“1. Würzburger Ordnungstag“
Baustelle Europa

Die Stimmung kippt

Seit rund zehn Jahren lässt die EU-Kommission regelmäßig Umfragen in den Mitgliedsländern durchführen, um die Stimmungslage bei den Bürgern zu ermitteln. Dieses sogenannte „Euro-Barometer“ untergliedert sich in zahlreiche Einzelfragen, die von der Beurteilung der eigenen Lebenssituation über das Vertrauen in nationale und europäische Institutionen bis in die Bewertung einzelner Politikbereiche reicht. Die zentrale Frage dabei lautet, ob die EU ganz allgemein bei den Bürgern ein positives oder negatives Bild hervorruft.

Bei den Antworten auf diese Frage ist es über die Zeit zu dramatischen Verschiebungen gekommen. Hatten im Frühjahr 2002 noch fast 50 % der Bevölkerung ein positives Bild von der EU, so ist dieser Anteil bis zum Herbst 2012 auf 30 % zusammengeschrumpft. Im Gegenzug stieg der Anteil der Bürger, die ein negatives Bild von der EU haben, von 14 % auf 29 % (Abbildung 1).[1]

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Man könnte vermuten, dass die Eintrübung des Bildes in erster Linie auf einer zunehmend kritischen Einstellung gegenüber dem Euro zurückzuführen sei, doch diese Vermutung bestätigt sich nicht. Zwar ist auch die Zustimmung zur Währungsunion rückläufig, aber bei Weitem nicht so stark wie die zur EU im Allgemeinen. Im Frühjahr 2006, als die heutige Schuldenkrise im Euro-Raum noch unvorstellbar erschien, waren 59 % aller Befragten für und 34 % gegen die Währungsunion; im Herbst 2012 war der Anteil der Befürworter lediglich auf 53 % gesunken und der Anteil der Kritiker auf 40 % gestiegen.

Hinweise darauf, was den Bürgern an der gegenwärtigen Entwicklung in der Europäischen Union missfällt, liefern die Befragungsergebnisse zu den Eigenschaften, die der Europäischen Union zugeschrieben werden (Tabelle 1). Demnach wird die EU von der Mehrheit der Bürger zwar als modern und demokratisch wahrgenommen, aber sie gilt zugleich als ineffizient und technokratisch.

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Das Stimmungstief, in dem sich die Europäische Union offenkundig befindet, weckt Erinnerungen an die 1970er Jahre, als die EU in den Augen der Bürger weitgehend gleichgesetzt wurde mit einer überbordenden Regulierungswut der Brüsseler Bürokraten und einer monströsen Agrarpolitik, die durch Milchseen und Butterberge gekennzeichnet war. Die Wende brachte damals das sogenannte Binnenmarktprogramm, das im Jahr 1985 von der EU-Kommission unter Jaques Delors verabschiedet wurde. Zwar waren Agrarpolitik und Brüsseler Bürokratie nicht vergessen, aber als positive Elemente prägten jetzt vor allem die Abschaffung der Grenzkontrollen und die Reisefreiheit innerhalb der EU das Bild. Später kam dann auch noch die gemeinsame Währung hinzu, die zwar in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden einen wehmutsvollen Abschied von der eigenen Währung bedeutete, die aber der Idee der europäischen Integration insgesamt neuen Glanz verlieh.

Mittlerweile sind wir offenbar wieder im Stimmungstief angekommen. Diesmal ist es allerdings so ausgeprägt, dass EU-Kommissar Günther Oettinger die gesamte EU kürzlich als „Sanierungsfall“ gekennzeichnet. Es gibt also allen Grund für eine grundlegende Neubesinnung darüber, wo die eigentlichen Aufgaben der Europäischen Union liegen – und wo nicht.

Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz

Zu dem sich verschlechternden Bild der EU trägt sicherlich bei, dass die Brüsseler Regulierungsexzesse mittlerweile wieder zunehmen. Wenn die EU-Kommission beispielsweise in ihrer Verordnung Nr. 509/200 6 festlegt, dass eine echte Pizza Napoletana einen Durchmesser von maximal 35 cm aufweisen darf, im Inneren 0,4 cm dick zu sein hat (+/–10 %) und weich und elastisch sein und sich wie ein Buch zusammenklappen lassen soll, dann mag man sich fragen, ob es keine drängenderen Probleme gibt, um die sich Brüssel kümmern sollte. Auch der Sinn der EU-weit geltenden Seilbahnverordnung erschließt sich nicht jedermann, wenn sie beispielsweise die Bundesländer Berlin und Brandenburg dazu zwingt, entsprechende Sicherheitsvorschriften zu erlassen, obwohl es in diesen Ländern gar keine Seilbahnen gibt. Der jüngste Beitrag zum Kuriositätenkabinett war der Vorstoß aus Brüssel, offene Karaffen mit Speiseöl von Europas Restauranttischen zu verbannen. Sie hat von diesem aberwitzigen Vorschlag zwar wieder Abstand genommen, aber bei der Bevölkerung wecken solche und andere Aktionen den begründeten Verdacht, dass die Brüsseler Regulierungswut wieder und wieder über das Ziel hinausschießt.

Dabei bietet der EU-Vertrag durchaus Anhaltspunkte dafür, in welchen Bereichen Brüssel tätig werden sollte und in welchen eher nicht. In Artikel 5 Abs. 3 des EU-Vertrags heißt es dazu: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“

Wie diese Generalklausel interpretiert werden sollte, lässt sich aus ökonomischer Sicht beurteilen anhand der Theorie des fiskalischen Föderalismus, die vor allem mit den Namen Mancur Olson und Wallace Oates verbunden ist. Sie haben herausgearbeitet, dass es für die optimale Aufgabenteilung zwischen verschiedenen Regierungsebenen darauf ankommt, eine möglichst große Kongruenz zwischen den Nutznießern und den Zahlern der betreffenden öffentlichen Leistung herzustellen. Dieses sogenannte Prinzip der fiskalischen Äquivalenz kann als ökonomische Spezifikation des juristischen Begriffs der Subsidiarität angesehen werden.

Die Erweiterung der Europäischen Union von ursprünglich sechs auf heute 28 Mitgliedsstaaten hätte es eigentlich angezeigt erscheinen lassen, das Prinzip der Subsidiarität zu stärken. Doch da das mehr oder weniger zwangsläufig auf eine Schwächung der EU-Kommission und anderer zentraler Institutionen (einschließlich des EuGH) hinausgelaufen wäre, hat sich die Politik in Europa in eine andere Richtung entwickelt.

Die Subsidiarität steht Kopf

Wenn man das Raster der Theorie des fiskalischen Föderalismus anlegt, können die verschiedenen Politikbereiche in drei Kategorien eingeteilt werden. In die erste Kategorie fallen Politiken, die sinnvollerweise auf der Gemeinschaftsebene angesiedelt sein sollten:

  • Ausgeprägte Effizienzvorteile dürfte eine gemeinsame Außenpolitik der EU sowie eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bieten.
  • Analoge Argumente gelten für den Bereich der Handelspolitik. Auch hier wird die Durchsetzungskraft auf internationaler Ebene bei einer gemeinschaftlich organisierten Politik deutlich stärker sein als bei zersplitterter nationaler Einzelpolitik.
  • Ein weiterer Politikbereich, in dem sich starke ökonomische Vorteile durch Zentralisierung ergeben dürften, ist die Wettbewerbspolitik. Sie dient der Wahrung der Handelsfreiheit und ist daher ein wichtiges Instrument zur Sicherung der Grundprinzipien des gemeinsamen Marktes.

