„Die Europäische Zentralbank wird genauso unabhängig sein wie die Deutsche Bundesbank. Ihre Unabhängigkeit wird sogar noch größer sein, weil sie in einem völkerrechtlich bindenden Vertrag festgeschrieben ist und nicht – wie die der Bundesbank – mit einfacher Gesetzesmehrheit geändert werden kann.“
Solche Lobeshymnen wurden seinerzeit bei der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages gesungen. Die Realität sieht leider anders aus. Seit 2009 hat sich die EZB in einem Maße in den Dienst der politisch motivierten „Rettungsmaßnahmen“ für die überschuldeten Mitgliedstaaten gestellt, dass sie ihre zuvor viel gepriesene Unabhängigkeit de facto eingebüßt hat. „Die Europäische Zentralbank hat ihren guten Ruf verspielt“ (Marietta Kurm-Engels im Handelsblatt vom 15.08.2011) und „Der Verrat am Euro“ (Winand von Petersdorff in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 11.09.2011), so lauten einige aktuelle Schlagzeilen kritischer Journalisten. Den Gipfelpunkt setzte dann am 9. September der angekündigte Rücktritt des EZB-Chefvolkswirts Jürgen Stark, der sich nicht mehr in der Lage sah, die aus seiner Sicht unverantwortliche Politik des Ankaufs von Staatsanleihen der Schuldenstaaten mitzutragen. Aus dem gleichen Grund hatte bereits im Frühjahr 2011 Axel Weber, der seinerzeitige Präsident der Deutschen Bundesbank und quasi-designierte Nachfolger von Jean-Claude Trichet als EZB-Präsident, seinen Rücktritt als Bundesbankpräsident und seinen Verzicht auf eine Kandidatur als EZB-Präsident erklärt. Diese spektakulären personellen Entscheidungen zweier renommierter ,Stabilitätsapostel“˜ im Europäischen Zentralbankrat werfen die geldpolitisch höchst brisante Frage auf, ob die viel gepriesene Unabhängigkeit der für die europäische Geldpolitik seit 1999 verantwortlichen Instanz – EZB bzw. ESZB (im Folgenden kurz auch: „Eurosystem“) – noch etwas wert ist.
Es muss daran erinnert werden, dass neben der Verpflichtung von EZB/ESZB auf das vorrangige Ziel der Preis(niveau)stabilität ihre politische Unabhängigkeit gegenüber allen politischen Instanzen auf nationaler wie auf EU-Ebene bei der Schaffung des Euro als entscheidender Baustein für eine stabilitätsorientierte gemeinsame Geldpolitik in Europa gefeiert wurde. Zudem galten beide Elemente als unverzichtbare Voraussetzungen für die Zustimmung Deutschlands zur Aufgabe der D-Mark. Es gab zwar in der Wissenschaft warnende Stimmen, dass die Unabhängigkeit einer Zentralbank nicht allein durch gesetzliche Bestimmungen garantiert werden könne. Vielmehr bedürfe es darüber hinaus eines dauerhaften politischen Konsenses, dass man die Unabhängigkeit der Zentralbank nicht nur de jure verankern, sondern auch de facto bewahren und politisch respektieren müsse. In politischen Kreisen herrschte aber seinerzeit auch in Deutschland die Überzeugung vor, dass die (weitgehende) Übernahme des „Modells der Deutschen Bundesbank“ in die neue gemeinsame Geldordnung dafür sorgen werde, dass sich die ,deutsche Tradition“˜ einer stabilitätsorientierten Geldpolitik auch unter dem Regime des Euro fortsetzen werde.
