Varianten des Kapitalismus
Wir sind die 99 Prozent.
Rettet „Occupy Wall Street“ die Marktwirtschaft?

„Save capitalism from crony capitalists.“ (Nicholas D. Kristof)

Die Marktwirtschaft ist in der Kritik, wieder einmal. Das ist trotz Krise rätselhaft, zumindest hierzulande. Europa leidet darunter, dass die Regierungen viel zu viel Geld ausgegeben haben. Die gegenwärtige Staatsschuldenkrise ist eine Krise der Politik. Bisher ist die Welt mit marktwirtschaftlichen Ordnungen sehr gut gefahren. Bei Wachstum und Wohlstand kann ihr kein anderes System das Wasser reichen. Aber sie hat auch Achillesfersen. Die eine ist altbekannt: Einkommen und Vermögen sind inter-personell ungleich verteilt. Eine andere hat die Finanzkrise noch einmal verdeutlicht: Marktmacht kann Marktwirtschaften zerstören. Die „Occupy Wall Street“-Bewegung legt den Finger in diese Wunden. Ballt sich im Finanzsektor wirtschaftliche Macht, werden Einkommen und Vermögen ungleicher verteilt. Ein Abbau der Marktmacht systemrelevanter Banken verringert die ungleiche Verteilung und stabilisiert marktwirtschaftliche Ordnungen. Damit stellt sich die Frage: Rettet „Occupy Wall Street“ die Marktwirtschaft?

Empirische Fakten

Die Welt hat sich seit Mitte der 70er Jahre distributiv verändert. Einkommen und Vermögen werden inter-personell ungleicher verteilt. Das gilt für die meisten Länder der OECD. Am ungleichsten entwickelten sich die angelsächsischen Länder. Dort vollzog sich der größte Sprung in der Ungleichheit allerdings schon in den 70er und 80er Jahren. Weniger ausgeprägt war der Anstieg in den nordischen und kontinentaleuropäischen Ländern. Der Anstieg erfolgte in beiden Ländergruppen aber erst ab Mitte der 90er Jahre. In den mediterranen Ländern ist keine klare Tendenz erkennbar. Bis Ende der 70er Jahre wurden diese Länder gleicher. Danach hat sich nur noch wenig getan. Das eigentliche Interesse konzentriert sich allerdings auf die Entwicklung der Einkommen der obersten 1 %. Seit Mitte der 90er hat sich die Ungleichheit der restlichen 99 % – zumindest für die USA – kaum noch verändert. Die Ungleichheit stieg, weil die Einkommen in der Gruppe der reichsten Einkommensbezieher geradezu explodiert sind.

Die Einkommen der obersten 1 % haben sich länderspezifisch entwickelt. Ähnliche Länder werden zu „Welten“ zusammengefasst. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, mit vier Welten zu operieren. Japan wurde wegen einer ähnlichen Entwicklung in die Gruppe der kontinentaleuropäischen Länder einsortiert. Die Daten reichen – mit Ausnahme der mediterranen Länder – bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. In den angelsächsischen Ländern war die Entwicklung U-förmig und in Kontinentaleuropa L-förmig. In den nordischen Ländern folgte sie einer Mischung aus L- und U-Form. Unklar ist die Entwicklung in der mediterranen Welt. Da für diese Länder erst seit Mitte der 70er Jahre adäquate Daten vorliegen, ist eine sinnvolle Einordnung noch nicht möglich. Die Einkommensanteile der obersten 1 % bewegen sich am aktuellen Rand in den Welten auf unterschiedlichem Niveau. Den größten Anteil ergattern die Top-Einkommensbezieher in den angelsächsischen, den niedrigsten in den nordischen Ländern.