In die zweite Kategorie fallen Politiken, die teilweise auf Gemeinschaftsebene und teilweise auf nationaler Ebene angesiedelt sein sollten:

  • In der Verkehrspolitik sollte zwischen der Verkehrsordnungspolitik und der Infrastrukturpolitik unterschieden werden. Für eine gemeinschaftliche Verkehrsordnungspolitik gelten ähnliche Argumente wie für die Wettbewerbspolitik. Bei der Verkehrsinfrastruktur dagegen sind die Nutznießer in erster Linie innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten anzutreffen, so dass die Ausgestaltung als auch die Finanzierung in diesem Bereich den Mitgliedsstaaten vorbehalten werden sollte.
  • Welche Bereiche der Umweltpolitik in die Kompetenz der EU fallen sollten, hängt wesentlich davon ab, ob die Umweltschäden regional, national oder international streuen. So sollte sich Brüssel aus den Entscheidungen über Umweltauflagen in Bezug auf stehende Gewässer, Boden, regionale Ökosysteme oder Lärmbelästigung heraushalten. Entscheidungen über die Belastung fließender Gewässer sollten, soweit diese Gewässer nationale Grenzen überqueren, bilateral getroffen werden. Der Klimaschutz dagegen wäre eigentlich eine Aufgabe für eine globale Weltregierung. Doch da es eine solche nicht gibt, ist hier eine Gemeinschaftskompetenz sinnvoll.
  • Bei der Regionalpolitik ist zu unterscheiden zwischen der Finanzierung und der Spezifizierung der jeweiligen Maßnahmen. Soweit mit der Regionalpolitik Umverteilungsziele zwischen den Mitgliedsstaaten verfolgt werden, müssen Mittel von den reicheren in die ärmeren Mitgliedsstaaten umgelenkt werden, was nur bei zentraler Kompetenz möglich erscheint. Wofür das Geld dann konkret ausgegeben wird, sollte allerdings nicht in Brüssel, sondern vor Ort entschieden werden, denn dort ist das Wissen darüber, welche Projekte sinnvoll und welche weniger sinnvoll sind, am größten.
  • Einen Mischbereich stellt auch die Forschungs- und Technologiepolitik dar. Nur im Bereich der Grundlagenforschung könnte eine Gemeinschaftspolitik ökonomisch sinnvoll sein, nicht dagegen bei der angewandten Forschung.

In die dritte Kategorie fallen Politiken, die ausschließlich auf nationaler Ebene oder sogar noch darunter angesiedelt werden sollten, da eine Übertragung von Kompetenzen auf die EU mit erheblichen Wohlfahrtsverlusten verbunden sein dürfte:

  • Keinerlei ökonomische Zentralisierungsvorteile sind in der Agrarpolitik zu erkennen, denn die Nutznießer lassen sich innerhalb der nationalen Ländergrenzen recht eindeutig identifizieren. Darüber hinaus weist die Agrarproduktion ausgeprägte nationale Besonderheiten auf, die es wenig sinnvoll erscheinen lassen, die Agrarpolitik beispielsweise der Mittelmeerländer mit der Agrarpolitik in Mittel- und Osteuropa in einen Topf zu werfen.
  • Analoge Argumente gelten für alle anderen Formen sektoraler Industriepolitik. Welche Vorteile es bringen soll, die Politik für die Stahlindustrie auf europäischer und nicht auf nationaler Ebene festzulegen, ist schwer ersichtlich.

Wenn man die tatsächliche Kompetenzverteilung in der Europäischen Union unter die Lupe nimmt, kann man fast den Eindruck gewinnen, das Prinzip der Subsidiarität sei auf den Kopf gestellt. Die Agrarpolitik verschlingt immer noch rund 40 % des gesamten EU-Haushalts, während eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik praktisch nur auf dem Papier existiert. Lediglich die Handelspolitik und die Wettbewerbspolitik sind in der EU dort angesiedelt, wo sie nach der Theorie des fiskalischen Föderalismus hingehören, nämlich auf der gemeinschaftlichen Ebene.

