1. Über Grenzen zu reden ist nötig – auch, aber nicht allein, wegen des gegenwärtigen Migrationsszenarios, in dem der Ruf In Europa nach Wiederaufleben alter nationaler Grenzziehungen und besserem Schutz der EU-Außengrenzen immer lauter wird. Zeitgleich wird der Abbau von Grenzen zwischen den USA, Kanada und der EU im Rahmen von TTIP und CETA mit viel Wind und Gegenwind verhandelt. In der Globalisierungsdiskussion wird dominant auf die Ideen der freiheitlichen Bewegung von Waren, Menschen, Dienstleistungen und Kapital abgehoben, durch die die nationalen Grenzen in ihrer trennenden Wirkung durch ökonomische Kalküle relativiert oder gar gänzlich abgebaut werden. Die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes basiert auf dieser Globalisierungsphilosophie, übertragen auf regionale Integrationsräume, die sich wiederum – siehe EU – nach außen protektionistisch durch trennende ökonomische Grenzen weitgehend abschotten.
2. Politisch gesetzte Grenzen sind Institutionen, also Regeln, die bestimmte Anreize auf das Verhalten von Menschen und Organisationen aussenden und die mit Sanktionen verbunden sind. Grenzen wirken einschließend und ausschließend zugleich. Sie diskriminieren, indem sie Inklusion und zugleich Exklusion betreiben. In einer grenzenlosen Welt, gäbe es sie, findet mithin beides nicht statt. Ist die institutionelle Organisation einer solchen Welt ohne Grenzen, ohne Diskriminierung also, überhaupt machbar und erstrebenswert? Die Message dieses Artikels ist: Eine Welt ohne Grenzen ist nicht nur nicht machbar, sie ist auch nicht erstrebenswert. Dies stimmt auch und besonders für die gegenwärtige Organisation der Migrationsströme nach Deutschland und Europa. Denn wir brauchen Grenzen, wir benötigen Diskriminierung, aber zur Bewertung, welche Grenzen erwünscht sind und welche nicht, kommt es darauf an, in welchem konkreten Kontext und vor allem in welchem Wertesystem Diskriminierung oder Nichtdiskriminierung stattfinden sollen. Denn Grenzen, also Diskriminierungen, sind nicht per se negativ oder positiv zu bewerten.
3. In der realen Welt der Opportunitätskosten, also der Ressourcenknappheit, in der wir leben, sind Grenzen für das Machbare prinzipiell ökonomisch vorgegeben, wenn auch beeinflussbar. Für die aktuellen Migrationsströme, vor allem nach Deutschland, bedeutet dies zunächst, dass die Euphorie der Begrüßenden und deren ehrenamtlichen Aktivitätspotentiale, aber auch die Absorptionsfähigkeit des Beschäftigungssystems sowie die Tragfähigkeit des deutschen Sozialsystems prinzipiell knappe Güter sind, also nicht als grenzenlose Ressourcen zur Verfügung stehen. Bei nicht grenzenlos vorhandenen knappen Ressourcen stellt sich damit zwingend die Frage nach den Grenzen der ressourcenbindenden Zuwanderung. Diese Frage der Migrationsgrenzen und deren Beantwortung wird von den Koalitionsparteien der Regierung verwirrend der Öffentlichkeit präsentiert: Reduzierung der Zuwanderung auf jeden Fall, aber bitte keine absoluten Obergrenzen, wohl aber Kontingente.
4. Man erkennt die semantische Akrobatik, um Klarheit zu vermeiden in der politischen Aussage zwischen „Herz“ und „Verstand“, zwischen Gesinnungsethik, für die man keinen Verstand braucht, und Verantwortungsethik. Obergrenzen, bei denen ja auch Zahlen genannt werden müssen, seien herzlos und politisch gefährlich, weil der zukünftige Migrationsstrom nicht prognostizierbar ist und man keine obergrenzenorientierten Kontrollen und Abschiebepraktiken wünscht.