Einkommensungleichheit in den Welten
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Eines ist vor allem für angelsächsische Länder unbestritten: Die obersten 1 % haben seit Mitte der 70er Jahre bis zur Finanzkrise ein größeres Stück des Kuchens erhalten. Diese Entwicklung ist auch in den nordischen und mediterranen Ländern erkennbar, allerdings weniger stark ausgeprägt. In Kontinentaleuropa und Japan ist davon kaum etwas zu sehen. Dort stagnierten die Einkommensanteile auf dem Niveau der 80er Jahre. Interessant ist aber, dass überall, wo sich der Anteil der obersten 1 % erhöht hat, der Mix von Kapital- und Arbeitseinkommen verändert hat. Das Gewicht der Einkommen aus Kapital sank, das der Arbeitseinkommen stieg an. Die Gruppe der „working rich“ hat relativ gewonnen, die der „coupon-clipping rentiers“ verloren. Das sagen die vorliegenden empirischen Studien. Einzelne Länder weichen davon ab. Das gilt etwa für die nordischen Länder Schweden und Finnland. Dort stieg der Anteil der Kapitaleinkommen relativ zum Arbeitseinkommen.

Mögliche Erklärungen

Die Entwicklung der Top-Einkommen ist in der angelsächsischen Welt am stärksten ausgeprägt. Dort stieg ihr Anteil am Volkseinkommen sprunghaft an. Die Japan-Krise zu Beginn der 90er und das Platzen der Dotcom-Blase 10 Jahre später haben diese Entwicklung nur kurz unterbrochen. Mit dem wachsenden Anteil der Top-Einkommen hat sich auch der Mix von Kapital- und Arbeitseinkommen zugunsten der Arbeitseinkommen verändert. Hoch qualifizierte Arbeit ist seit Mitte der 70er Jahre relativ zu Kapital knapper geworden. Das hat offensichtlich auch damit zu tun, dass der Dienstleistungssektor seit Mitte der 70er Jahre stark auf dem Vormarsch ist. Es wird humankapitalintensiver produziert, die Nachfrage nach hoch qualifizierter Arbeit nimmt zu. Diese Entwicklung ist typisch für den Finanzsektor. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Einkommen der Top-Verdiener vor allem in den (angelsächsischen) Ländern explodiert sind, in denen der finanzielle Dienstleistungssektor am stärksten gewachsen ist.

Bei den Top-Verdienern mischen drei Gruppen vorne mit. Einsam an der Spitze stehen „Superstars“ aus Sport, Medien, Musik und Literatur. Sie streichen riesige Einkommen ein, weil sie ihr hohes Humankapital auf weltweiten Märkten in exorbitante Renten ummünzen. Globalisierung und technischer Fortschritt haben „Winner-Take-All“-Märkte geschaffen. An zweiter Stelle rangieren die Top-Einkommens-Bezieher der „Wall-Street“. Investmentbanker, Hedge-Fonds-Manager, Private-Equity-Manager und Partner in Rechtsanwaltskanzleien gehören zu dieser Gruppe. Mit der Expansion des Finanzsektors wurden ihre Dienstleistungen verstärkt nachgefragt. Kein Wunder, dass ihre Einkommen sprunghaft stiegen. Die dritte Gruppe der Top-Verdiener setzt sich aus Vertretern der „Main-Street“ zusammen. Das sind Vorstände großer Aktiengesellschaften. Im Gegensatz zu den ersten beiden Gruppen ist ihr Einkommen nur bedingt marktgetrieben. Gremien bestimmen über ihr Einkommen. Hierarchische Strukturen geben ihnen Marktmacht. Als Agenten beuten sie die Aktionäre als Prinzipale aus.