Auch innerhalb derjenigen Politikbereiche, die hier in die Kategorie 2 eingeordnet wurden, steht das Subsidiaritätsprinzip gelegentlich Kopf. So ist die Forschungs- und Technologiepolitik, die von der Europäischen Union selbst betrieben wird, im Durchschnitt deutlich stärker auf die angewandte Forschung und weniger auf die Grundlagenforschung ausgerichtet als die nationalen Forschungs- und Technologiepolitiken. In der Regionalpolitik, die im Wesentlichen über die Strukturfonds abgewickelt wird, entscheidet Brüssel nicht nur über die Finanzierung, sondern auch über die Ausgestaltung der einzelnen Maßnahmen mit. Auch im Bereich der Umweltpolitik greift die EU massiv in Bereiche ein, die besser auf nationaler Ebene geregelt werden sollten. Ein Beispiel dafür ist die Rasenmäherverordnung der EU, nach der die Geräuschemission von Rasenmähern auf der dünn besiedelten spanischen Meseta nicht höher sein darf als in den dicht besiedelten Niederlanden.

Wie ein neuer Aufbruch gelingen kann

Wie die wirtschaftspolitischen Kompetenzen in der EU tatsächlich verteilt sind, dürfte den meisten Bürgern, die vom Eurobarometer befragt werden, weitgehend unbekannt sein. Sie scheinen aber, wie die zitierten Befragungsergebnisse belegen, durchaus ein Gespür dafür zu haben, ob die Grundstruktur der politischen Aufgabenteilung in Europa adäquat ist oder nicht. Das zunehmende Unbehagen über den Weg, den Brüssel geht, ist unübersehbar geworden. Und das Unbehagen ist dort an größten, wo sich die EU übermäßig zentralistisch gebiert.

Die verschiedenen Institutionen in der Europäischen Union wären also gut beraten, über eine Neujustierung der Kompetenzverteilung zwischen gemeinschaftlicher und nationaler Ebene nachzudenken. Je stärker dabei die Grundprinzipien der Theorie des fiskalischen Föderalismus zur Geltung kommen und je besser es gelingt, das Subsidiaritätsprinzip wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, desto größer dürfte die Chance der EU sein, aus dem Stimmungstief herauszukommen und von den Bürgern wieder stärker mit positiven Assoziationen belegt zu werden.

Dass die hier skizzierten Strukturreformen durchaus in Einklang stehen mit den Präferenzen der Bürger in der EU, zeigt ein letzter Blick auf das Eurobarometer vom Herbst 2012. Frage 13 aus dieser Erhebung lautet: Was bedeutet die EU für Sie persönlich? Den höchsten Anteil der Nennungen (Mehrfachnennungen möglich) erhielt dabei mit 42 % „Die Freiheit, überall innerhalb der EU reisen, studieren und arbeiten zu können“. Auf Rang 2 folgt mit 35 % „Der Euro“. Rang 3 unter den positiv belegten Werten erreicht mit 26 % der Begriff „Friede“. Unter den negativen Werten ragen die Begriffe „Geldverschwendung“ mit 27 % und „Bürokratie“ mit 23 % hervor.

Hinweis:

Kurzfassung eines Beitrags, der unter dem Titel „Baustelle Europa – Subsidiarität als Konstruktionsprinzip“ in der Zeitschrift „ Wirtschaftspolitische Blätter“, Jg. 60 (2013), Heft 2 erschienen ist.



Fußnoten:

[1]   Die Werte in Abbildung 1 und in den nachfolgenden Tabellen addieren sich nicht zu 100 %, da die neutralen und die unentschiedenen Bewertungen hier nicht ausgewiesen sind.

 

Beiträge des “1. Würzburger Ordnungstages“:

Norbert Berthold: Das Tarifkartell lebt (noch). Tarifeinheit oder Koalitionsfreiheit?

Jan Schnellenbach: Steuerwettbewerb ist möglich und sinnvoll

Wolfgang Scherf: Chancen und Risiken des Steuerwettbewerbs

Henning Klodt

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