„Protektionismus ist wie ein Heizlüfter im Iglu. Zunächst wird es angenehm warm, bald darauf bricht einem das Dach über dem Kopf zusammen.“ (Daniel Trefler)
Die Welt der EU ist seit dem 26. Juni 2016 eine andere. An diesem Tag entschieden sich die Briten, die EU zu verlassen. Mit dazu bei trug die Angst vor massenhafter Zuwanderung. An der „Völkerwanderung“ aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika lag es allerdings nicht. Großbritannien gehörte dem Schengen-Raum nie an. Das Unbehagen der Briten liegt tiefer. Es entstand mit der Osterweiterung der EU. Seither kam es zu einer spürbaren EU-Binnenmigration. In der Kritik steht die Personenfreizügigkeit. Die Briten wollen sie loswerden, allerdings erst neuerdings. Das war nach der Osterweiterung noch anders. Damit sind sie nicht allein. Auch die Schweiz, die über den EWR mit der EU verbandelt ist, will sie nicht mehr uneingeschränkt. Zumindest hat das Volk so entschieden. Beide Länder wollen weiter freien Handel und Kapitalverkehr mit der EU. Von uneingeschränkter Personenfreizügigkeit halten sie allerdings nichts. Damit beißen sie aber bei der EU-Kommission auf Granit. Für sie sind die vier Grundfreiheiten nicht verhandelbar. Allerdings scheinen alte Glaubenssätze ins Wanken zu geraten. Immer mehr Ökonomen zweifeln an der „Vierfaltigkeit“ des „Europäischen Binnenmarktes“.
Migration erhöht Wohlstand
Die EU steht in der Kritik. Sie taumelt von Krise zu Krise. Die Risse werden größer (hier). Euro, Brexit und Flüchtlinge sind die Bruchstellen. Dabei wird eines vergessen. Die EU hat mit dem „Europäischen Binnenmarkt“ etwas Einmaliges geschaffen. Güter- und Faktormärkte wurden weit geöffnet. Mehr Wohlstand in den Ländern der EU war das Ziel. Die vier Grundfreiheiten waren das Mittel: Freier Handel mit Gütern und Diensten, freier Kapitalverkehr und Personenfreizügigkeit. Sie standen bisher nicht zur Disposition. Mit den jüngsten Krisen änderte sich das aber. Seit der Finanzkrise steht der freie Kapitalverkehr in der Kritik. Es wird wieder ernsthaft darüber nachgedacht, den Kapitalverkehr zu beschränken. Die geplante Finanztransaktionssteuer ist nur die Spitze des Eisberges. Damit aber nicht genug. Seit der Flüchtlingskrise wird auch versucht, die Personenfreizügigkeit attackiert. Die massiven Ströme an Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika aber auch die Binnenwanderung in der EU versetzen Arbeitnehmer in den Zuwanderungsländern in Unruhe. Die Angst geht um, dass sich ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern, die Löhne sinken und die Arbeitslosigkeit steigt.
Aus ökonomischer Sicht spricht nicht viel dafür, die Freizügigkeit von Personen einzuschränken, den freien Handel aber weiter zu akzeptieren. Wandert homogene Arbeit zu, steigt der Wohlstand im Land. Kurzfristig kommt es zu einem Druck auf die Löhne. Wohlstand wird von Arbeit auf Kapital umverteilt. Die veränderten relativen Preise von Arbeit, Kapital und anderer kurzfristig fixer Faktoren, wie etwa Immobilien, schaffen einen Anreiz, verstärkt in Kapital und Immobilien zu investieren. Inländische Arbeit wird produktiver. Mit der steigenden Nachfrage nach Arbeit erholt sich der Lohn, allerdings mit einer gewissen Verzögerung. Am Ende ist die Beschäftigung höher als zuvor. Längerfristig verliert niemand, aber viele gewinnen. Die Ergebnisse dieser Analyse ändern sich etwas, wenn Arbeit heterogen ist. Dann gibt es nicht nur Gewinner, einige verlieren auch (hier). Einfache inländische Arbeit zählt dazu. Deren Einkommen gehen zurück, wie empirische Studien zeigen. Die Verlierer können allerdings aus den Gewinnen der Zuwanderer, der Eigner von Kapital und anderer kurzfristig fixer Faktoren kompensiert werden.