Die Unabhängigkeit des Eurosystems im Maastrichter Vertrag
In der Tat haben der Maastrichter Vertrag – dessen einschlägige Passagen über die Geldpolitik auch in allen nachfolgenden Vertragsreformen nicht verändert wurden – und das Statut der Europäischen Zentralbank (EZB) bzw. des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB), das sich aus der EZB und den nationalen Zentralbanken zusammensetzt, dieser Sichtweise in vollem Umfang Rechnung getragen. So sind ESZB und EZB (laut Art. 123 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität verpflichtet; nur „soweit dies ohne Beeinträchtigung“ dieses Ziels möglich ist, dürfen ESZB/EZB „die allgemeine Wirtschaftpolitik in der Union“ unterstützen. Zentral ist sodann vor allem die Festlegung in Art. 130 AEUV, dass „bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Verträge und die Satzung … übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten weder die Europäische Zentralbank noch eine nationale Zentralbank … Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen“ dürfen. Umgekehrt verpflichtet Art. 130 AEUV die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie der Regierungen der Mitgliedstaaten dazu, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken zu beeinflussen. Diese Bestimmungen sollen die sog. institutionelle Unabhängigkeit des Eurosystems sichern. Hinzu tritt die funktionelle Unabhängigkeit, die dem Eurosystem die Entscheidungsfreiheit über seinen Handlungsrahmen und den Einsatz der geldpolitischen Instrumente verleiht. Dabei dürfen EZB und nationale Notenbanken den öffentlichen Haushalten nach Art. 123 AEUV keine Kredite gewähren; Ankäufe von Staatspapieren sind nur zu geldpolitischen Zwecken (Offenmarkt-Politik), nicht aber zur Finanzierung der Mitgliedstaaten, erlaubt. Ergänzend besteht eine finanzielle Unabhängigkeit, wonach das Kapital der EZB allein von den nationalen Zentralbanken gezeichnet worden ist und sich das Eurosystem ausschließlich aus eigenen Erträgen finanziert. Ein gewisses Einfallstor für politische Einflüsse besteht allerdings im Bereich der sog. personellen Unabhängigkeit, da die Mitglieder der Beschlussorgane von EZB und nationalen Zentralbanken sämtlich von politischen Entscheidungsträgern bestimmt und ernannt werden. Die dadurch gegebenen Gefahren für eine ,Politisierung“˜ der Geldpolitik sollen durch Vorschriften über eine relativ lange Amtsdauer (grundsätzlich acht Jahre) und das Verbot einer Wiederernennung relativiert werden. Einer Publikation der Deutschen Bundesbank („Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion“) zufolge garantieren diese Bestimmungen „im Ergebnis …, dass eine unabhängige und von politischen Einflüssen freie Amtsführung möglich ist“ und dass das Eurosystem „insgesamt … mit einer umfassenden Unabhängigkeit ausgestattet ist, die in dieser Form weltweit wohl beispielhaft ist“.
Die Realität: zunehmende Politisierung der EZB
Tatsächlich hat sich die EZB allerdings in den 12 Jahren ihres Bestehens immer wieder erheblichen Einflussversuchen seitens der Politik ausgesetzt gesehen. Das begann bereits bei der Bestimmung des ersten EZB-Präsidenten, als Frankreich versuchte, mit massivem Druck einen eigenen Kandidaten (Jean-Claude Trichet) durchzusetzen. Die Mehrheit der anderen Gründungsmitglieder votierte dagegen für den Niederländer Wim Duisenberg. Das Ergebnis war ein fauler Kompromiss, bei dem zwar Wim Duisenberg für eine volle Amtszeit von acht Jahren zum EZB-Präsidenten ernannt wurde, dies jedoch durch eine ,inoffizielle“˜ Vereinbarung flankiert wurde, derzufolge Duisenberg nach der Hälfte dieser Periode zurücktreten und den Platz für Trichet freimachen sollte – was nach einigen Meinungsverschiedenheiten auch tatsächlich erfolgte. Auch in der Folgezeit haben Politiker der Mitgliedstaaten verschiedentlich versucht, das Eurosystem zu einer lockereren Geldpolitik anzuhalten; zudem wurde wiederholt gefordert, die Zielformulierung für das Eurosystem aufzuweichen und durch Einbeziehung des Beschäftigungsziels zu ergänzen. Im Ganzen haben allerdings EZB bzw. ESZB solchen Versuchen politischer Einflussnahme bis 2008 erfolgreich widerstanden.
Seither hat die EZB freilich ihre Unschuld zunehmend aufs Spiel gesetzt. 2008 ging es zunächst nur um einen stark expansiven Kurs der Geldpolitik im Zuge der Maßnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Ab 2010 hat dann die sogenannte „Eurokrise“ die Unabhängigkeit des Eurosystems in entscheidendem Maße untergraben. Diese „Eurokrise“ – die in Wirklichkeit keine Krise „des Euro“ ist, sondern eine Schuldenkrise einzelner Euro-Mitgliedsländer – hat zum Einen dazu geführt, dass nicht nur die Regierungen der Euro-Zone das in Art. 125 AEUV verankerte No-Bail-Out-Verbot missachtet und umgangen haben. Zum Anderen aber hat sich auch das Eurosystem massiv in die Staatsfinanzierung der Problemländer einbinden lassen und dadurch die strikte Trennung von Geld- und Finanzpolitik, die stets als eine fundamentale Voraussetzung echter Zentralbankautonomie betrachtet wurde, aufgelöst.
