Die neue deutsche „Schuldenbremse“ – ein Muster ohne Wert?

Seit Juni 2009 ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine neue Regel zur Begrenzung der Neuverschuldung von Bund und Ländern verankert worden. Diese – kurz auch als „Schuldenbremse“ bezeichnete – Regel soll dafür sorgen, dass mit der in Deutschland seit fünf Jahrzehnten üblichen Unsitte, einen beträchtlichen Teil der Staatsausgaben über Defizite zu finanzieren, endlich Schluss gemacht wird. Zwar gab es auch schon vor 2009 Vorschriften im Grundgesetz (und in den einschlägigen Landesverfassungen), die einer uferlosen Schuldenwirtschaft einen Riegel vorschieben sollten. Diese Bestimmungen sind aber weitgehend wirkungslos geblieben, weil sie zu Umgehungen und Manipulationen einluden. Dies soll ein Ende haben, da die Haushalte von Bund und Ländern, wie es die Artikel 109 und 115 GG neuer Fassung vorsehen, künftig „grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ sind.

Diese Aussage scheint eindeutig und unmissverständlich. Tatsächlich aber enthält sie, wie schon der alte Art. 115 GG, eine Reihe von Ausnahmebestimmungen und Unklarheiten. So sind Defizite zwar für die Bundesländer (erstmals ab 2020) verboten. Für den Bund gilt dagegen das Gebot des (materiellen) Haushaltsausgleichs als erfüllt, wenn sein „strukturelles“ (d.h. um Konjunktureinflüsse bereinigtes) Defizit nicht höher als 0,35 % des BIP ist. Das gilt für den Bund erstmals ab 2016; für die Jahre 2011-2015 bestehen allerdings verbindliche Übergangs-bestimmungen zur schrittweisen Annäherung an den künftigen Grenzwert von 0,35 %. Zudem sind temporäre Überschreitungen erlaubt bei konjunkturellen Störungen, wobei diese – anders als früher – auf einem Kontrollkonto zu verbuchen und „konjunkturgerecht zurückzuführen“ sind. Schließlich sind höhere Defizite auch in „besonderen Ausnahmefällen“ (z.B. Naturkatastrophen) gestattet. Trotz möglicher Lücken und gewisser Unschärfen, etwa bei der Berechnung des „Konjunkturfaktors“, ist die neue Schuldenbremse in Wissenschaft und Politik ganz überwiegend als „sehr positiv“ (Deutsche Bundesbank) bzw. als ein „intelligentes und Erfolg versprechendes Instrument zur langfristigen Senkung der Staatsschulden“ (Deutsche Bank Research) gefeiert worden. Und auf EU-Ebene wird sogar ernsthaft diskutiert, ob die deutsche Regelung ein „Modell für Europa“ sein sollte.

Erste Erfahrungen mit der Schuldenbremse

Die ersten Erfahrungen mit der finanzpolitischen Realität seit knapp zwei Jahren geben allerdings Anlass zu erheblicher Skepsis, wie ernst die politischen Akteure es mit der Respektierung der neuen Schuldengrenzen meinen. Das trifft vor allem auf die Bundesländer zu. Diese haben zwar der Einführung der Schuldenbremse 2009 zugestimmt (lediglich Schleswig-Holstein enthielt sich der Stimme), wobei die Zusage zusätzlicher „Konsolidierungshilfen“ des Bundes für fünf besonders hoch verschuldete Ländern (Bremen, Saarland, Berlin, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) für den Zeitraum 2011–2019 sicherlich eine entscheidende Rolle gespielt hat. Offenkundig wollen aber einige Länder die restriktiven Wirkungen der Schuldenbremse so lange wie möglich aushebeln oder gar völlig ignorieren. Das krasseste Beispiel liefert die seit 2010 amtierende rot-grüne Regierung von Nordrhein-Westfalen. Sie hat die bereits geltenden Verfassungsvorschriften zur Defizitbegrenzung bei ihrer Haushaltsplanung für 2010 und 2011 bewusst ignoriert. So hat der Verfassungsgerichtshof NRW einen schuldenfinanzierten Nachtragshaushalt für 2010 als verfassungswidrig qualifiziert und die von der Landesregierung vorgebrachten Argumente in ungewohnter Schärfe zurückgewiesen. Weder habe die Landesregierung schlüssig nachgewiesen, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht „ernsthaft und nachhaltig gestört“ sei „oder eine solche Störung unmittelbar droht“ noch sei belegt worden, dass die erhöhte Verschuldung „nach Umfang und Verwendung geeignet sei“, eine solche Störung abzuwehren. Trotz dieser Ohrfeigen des nordrhein-westfälischen Verfassungs-gerichtshofs hat die Landesregierung von NRW auch für 2011 einen Budgetentwurf vorgelegt, der bereits der geltenden Begrenzung der Neuverschuldung auf die Höhe der veranschlagten Ausgaben für Investitionen widerspricht. Im Übrigen argumentiert die NRW-Ministerpräsidentin im Hinblick auf die ab 2020 geltenden Schuldenbremse in abenteuerlicher Weise mit einer These von „intelligenten Schulden“, wonach schuldenfinanzierte zusätzliche Bildungsausgaben des Landes eine Einhaltung der Schuldenbremse ab 2020 erleichtern sollen. NRW wolle zwar die Schuldenbremse bis 2020 einhalten; das sei aber nur möglich, „wenn der Staat heute mehr in Kinder und Bildung investiere“. Bezeichnend ist überdies die Aussage der Ministerpräsidentin, sie sei „überzeugt, dass der Bund die selbstverordnete Schuldenbremse als Erster nicht einhalten werde, solange sich nichts auf der Einnahmeseite verbessere.“ Hier scheint geradezu die Hoffnung durch, dass die Schuldenbremse bereits vor 2020 für alle öffentlichen Haushalte gekippt wird und dass man sie deshalb überhaupt nicht ernst nehmen muss.

