„Es steht außer Frage, dass die Arbeitslosenzahlen in angelsächsischen Ländern stärker schwanken. Im Trend der letzten 20 Jahre sind sie in Amerika aber geringer als unsere […]. Daher wäre ich […] vorsichtig mit der Behauptung, dass wir besser sind.“ (Hans-Olaf Henkel)
Die Finanzkrise hat die Welt auf den Kopf gestellt. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, fast nichts. Aus Gewinnern wurden Verlierer, Verlierer stiegen wie Phönix aus der Asche. Die USA scheint es besonders hart erwischt zu haben. Der wirtschaftliche Erfolg der Vergangenheit ist wie weggeblasen. Die Volkswirtschaft wächst anämisch, die Arbeitslosigkeit erreicht Werte aus wirtschaftlich dunklen Zeiten. Notorische Kritiker der USA stimmen freudig den Abgesang an. Ganz anders ist die Lage in Deutschland. Der lange kranke Mann Europas erholt sich schnell. Die Wirtschaft wächst mit hohen Raten, ein Aufschwung XXL eben. Ehemals sklerotische Arbeitsmärkte scheinen nur so vor Kraft zu strotzen. Die Arbeitslosigkeit erreicht immer neue Tiefstwerte. Ist das eine ökonomische Zeitenwende? Hat das amerikanische Modell abgewirtschaftet? Erlebt Deutschland ein neues Wirtschaftswunder?
Die empirischen Fakten
Wer nur auf die letzten zwei Jahrzehnte blickt, erkennt eines deutlich: Die offizielle Arbeitslosenquote in Deutschland lag ständig höher als in den USA. Das amerikanische Modell flexibler Arbeitsmärkte war dem korporatistischen deutschen Modell immer gleich mehrere Schritte voraus. Spätestens mit der Wiedervereinigung gerieten die Arbeitsmärkte hierzulande ins Hintertreffen. Die Arbeitslosenquote stieg bis 2005 stetig an, die in den USA nahm spürbar ab. Die Schere zwischen beiden Arbeitsmärkten öffnete sich bis die rot-grüne Bundesregierung die Hartz-Reformen auf den Weg brachte. Seit dem Jahr 2006 verringerte sich auch hier die Arbeitslosenquote stark. Eine gute weltwirtschaftliche Konjunktur half tatkräftig mit. Das alles änderte sich mit dem Ausbruch der Finanzkrise. Nun stieg die amerikanische Arbeitslosenquote sprunghaft an, die deutsche veränderte sich kaum.
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Diese Entwicklung lässt Erinnerungen wach werden. Denn das amerikanische Modell war dem deutschen nicht immer überlegen. Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg sah nur einen Sieger auf den Arbeitsmärkten, einen deutschen. Das amerikanische Modell war bis Anfang der 80er Jahre dem deutschen eindeutig unterlegen. Bis zur 1. Ölpreiskrise im Jahre 1973 lag die Arbeitslosenquote hierzulande deutlich unter der in den USA. Erst die Ölpreiskrisen zu Beginn und Ende der 70er Jahre brachten eine Wende. Sie ließen zwar die amerikanischen Arbeitsmärkte nicht ungeschoren. Auch dort stieg die Arbeitslosigkeit zyklisch schwankend an. In Deutschland erhöhte sie sich allerdings treppenförmig. Die Arbeitslosenquote stieg von einer wirtschaftlichen Rezession zur nächsten, ohne in den Phasen des Aufschwungs auf das ursprüngliche Niveau zurückzufallen. In den 80er Jahren wechselte die Führung: Mal hatte das amerikanische, mal das deutsche Modell die Nase vorn. Mit der Wiedervereinigung war dann der Kampf für lange Zeit entschieden. Es scheint, als würden mit der Finanzkrise die Karten neu gemischt.
Das Einmaleins des Arbeitsmarktes
Welches Modell die Nase vorn hat, hängt davon ab, wie wirtschaftliche und politische Akteure auf Schocks am Arbeitsmarkt reagieren. Unzulängliche oder gar falsche Antworten münden in gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit und/oder Mismatch-Arbeitslosigkeit. Das drängendste Problem auf amerikanischen und deutschen Arbeitsmärkten ist nach wie vor die erste Variante der Arbeitslosigkeit, also gesamtwirtschaftliche. Die Zahl der Arbeitslosen übersteigt die Zahl der offenen Stellen bei weitem. Das ist überall auf der Beveridge-Kurve unterhalb des Schnittpunktes mit der 45-Grad-Linie der Fall, wie etwa in Punkt B. Gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit kann allerdings keynesianische (zyklische) oder klassische (strukturelle) Ursachen haben. Im ersten Fall herrscht ein Mangel an kaufkräftiger Nachfrage, im zweiten Fall ist Arbeit regional, sektoral und/oder qualifikatorisch zu teuer.
