konzentriert, ist stärker als einer, der überall eingreift.
Interventionismus in Krisen ist verantwortungslos: Wer Preise deckelt, zerstört Informationsflüsse; wer Haftung aushebelt, produziert Moral Hazard; wer Notmaßnahmen zur Dauerpolitik macht, schafft strukturelle Abhängigkeiten.
Ordnungspolitik ist die einzige Krisenpolitik, die langfristig funktioniert – weil sie die Natur komplexer Systeme respektiert, Lernen zulässt und Resilienz hervorbringt.
In Krisen brauchen wir nicht mehr Staat, sondern bessere Ordnung; nicht mehr Planung, sondern mehr Freiheit; nicht mehr Expertenherrschaft, sondern mehr dezentrale Experimente. Das ist die Lehre aus Wissenstheorie, Systemdynamik, institutioneller Analyse und ordnungsökonomischer Vernunft. Es ist die Lehre, die wir endlich wieder begreifen müssen.
[1] Siehe z.B. Melinda Fremerey, Michael Hüther: Ordnungspolitik in Krisenzeiten – Eine ordnungspolitische Bewertung aktueller wirtschaftspolitischer Handlungsstränge, Ordnungspolitische Perspektiven, Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Juni 2023.,“horizontale Industriepolitik”, 25f. und Industriepolitik, die die „Bewältigung der Veränderungsprozesse der Unternehmen“ adressiere, 3, zuvor: Konzertierte Aktion, 7f., sowie einschränkende Schuldenbremse, 17f. Im IW-Policy Paper 7/2023 vom 13.09.2023 ist von einer “Ordnungspolitik der sichtbaren Hand”, 4 die Rede (Link: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/policy_papers/PDF/2023/IW-Policy-Paper_2023-Industriepolitik_in_der_Zeitenwende.pdf?utm_source=chatgpt.com) Außerdem müsse die „Geld-, Finanz- und Lohnpolitik neu gedacht werden“ und solle Haushalte und Unternehmen unterstützen. https://www.iwkoeln.de/presse/in-den-medien/michael-huether-geld-finanz-und-lohnpolitik-muessen-neu-gedacht-werden.html?utm_source=chatgpt.com
[2] Frank H. Knight: Risk, Uncertainty and Profit, Reprint, University of Chicago Press, Chicago 1971 (Erstausgabe 1921.
[3] Friedrich A. von Hayek: The Use of Knowledge in Society, in: American Economic Review, 35 (1945) 4, 519–530.
[4] Roger Koppl: Expert Failure, Cambridge University Press, Cambridge 2018.
[5] Ludwig von Mises: Kritik des Interventionismus, Gustav Fischer, Jena 1929.
[6] Die Zahlen variieren je nach Untersuchungsgegenstand, siehe hier die Pressemitteilung von KEARNY vom 17.07.2024 sowie FTI Andersch vom 09.02.2023 https://www.de.kearney.com/pressecenter/article/-/insights/zombiestudie-2024#:~:text=24%20Prozent%20mehr%20Zombie%2DUnternehmen%20in%20Deutschland%20%7C%20Kearney und https://www.fti-andersch.com/de/ueber-uns/news/unternehmen-in-zombie-status-dunkelziffer/
[7] Robert Higgs: Crisis and Leviathan. Critical Episodes in the Growth of American Government, Oxford University Press, New York 1987.
[8] Per Englund: The Swedish Banking Crisis: Roots and Consequences, in: Oxford Review of Economic Policy, 15 (1999) 3, 80–97 und Sveriges Riksbank: The Swedish Financial Crisis – Origins, Policies, and Lessons, Riksbank Economic Review 2/1997.
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