Von 2010 bis Mitte September 2011 hat die EZB Staatsanleihen in einem Umfang von rd. 140 Mrd. € gekauft. Sie hat damit zumindest de facto, wenn nicht gar de jure, gegen das ausdrückliche Verbot eines Ankaufs von Staatsanleihen gem. Art. 123 AEUV verstoßen. Erfolgte der Erwerb von Staatsanleihen zunächst nur zugunsten Griechenlands, so wurden die Ankäufe mit zunehmender Zuspitzung der Verschuldungsprobleme anderer Euro-Länder dann auch auf Staatsanleihen aus Irland und Portugal sowie in den letzten Wochen auch aus Spanien und Italien ausgeweitet. Inzwischen gilt das Eurosystem vielen als eine „Bad Bank“, die nicht nur gewaltige Beträge an zweifelhaften Aktiva in ihren Beständen hält, sondern bei der im Falle eines Staatsbankrotts von Schuldnerländern vielleicht sogar die finanzielle Solidität in Frage stünde. Auch für die Bundesbank, deren Forderungen gegen Notenbanken anderer Euro-Länder nach Angaben des früheren Bundesbank-Präsidenten Helmut Schlesinger seit Beginn der „Euro-Krise“ massiv gewachsen sind (einschließlich der Forderungen aus dem sog. Target-Überweisungssystem in der Eurozone von 18 auf 338 Mrd. Euro), sind dadurch gewaltige Vermögensrisiken entstanden.
In allen Fällen haben zwar die deutschen Vertreter im Europäischen Zentralbankrat – der frühere Bundesbankpräsident (A. Weber) wie auch sein Nachfolger (J. Weidmann) und das Direktoriumsmitglied (J. Stark) – gegen diese Ankäufe gestimmt, z.T. unterstützt von den Zentralbankern aus den Niederlanden und Luxemburg. Sie konnten sich jedoch gegen die – von südeuropäischen Ländern dominierte – Mehrheit des ESZB-Rates nicht durchsetzen. Gerechtfertigt wurden die Käufe mit fadenscheinigen Begründungen wie z.B. „Störungen in einigen Marktsegmenten“ oder „weil die Übertragung der zinspolitischen Impulse gestört“ sei. Inwieweit solche geldpolitischen Rechtfertigungen mit dem AEUV vereinbar sind, mag hier offen bleiben; auf jeden Fall verstoßen die Ankäufe von Staatsanleihen der Krisenländer gegen den Geist des Vertrages von Maastricht. „Mit Geldpolitik im engeren Sinne hat die Kreditpolitik der EZB nicht mehr viel zu tun“, kritisiert Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Und „wer in diesen Tagen mit früheren deutschen Notenbankern spricht, dem schlägt das blanke Entsetzen entgegen“ (M. Kurm-Engels, Handelsblatt v. 15.08.2011).
Notenbankautonomie – antiquiertes Relikt oder unverzichtbares Element einer ,guten“˜ Geldpolitik?
Ist die Autonomie der Notenbank nun vielleicht doch ein überholtes Modell? Glauben die Deutschen, wie kürzlich kommentiert wurde, „an den Sinn einer Institution, die sich längst verflüchtigt hat“ (F. Lübberding, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.09.2011)? Sind all die bereits begangenen Verstöße gegen den Geist – und teilweise auch gegen den Buchstaben – des Maastrichter Vertrages letztlich – um ein Lieblingswort der Bundeskanzlerin zu verwenden – „alternativlos“ und deswegen entschuldbar? Wollen Jürgen Stark und mit ihm viele andere Deutsche, um noch einmal F. Lübberding zu zitieren, „eine EZB, die ihren Sinn in etwas sucht, was schon lange verloren gegangen ist: nämlich durch Stabilitätspolitik Staatspleiten unmöglich zu machen“?