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Bei Mismatch-Arbeitslosigkeit entspricht zwar die Zahl der Arbeitslosen der Zahl der offenen Stellen. Arbeitslose und Arbeitgeber finden aber dennoch nicht sofort zusammen, weil regionale, sektorale und/oder qualifikatorische Friktionen existieren. Eine solche Situation ist im Schnittpunkt der 45-Grad-Linie mit der Beveridge-Kurve in Punkt A gegeben. Steigt die Mismatch-Arbeitslosigkeit an, verschiebt sich die Beveridge-Kurve nach außen (rote Kurve). In der Realität ist aber Mismatch- und gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit nur schwer voneinander zu trennen. Vor allem im klassischen Fall begünstigen inflexible Lohnstrukturen und räumlich sowie beruflich immobile Arbeit die Mismatch-Arbeitslosigkeit. Aber auch in der keynesianischen Situation ist Mismatch-Arbeitslosigkeit möglich. Das ist immer dann der Fall, wenn lange brachliegende Kapazitäten sowohl Human- als auch Realkapital obsolet werden lassen und keynesianische in klassische Arbeitslosigkeit umschlägt.
Das amerikanische Rätsel
In den USA tobt derzeit ein heftiger Streit um die Ursachen der Misere auf den amerikanischen Arbeitsmärkten. Ein Blick auf die Beveridge-Kurve zeigt den Grund. Die Zahl der offenen Stellen steigt an, die Zahl der Arbeitslosen bleibt aber fast unverändert auf hohem Niveau. Das spricht für einen Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit. Eine IMF-Studie verstärkt diesen Eindruck. Die NAIRU erhöhte sich zwischen 2007 von einem Wert von 5 % bis 2009 auf 6,5 %. Das ist bei einer Arbeitslosenquote von 9,6 % viel. Es steht zu vermuten, dass der strukturelle Anstieg in den USA weiter geht, da die Zahl der Langzeitarbeitslosen kontinuierlich zunimmt. Ein weiteres fiskalisches Konjunkturprogramm, wie es die Demokraten fordern, wäre ebenso wenig wie eine forciertes „quantitative easing“ der Fed in der Lage, die strukturellen Probleme auf den amerikanischen Arbeitsmärkten in den Griff zu bekommen.
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Die Gründe für das wachsende Gewicht der strukturellen Komponente der Arbeitslosigkeit sind nicht eindeutig. Die einen verweisen darauf, dass die Eurosklerosis nun auch Amerika erreicht habe. Höhere gesetzliche Mindestlöhne, längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, politisch gestärkte Gewerkschaften und immobilere Hausbesitzer machen die amerikanischen Arbeitsmärkte inflexibler. Andere sind der Meinung, dass das finanzmarkt-und immobiliengetriebene Wachstum des letzten Jahrzehntes die erheblichen strukturellen Probleme verdeckt habe. Die USA steckten mitten in einem gewaltigen qualifikatorischen Strukturwandel. Das Angebot halte mit der wachsenden Nachfrage nicht Schritt. Verlierer sei vor allem die männliche, weiße Mittelklasse. Die heftige Finanzkrise habe die strukturelle Fehlentwicklung endgültig demaskiert, die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten sei das Ergebnis.
Das deutsche Wunder
In Deutschland herrscht dagegen augenblicklich auf den Arbeitsmärkten eitel Sonnenschein. Die Massenarbeitslosigkeit hat sich in der Krise kaum weiter erhöht und geht jetzt spürbar zurück. Wir fahren seit Mitte 2009 auf der Beveridge-Kurve hoch nach Nordwesten. Die Zahl der offenen Stellen steigt, die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Das alles deutet darauf hin, dass auf einem nach wie vor hohen strukturellen Sockel gegenwärtig konjunkturelle Aspekte dominieren. Die Unternehmen wählten in der Krise nicht den amerikanischen Weg über Entlassungen, sie passten sich über die Arbeitszeit an. Kürzere Wochenarbeitszeiten und mehr Teilzeitarbeit war eine Variante. Der Abbau von Überstunden und das Plündern prall gefüllter Arbeitszeitkonten war eine andere. Als dritte Variante nutzen die Unternehmen die vom Staat angebotenen Möglichkeiten der Kurzarbeit. Die Gewichte der drei Arbeitszeitvarianten sind ähnlich groß.