Die Explosion der Top-Einkommen ist nicht nur marktgetrieben, auch die Politik trägt mit dazu bei, dass die Ungleichheit der Einkommen gestiegen ist. Ein grobes Versäumnis der Politik besteht darin, dass sie einen Keil zwischen Handlung und Haftung treibt. Das ist etwa bei systemrelevanten Banken der Fall, wenn der Staat eine Bestandsgarantie abgibt. Partizipieren die Banker an den Gewinnen, kommen aber bei Verlusten ungeschoren davon, ändert sich ihr Risikoverhalten. Sie gehen riskantere Geschäfte ein. Im Erfolgsfall schlägt sich das in ihrem Einkommen nieder, im Verlustfall tragen Staat und Notenbanken die Risiken. Ein solches Verhalten verzerrt die Einkommensverteilung massiv. Die Bezieher von Top-Einkommen werden begünstigt, ihr Anteil am Volkseinkommen nimmt zu. Das alles gilt allerdings auch für die Vorstände großer Unternehmen im realen Sektor. Garantiert der Staat deren Bestand mit staatlichen Beihilfen, begünstigt er ebenfalls ein riskanteres Geschäftsgebaren des Top-Managements.

Empirisch relativ gut gesichert ist schließlich der Einfluss der marginalen Steuersätze auf den Anteil der obersten 1 % der Einkommensbezieher am Volkseinkommen. Höhere Grenzsteuersätze verringern den Anteil der Bezieher von Top-Einkommen. Die Gründe liegen auf drei Ebenen: Die Anreize mehr und intensiver zu arbeiten, nehmen ab (supply-side effect). Das Einkommen der Top-Verdiener sinkt mit dem Grenzsteuersatz. Daneben unternehmen Top-Einkommensbezieher weniger Anstrengungen, zu versteuerndes Einkommen in andere Formen steuerfreien Einkommens zu verschieben (tax avoidance). Schließlich machen es höhere Steuersätze für Top-Verdiener weniger attraktiv, die Mitglieder von Aufsichtsgremien zu bearbeiten, höhere Gehälter zu bewilligen (rent-seeking). Höhere Grenzsteuersätze könnten mit ein Grund sein, weshalb in den Ländern der nordischen und kontinentalen Welten die Anteile der Top-Verdiener weniger stark gestiegen sind als in den Ländern der angelsächsischen Welt. Dort wurden die Spitzensteuersätze etwa unter Reagan und Thatcher teilweise spürbar gesenkt.

Einkommensteuer in den Welten
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Politischer Handlungsbedarf

In der Diskussion über explodierende Top-Einkommen – vor allem im Finanzsektor – spielt Neid eine große Rolle. Damit geht sie aber am Problem vorbei. Neid ist primär lokal (Tylor Cowen). Die 99 % grämen sich nicht, weil das Einkommen von Josef Ackermann luftige Höhen erreicht. Sie ärgern sich aber, wenn das persönliche Umfeld erfolgreich ist: „Whenever a friend succeeds, a little something in me dies“ (Gore Vidal). Das eigentliche Problem explodierender Top-Einkommen ist die Konzentration von Macht, wirtschaftlicher und politischer. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass Wirtschaftssysteme ins Trudeln geraten, wenn wirtschaftliche Macht stark konzentriert ist und in politischen Einfluss umgemünzt wird, der Strukturen konserviert. Eine extreme Ungleichheit der Einkommen an der Spitze ist allerdings mehr ein Symptom und weniger die Ursache des systemischen Risikos. Um das marktwirtschaftliche System nachhaltig zu stabilisieren ist es notwendig, wirtschaftliche und politische Macht wirksam zu begrenzen.

Das kann auf unterschiedlichen Wegen geschehen. Ein erster, ordnungspolitisch allerdings heikler Weg kuriert an Symptomen. Höhere marginale Steuersätze kappen die wirtschaftlichen Ungleichheiten an der Spitze. Damit sinkt auch deren politischer Einfluss. Thomas Piketty u.a. haben jüngst für die USA optimale Steuersätze von über 80 % für die obersten 1 % errechnet. Geht diese Strategie auf, ist die wirtschaftliche Macht geringer, der lobbyistische Einfluss auf die Politik geht zurück. Der Wettbewerb auf ökonomischen und politischen Märkten wird intensiver, das rent-seeking der Insider wird eingedämmt, die Gefahr eines Systemabsturzes sinkt. Eine solche Politik ist allerdings ein Spiel mit dem Feuer. Hochqualifizierte Arbeitnehmer senken ihr Arbeitsangebot, die Investitionen in Humankapital sinken, riskante unternehmerische Aktivitäten werden im Keim erstickt, hochqualifizierte Migranten machen einen Bogen um solche Länder. Eine Gesellschaft wird zwar gleicher, möglicherweise aber ärmer.