Wer so argumentiert, übersieht den eigentlichen Sinn der Notenbankautonomie. Es geht nicht um die Verhinderung von Staatspleiten, sondern um die Verhinderung einer Inflation, die durch eine von der Notenbank finanzierte Staatsverschuldung ausgelöst werden könnte. Natürlich besteht ein indirekter Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Inflationseffekten, wenn nämlich die Notenbank eine Verschuldung der öffentlichen Haushalte durch Geldschöpfung finanziert; die Währungsgeschichte belegt, dass alle großen Inflationen Fiskalinflationen waren, also durch exzessive Staatsverschuldung ausgelöst wurden. Entscheidend ist allerdings, dass hierfür das Geldschöpfungsmonopol der Notenbank missbraucht wurde. Eine de jure unabhängige Notenbank ist zwar keine Garantie für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik; hinzu treten müssen Personen an der Spitze der Notenbank, die den ihnen verliehenen Spielraum auch zu nutzen bereit sind, und zwar ggfs. auch im Konflikt mit den Zielen der Finanzpolitik. Wird aber die Unabhängigkeit der Notenbank zur Disposition gestellt, so entfällt das entscheidende Bollwerk gegen die allfälligen Versuchungen für Politiker, sich der Geldpolitik als eines bequemen Mittels der Staatsfinanzierung zu bedienen.
Das zentrale Problem: Verlust an Glaubwürdigkeit
Die EZB befindet sich seit anderthalb Jahren auf einem gefährlichen Weg. Sie hat es zugelassen, dass ein gewaltiger Überschuss an Zentralbankgeld entstanden ist, der auf längere Sicht zwangsläufig inflationäre Wirkungen hervorrufen würde. Natürlich hätte die EZB es in der Hand, diese Überliquidität mit einer konsequenten „exit“-Strategie instrumentell zu beseitigen; entscheidend ist aber der – bislang nicht erkennbare – Wille, diesen Weg konsequent einzuschlagen. Vor allem aber müsste sich die EZB umgehend von ihrer Einschaltung in die Finanzierung der überschuldeten Euro-Länder verabschieden. In beiderlei Hinsicht sind mehr als Zweifel angebracht. Aus der Theorie der Geldpolitik wie aus der Historie ist hinreichend bekannt, dass das wichtigste Kapital einer Notenbank ihre Glaubwürdigkeit ist und dass es lange braucht, um eine solche Glaubwürdigkeit aufzubauen. Ist sie aber einmal verspielt, so wird es überaus schwer, sie wieder zu gewinnen. Der erste EZB-Präsident, Wim Duisenberg, hatte in den vier Jahren seiner Amtszeit wesentlich dazu beigetragen, den guten Ruf der Bundesbank als Garant einer konsequenten Stabilitätspolitik weitgehend auf die EZB zu übertragen. Sein Nachfolger hat leider entscheidend dazu beigetragen, den guten Ruf der EZB zu verspielen. Insofern hinterlässt Jean-Claude Trichet dem künftigen EZB-Präsidenten, dem Italiener Mario Draghi, ein schweres Erbe. Und ob ausgerechnet ein Europäischer Zentralbankrat, in dem nicht nur der EZB-Präsident und sein Vize aus Problemstaaten stammen, sondern auch die Südländer insgesamt ein klares Übergewicht haben, rasch auf den Pfad der geldpolitischen Tugend zurückkehren wird, hinter diese Frage gehört wohl mehr als ein Fragezeichen. Es wäre auf jeden Fall fatal für den Euro und Europa, wenn es demnächst heißen würde: „Autonomie der Notenbank – wohin bist Du entschwunden?“
Dem Artikel von Rolf Caesar ist voll und ganz zuzustimmen. Man rätselt über die Illusion deutscher Politiker, die offenbar tatsächlich geglaubt haben, man könne die Tradition der „deutschen Stabilitätskultur“ in ein Gesetz gießen, das dann von allen „Südländern“ befolgt wird. Es bleibt jedoch ein Problem: Eine Währungsunion benötigt einen Garantiemechanismus für nationale Staatsschulden; und weil die Fiskalpolitik in Europa sich nicht auf einen effizienten Rettungsschirm einigen kann, wird halt die EZB in die Rolle des Lender of Last Resort gedrängt.