5. Bei Kontingenten kommen Europa (und andere Länder) ins Spiel. Man will sich die Verantwortung der Migrationslasten innerhalb Europas teilen. Wenn Kontingente als Quoten definiert werden, die innerhalb der EU bei unbegrenzter Zuwanderung die Verteilung der Migranten regeln sollen, gibt es für jedes am Quotensystem teilnehmende Land eine relative Obergrenze bei indeterminierter absoluter Menge an Zuwanderung: Selbst bei konstanter Quote kann die Zuwanderung in ein Land dann steigen und fallen. Die Unbestimmtheit der Zuwanderungsmenge ist also auch beim Kontingent-Ansatz gegeben und hängt u.a. von mindestens zwei Faktoren ab. Erstens von der Absorptionsbereitschaft und -fähigkeit der anderen (EU-)Länder und zweitens von den Präferenzen der Zuwanderer. Innerhalb der EU mit offenen Grenzen kann und wird die Migrantenzuwanderung sogar bei Aufnahmebereitschaft des betroffenen Landes unterwandert, wenn die Migranten in dem Land nicht bleiben wollen und innerhalb weniger Tage sich in das Land ihrer Präferenzen, z. B. nach Deutschland, begeben. So wird dann die Kontingentlösung durch das Arrangement der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit des Binnenmarktes unterlaufen. Da die – nur begrenzt leistungsfähigen – Sozialsystemarrangements innerhalb der EU grundsätzlich dem Bestimmungsland- und nicht dem Herkunftslandprinzip entsprechen, wird die bereits von Milton Friedman artikulierte Feststellung untermauert: Offene Staatsgrenzen und ein offenes Sozialsystem sind nicht kompatibel. Man muss sich für die eine oder die andere Grenze, also gegen die andere oder die eine Ex- und Inklusion entscheiden. Da die Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu den erfolgreichsten Institutionen der EU-Integration anzusehen sind, kann das Kompatibilitätsproblem eigentlich nur durch Zugangsbegrenzung zum Sozialsystem gelöst werden, aber nicht durch die Aufhebung der Grenzenlosigkeit im Binnenmarkt.
6. Die Grenze der Fähigkeit zur Beschäftigungsabsorption der Migranten ist im alternden Deutschland mit vor allem Facharbeitermangel momentan nicht sichtbar. Hier liegen signifikante Beschäftigungsperspektiven. Deshalb kommt es eigentlich weniger auf Migrationsobergrenzen an als vielmehr auf die Frage, wer mit welchen Qualifikationen hereinkommt, damit eine auf die Bedarfe des Aufnahmelandes ausgerichtete kriterienbasierte Selektion gelingt, wie es etwa die großen Einwanderungsländer Australien, Kanada und USA machen. Das könnte durch Kontrollen an den Landesgrenzen vonstattengehen. Weil diese innerhalb des freiheitlichen Schengenraums aber prinzipiell nicht möglich sind, müsste dies dann an den nationalen Schengenaußengrenzen geschehen. Deren Kontrolle unterliegt jedoch wiederum der jeweiligen nationalen Hoheit. Deutschland hat keine Schengenaußengrenze und damit keinen direkten selektiven Zugriff auf Menge und Qualifikationsstruktur seiner Zuwanderer. Die Selektion muss dann im eigenen Lande stattfinden. Das ändert sich auch grundsätzlich nicht, wenn FRONTEX vergemeinschaftet werden sollte.
7. Der Arbeitsmarkt in Deutschland bietet für nicht oder gering qualifizierte Zuwanderer zunächst nur begrenzte Beschäftigungsperspektiven. Diese werden vor allem politisch enger gezogen angesichts des bestehenden Mindestlohns, der mit 8,50 Euro einen erheblichen Teil dieser Migranten von ihren potentiellen Beschäftigungschancen abgrenzt, also diskriminiert. Diese Mindestlohn-Grenze wirkt für einfache Arbeit, die für einen wohl etwa 80%igen Anteil der Migranten relevant ist, mithin beschäftigungsexkludierend und damit automatisch sozialsysteminkludierend: Keine Beschäftigung, dafür dann ALGII bzw. Hartz IV. So zwingt das Mindestlohngesetz die Unternehmer zur Exklusion der einfachen Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt. Die Wirkungen dieser mindestlohnbedingten Diskriminierung sind nicht erwünscht und deshalb integrationspolitisch und gesamtökonomisch absolut kontraproduktiv.
8. Die Bundesarbeitsministerin verteidigt dennoch den Mindestlohn unter der Rubrik „Gerechtigkeit“: Lohnpolitisch dürfe es keine Grenze zwischen Migranten und deutschen Arbeitnehmern geben, man dürfe mithin die Migranten aus Gerechtigkeitsgründen lohnpolitisch nicht gegenüber den deutschen Arbeitnehmern diskriminieren, sondern müsse sie in die „gerechte“ Mindestlohngleichheit inkludieren. Sie versteht nicht, dass sie mit dieser Sozialideologie für die Migranten gerade das Gegenteil bewirkt: Keine Beschäftigung und also auch kein Mindestlohneinkommen. Die Migranten erfahren damit durch eine falsche polit-ideologisch determinierte Fixierung der Lohnuntergrenze eine doppelte Diskriminierung, also eine doppelt benachteiligende Exklusion. Da zudem der Integrationserfolg, der sowohl für die Migranten als auch für die deutsche Gesellschaft elementar wichtig ist, neben der frühen Aneignung von Sprachkompetenz die möglichst frühe Eingliederung in den Arbeitsmarkt erfordert, ist nicht die ideologisch unterfütterte Lohngerechtigkeits-Inklusion, sondern vielmehr die wohlstandsmehrende und integrationsfördernde Beschäftigungs-Inklusion vorrangig. Die Außerkraftsetzung des beschäftigungshemmenden Mindestlohns in Kombination mit flexiblen Beschäftigungsopportunitäten z. B. in der Zeitarbeit oder auch über Werkverträge ist integrationspolitisch angesagt.