Bislang ist die Schuldenbremse nur in den Landesverfassungen von Schleswig-Holstein, Hessen und Rheinland-Pfalz verankert worden; Mecklenburg-Vorpommern hat einen entsprechenden Schritt vor der Sommerpause angekündigt. Sechs Länder verweisen auf ihre Landeshaushaltsordnungen bzw. haben diese geändert (Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt-Thüringen). In den übrigen Bundesländern wird die Verpflichtung, die Schuldenbremse auf der Ebene der Landesgesetzgebung umzusetzen, ignoriert (Berlin, Bremen, Saarland) oder durch die herrschenden politischen Mehrheitsverhältnisse blockiert (Brandenburg, Niedersachsen, NRW).

Auch die permanenten wohlklingenden Bekenntnisse des Bundes, man wolle die Vorschriften der Schuldenbremse konsequent einhalten, verdienen vor dem Hintergrund der tatsächlichen Defizitplanung für 2011 zumindest ein Fragezeichen. So zeichnete sich bereits im Laufe des Jahres 2010 ab, dass das Defizit des Bundes für 2010 geringer ausfallen würde als ursprünglich angenommen. Das hätte bedeutet, dass auch die Defizitgrenzen für die „Übergangsjahre“ 2011–2015 hätten herabgesetzt werden müssen. Die Bundesregierung hat eine solche Anpassung jedoch unterlassen: Die Deutsche Bundesbank hat dieses Verhalten jüngst nochmals in ihrem Monatsbericht Februar 2011 in deutlichen Worten kritisiert, da es dem Ziel der Schuldenbremse klar erkennbar entgegenstehe. Außerdem hatte die Bundesregierung bereits 2010 erwogen, in den nächsten Jahren zu erwartende höhere Defizite in den Sozialversicherungen in einen „Sozialversicherungs-stabilisierungsfonds“ auszugliedern und so die Zwänge der Schuldenbremse teilweise zu umgehen. Dieses Vorhaben wurde allerdings nach heftigem Protest des Bundesrechnungshofs und der Öffentlichkeit ad acta gelegt.

Die Schuldenbremse – eine Chance für eine bessere Finanzpolitik

Ist also die Schuldenbremse ein „Muster ohne Wert“? Erwartet sie – wie es beim alten Art. 115 GG der Fall war – eine ungewisse Zukunft mit dauernden Tricksereien und politischen Umgehungsversuchen? Skeptiker aus der Rechtswissenschaft haben sogar von einer „Wirkungslosigkeit“ der neuen Schuldenregel (C. Magin, H. Neidhardt) bzw. von einer lediglich „symbolischen Verfassungsänderung“ (St. Korioth) gesprochen.