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Warum passten sich deutsche Unternehmen anders an die Krise an als amerikanische? Die deutschen Unternehmen, vor allem die exportabhängigen waren wohl der Meinung, dass sich die Krise bei ihnen allenfalls als ein temporärer Nachfrageeinbruch der Weltwirtschaft niederschlagen würde. Der Mangel an Fachkräften in der vorausgegangenen Hochkonjunktur saß ihnen noch in den Knochen. Sie wollten das betriebsspezifische Humankapital in ihren Betrieben halten. Beides ließ die Strategie, sich über die Arbeitszeit anzupassen, sinnvoll erscheinen. Die Aufteilung der Lasten auf Arbeitnehmer (niedrigere Arbeitseinkommen), Unternehmer (höhere Arbeitskosten) und Staat (höhere Steuern und Abgaben) ebnete diesen Weg der Anpassung. Die Strategie funktionierte, weil die weltweite konjunkturelle Erholung vor allem die exportabhängige Investitionsgüterindustrie aus der Misere holte und nicht die Konjunkturpakete.
Fazit
Gegenwärtig hat das deutsche Modell die Nase vorn. Es ist mit der Krise besser fertig geworden als das amerikanische. Das muss allerdings nicht so bleiben. Nach wie vor hat die Arbeitslosigkeit hierzulande einen hohen zähen strukturellen Sockel. Tatsächlich verdeckt der Aufschwung handfeste strukturelle Probleme. Noch sind wir die „industrielle Apotheke“ der Welt. Je schneller aber unsere internationalen Kunden wirtschaftlich erwachsen werden, desto eher werden die hoch wettbewerbsfähigen deutschen Unternehmen neben der Produktion auch die F&E dorthin verlagern. Spätestens dann werden wir am eigenen Leib erfahren, dass deutsche Unternehmen im weiten Dienstleistungssektor eher selten in der Spitzengruppe der Weltliga spielen. Das amerikanische Modell könnte uns wieder den Rang ablaufen. Es gibt allerdings probate Gegenmittel: Höhere Investitionen in Humankapital und mehr Freiheit für privates Unternehmertum.
- Pakt für Industrie
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So was kommt von sowas
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Ein für die USA relevantes Stichwort ist Laborforce Mobility. Wenn die Hausfinanzierung ‚upside-down‘ ist, und bei einem Verkauf Verluste realisiert werden, ist die marginale Neigung zu einem Job bedingten Umzug kleiner als zuvor.
Ein weiterer Punkt sind die Jobs in der Baubranche selber. Es ist mindestens fraglich ob die ca. 2 Mio Jobs in der Baubranche, die seit 2007 abgebaut wurden (von 7,7 Mio. auf 5,7 Mio.) alle zurück kommen. Im Jahr 2000, also vor der Boomzeit am Housingmarkt, waren ca. 6,7 Mio. in der Baubranche beschäftigt. Grob könnte folglich abgeleitet werden, ungefähr 1 Mio. Jobs bubble-bedingt waren und folglich nicht zurückkommen.
Eine Frage zum Fazit: An welche Bereiche des Dienstleistungssektors denken Sie dabei? Welche Freiheiten benötigt das Unternehmertum Ihrer Meinung nach in D am dringlichsten?
@Marco Pfahl
Einen Überblick über die Reformbedürftigkeit des Dienstleistungssektors gibt Wolf Schäfer in seinem BLOG-Beitrag „Wachstumsbremse: Dienstleistungen in Europa“ und im neusten OECD Employment Outlook.
Wo Unternehmertum in Deutschland behindert wird, finden Sie für den Bereich des Maschinen- und Anlagebaus in meinem BLOG-Beitrag „Was Unternehmer wollen“.
Ein interessantes Papier zur „Amerisclerosis?“ haben Olivier Coibion, Yuriy Gorodnichenko und Dmitri Koustas geschrieben.