9. Das Integrationsproblem wird komplexer durch die Tatsache, dass Zuwanderer in einem freien Binnenmarkt sich möglichst dort niederlassen, wo bereits Zuwanderungs-Cluster aus derselben Herkunftskultur domizilieren. Sie suchen die schnelle Inklusion in ihr vertrautes Umfeld und exkludieren sich damit von der neuen Gesellschaft ihres gewählten Zuwanderungslandes. Dadurch entfällt der integrationsfördernde Lern- und Akzeptanzdruck in Bezug auf das neue Institutionenumfeld. Zudem: Auch wenn es aus menschlichen Gründen verständlich ist, wenn Zuwanderer ihre Familien nachholen, so relativiert auch diese Familienzusammenführung die Anreize zur Integration. Es bilden sich ausgeprägte Parallelgesellschaften, die sich selbst gegenüber der Institutionenumwelt des Aufnahmelandes ausgrenzen, also diskriminieren. Von vielen Verhaltensweisen dieser Art sei das demonstrativ-abschottende öffentliche Tragen von Verhüllungsbekleidung, im Extrem etwa der Burka oder der Nikab, hervorgehoben. Letztere, auch wenn sie einer religiös interpretierten anti-erotischen Begründungsbasis entstammen mögen, verkörpern offene Integrationsverweigerung und rufen als grenzziehende Vehikel zur Desintegrationspermanenz auf. Wenn solche und andere Eigenisolierungen sich mit den Integrationsschwierigkeiten paaren, die von der persönlich exkludierten „Außenwelt“ aus Nachlässigkeit, Desinteresse oder durch bewusst feindliches Agieren auf die Parallelgesellschafts-Mitglieder initiiert werden, dann entsteht explosiver Antiintegrations-Sprengstoff, wie wir ihn in Frankreich, Belgien und anderen Ländern beobachten.
10. Diesen gilt es zu verhindern, indem einerseits bewusst Grenzen gezogen werden, um Integration zu befördern, und andererseits ebenso bewusst aufgehoben werden, um auch genau das zu bewirken. Damit dies klug gemanagt werden kann, bedarf es eines eingehenden Institutionenstudiums von Anreizeffizienz und Anreizperversität der Incentive-Wirkungen von Grenzziehungen. Nichts ist gewonnen, wenn Grenzen per se als trennend und damit integrationsfeindlich angesehen werden und das Grenzenlose per se als verbindend und damit per se als integrationsförderlich.
Blog-Beiträge zur Flüchtlingskrise:
Thomas Apolte: Soziale Marktwirtschaft 2.0. Ein Zweiter Bildungsweg für Flüchtlinge
Norbert Berthold: Flüchtlingskrise: Europa hat keinen Plan
Vertragsbrüche, Solidarität und Mindestlöhne
Juergen B. Donges: Für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik in der EU
Klaus F. Zimmermann: Die Flüchtlingsfrage neu denken
Norbert Berthold: Wolfgang Schäuble tritt eine Lawine los
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Norbert Berthold: Flüchtlingspolitik à la Große Koalition. Eine Chronologie des „organisierten“ Chaos. 3. Update: „Europäische Solidarität auf türkisch“
Jörn Quitzau: Der Flüchtlingsstrom wird das deutsche Demografie-Problem kaum lösen
Dieter Bräuninger, Heiko Peters und Stefan Schneider: Flüchtlingszustrom: Eine Chance für Deutschland
Norbert Berthold: Die „moderne“ Völkerwanderung. Europa vor der Zerreißprobe
Tim Krieger: Grenze zu, Schengen tot (reloaded)
Wolf Schäfer: Migration: Von der Euphorie des Unbegrenzten zur Moral des Machbaren
Thomas Apolte: Chance oder Last? Wie wir die Flüchtlinge integrieren müssen
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Eine Antwort auf „Migration: Grenzen ziehen oder abbauen?“