Ein solch negatives Urteil würde allerdings den positiven Wirkungen nicht gerecht, die der Schuldenbremse nicht abzusprechen sind. Die Neuregelungen im Grundgesetz zwingen zumindest den Bund zu Konsolidierungsschritten, die ansonsten wohl politisch wesentlich schwerer durchsetzbar wären. Sicher kann man den auch ab 2016 verbleibenden Verschuldungsspielraum des Bundes in Höhe von 0,35 % des BIP als inkonsequent kritisieren. Ein solches maximales Haushaltsdefizit, das nach gegenwärtigen Maßstäben rd. 9 Mrd. Euro entspräche, läge aber weit unter der Neuverschuldung des Bundes in den meisten der vergangenen Jahre. Wichtiger noch erscheint die Tatsache, dass mit dem Bekenntnis zu einem grundsätzlich ausgeglichenen Haushalt eine ehrgeizige „Benchmark“ für die deutsche Finanzpolitik verfassungsrechtlich verankert wurde. Die Vorschriften des „Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts“ (SWP) sehen zwar eine solche Zielsetzung auf lange Sicht ebenfalls vor, doch ein „übermäßiges Defizit“ wird konkret erst bei einer Neuverschuldung von über 3 v.H. des BIP vermutet. Zudem sind die Regelungen des SWP in der europapolitischen Realität so oft missachtet und umgangen worden, dass sie für die nationalen Regierungen offensichtlich kaum von Relevanz zu sein scheinen.

Ob der deutschen Schuldenbremse ein derartiges Schicksal beschieden sein wird? Auch wenn die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder den meisten Bundesländern regelmäßig bescheinigen, sie nähmen die Schuldenbremse in ihrer Haushaltsplanung nicht ernst genug, gibt es doch gewisse ermutigende Zeichen. Beispielsweise hat Schleswig-Holstein im Dezember 2010 einen Doppelhaushalt beschlossen, der insgesamt sogar kleiner ist als der vorhergehende – ein absolutes Novum in der Finanzpolitik dieses Landes, das Beobachter eindeutig auf die nun in der Landesverfassung verankerte Schuldenbremse zurückführen. Nur scheinbar steht hierzu im Widerspruch, dass Schleswig-Holstein gegen die Schuldenbremse im Grundgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hat; hierbei geht es nämlich nicht um die schuldenbegrenzende Wirkung als solche, sondern um den Vorwurf, dass der Bund mit der Schuldenbremse in die Finanzhoheit und das Haushaltsrecht der Länder unangemessen eingreife.

Insgesamt ist es zwar sicherlich nicht ganz unberechtigt, „hinter die Wirksamkeit der deutschen Schuldenbremse … erhebliche Fragezeichen zu setzen“ (G. Kirchgässner). Auch löst die Schuldenbremse natürlich nicht alle finanzpolitischen Probleme. Vor allem bleibt als entscheidender Schwachpunkt der deutschen Finanzverfassung die unzureichende Steuerautonomie der Bundesländer, die einer eigenverantwortlichen Finanzpolitik auf Länderebene wesentlich entgegensteht. Immerhin erhöht die neue Schuldenbremse wesentlich die Chancen für eine solidere Finanzpolitik, die die Staatsverschuldung nur als Ausnahme, nicht aber als Regel einstuft. Entscheidend wird freilich sein, ob und inwieweit die politischen Akteure auf die Nutzung sich eröffnender Umgehungs- und Manipulationsspielräume verzichten. Andernfalls könnten sich die Hoffnungen auf wirksame Schuldengrenzen dann doch als fromme Illusion erweisen.

7 Antworten auf „Die neue deutsche „Schuldenbremse“ – ein Muster ohne Wert?“

  1. Deutsche Schuldenbremse, ein Muster ohne Wert?
    Wer hast erfunden?
    Schauen Sie mal nach Süden.
    In der Schweiz gibt es die Schuldenbremse seit 2003, eingeführt per Volksentscheid.
    Über einen Konjunkturzyklus dürfen keine neuen Schulden gemacht werden, d.h. Schulden in der Rezession müssen später durch Überschüsse kompensiert werden.
    So konnte der Schuldenberg trotz Wirtschaftskrise von 53% (2005) auf 40% (2010) des BIP verringert werden.
    http://www.efd.admin.ch/dokumentation/00737/00782/02006/index.html?lang=de&download=NHzLpZeg7t,lnp6I0NTU042l2Z6ln1acy4Zn4Z2qZpnO2Yuq2Z6gpJCDeoB4gmym162epYbg2c_JjKbNoKSn6A–

    Meiner Meinung nach ist das beste Mittel gegen hohe Ausgaben dass derjenige der bestellt auch derjenige ist, der bezahlt, also Volksabstimmungen.
    Reichtum, Zustand der Infrastruktur, Staatsverschuldung und Höhe der Steuern in der Schweiz zeigen das sehr deutlich.

  2. interessant, daß mal im zusammenhang zu lesen. danke.
    nur, solange schlupf löcher, wie beschrieben, bestehen, werden sie auch genutzt.
    politiker denken leider immer nur bis zum ende der legislaturperiode. und das reicht nunmal nicht

  3. Die Frage ist auch, wer kann Politiker zwingen, sich an ihre eigenen Gesetze zu halten?
    Griechenland und CD-Kauf zeigen, dass es nicht so einfach ist.

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