Ein zweiter, ordnungspolitisch besserer Weg setzt an den Ursachen der Konzentration von Macht im finanziellen Sektor an. Handlung und Haftung müssen wieder in Einklang gebracht werden. Die Umsetzung dieser alten ordnungspolitischen Einsicht ist allerdings dornig. Es existiert eine Vielzahl von Vorschlägen. Im Kern geht es immer darum, riskante Geschäfte unrentabler zu machen. Höhere Eigenkapitalquoten für risikogewichtete Aktiva oder eine „schottische“ Haftung der Bankaktionäre würden den Selbstbehalt bei Verlusten riskanter Geschäfte erhöhen. Auf der Negativseite steht die Angst vor einer Kreditklemme. Die Möglichkeit, Banken zu zerschlagen, würde die Gefahr eines Bail-Out durch Staat und Notenbank verringern. Allerdings würde nur die schiere Größe, nicht das ökonomische Scheitern bestraft. Und das ist nur ein Problem von vielen. Dennoch führt kein Weg an einer Entmachtung des Finanzsektors vorbei. Sie bringt eine doppelte Dividende: Mehr Systemstabilität durch geringere wirtschaftliche und politische Macht und eine gleichmäßigere Einkommensverteilung.

Fazit

Die marktwirtschaftliche Ordnung ist in Gefahr. Der Finanzsektor kann das System zum Absturz bringen. In seiner systemrelevanten Position nimmt er den Staat in Geiselhaft. Die stark konzentrierte wirtschaftliche Macht führt zu grotesk ungleich verteilten Einkommen und Vermögen an der Spitze. Damit wächst der Einfluss auf die Politik. Das ist nicht nur eine Gefahr für die Demokratie, das Prinzip „one (wo)man, one vote“ wird ausgehebelt. Es entwickelt sich auch ein „crony capitalism“. Eine Vetternwirtschaft von „crony capitalists“ und Politik schützt die Pfründe der „insider“. Das alles blockiert den Strukturwandel, den Motor wirtschaftlichen Wachstums, konserviert die Einkommensstruktur und behindert den sozialen Aufstieg. Es ist höchste Zeit, Handlung und Haftung wieder in Einklang zu bringen. Das macht es notwendig, Banken finanziell und den Staat fiskalisch an die Kette zu legen. Wenn „Occupy Wall Street“ diesen ordnungspolitischen Weg einschlägt, steigen die Chancen, die Marktwirtschaft vor (finanz)kapitalistischen und politischen Spießgesellen zu retten. Das ist allerdings reines Wunschdenken eines Ökonomen.

9 Antworten auf „Varianten des Kapitalismus
Wir sind die 99 Prozent.
Rettet „Occupy Wall Street“ die Marktwirtschaft?

  1. Sehr schön differenzierter und interessanter Artikel zum Thema. Vielen Dank.

    Die Chancen, dass die Occupy-Bewegung tatsächlich rationale ordnungspolitische Ideen umsetzt, stehen leider schlecht, „Wunschdenken“ ist da m.W. zu mild ausgedrückt.

    Eine Bürger-Bewegung müsste her, von der Basis. Intelligent gemacht und gut finanziert.

  2. Emmanuel Saez und Thomas Piketty zeigen in einem Update einer früheren Studie, dass 95 % des Wachstums der realen Einkommen im Aufschwung der USA seit 2009 den oberen 1 % in der Einkommensverteilung zugute gekommen sind.

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