Spiralen der Intervention
Das alles spricht nicht dafür, die Personenfreizügigkeit einzuschränken. Es ist ein protektionistischer Versuch, den unvermeidlichen strukturellen Wandel aufzuhalten. Der Preis, den eine Gesellschaft dafür zahlen muss, ist allerdings hoch. Sie verzichtet auf Wachstum und Wohlstand. Dennoch kann sie den Motor des Strukturwandels, den Prozess der „schöpferischen Zerstörung“, nicht einfach abstellen. Das ist dann der Fall, wenn sie Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte weiter offenhält. Wird die Migration in der EU eingeschränkt, verändern sich die relativen Preise trotzdem. Der Prozess der Angleichung der Faktorpreise findet so oder so statt. Nur sind es nicht mehr die Wanderungen, die ihn treiben. Europaweiter Handel und Kapitalbewegungen übernehmen diesen Job. Der Harvard-Ökonom Richard B. Freeman stellte schon Mitte der 90er Jahre für die Welt die richtige Frage: „Are Your Wages Set in Beijing?“ (hier). Der Druck auf Löhne und Beschäftigung der Einheimischen ist derselbe. Wer ihn versucht, mit beschränkter Personenfreizügigkeit zu verhindern, muss auch die anderen Grundfreiheiten einschränken. Genau hierin liegt aber die polit-ökonomische Gefahr einer eingeschränkten Personenfreizügigkeit.
Allerdings wirkt Personenfreizügigkeit unter bestimmten Bedingungen dysfunktional. Finden Immigranten keine produktive Beschäftigung, erleidet das Einwanderungsland einen Verlust an Wohlstand. Das tritt immer dann ein, wenn Zuwanderer erst gar nicht in reguläre Arbeit kommen. Übersteigen deren Lohnkosten die Produktivität ihrer Arbeit, ist diese Situation unvermeidlich. Ein wichtiger Grund dafür liegt im Verhalten inländischer Regierungen. Sie versuchen immer wieder, vor allem ihre einheimischen Arbeitnehmer mit geringer Qualifikation vor ausländischer Arbeit zu schützen. Allerdings tun sie das oft mit untauglichen Mitteln. Beliebt sind regulierende Eingriffe in die Arbeitsmärkte. Hohe gesetzliche Mindestlöhne und ein strenger Kündigungsschutz zählen dazu. So wird alles getan, dass vor allem gering qualifizierte Zuwanderer keine reguläre Beschäftigung finden. Sie fallen dem Sozialstaat zur Last. Erst einmal arbeitslos, schlägt die Politik noch einmal zu. Sie hält arbeitslose Zuwanderer und viele Einheimische in der Falle der sozialen Mindestlöhne gefangen. In Deutschland ist es das anreizschädliche Arbeitslosengeld II (hier). Und das alles geschieht im Namen der sozialen Gerechtigkeit.
Erosion des Sozialmodells
Das Unbehagen über die Personenfreizügigkeit in der EU hat noch einen anderen Grund. Er reicht über das ökonomische Unwohlsein hinaus. Wandern Menschen ein, werden Länder heterogener. Die Immigranten bringen ihre eigenen Kulturen, Traditionen, Normen und Regeln mit. Diese speisen sie in den Prozess der gesellschaftlichen Willensbildung ein. Über kurz oder lang ändern sich auch inländische Institutionen („Sozialmodell“). Davor fürchten sich viele in Europa. Sie sind der Meinung, dass Immigranten aus fernen Ländern aus ihren „schlechteren“ in unsere „besseren“ Sozialmodelle einwandern. Das würde die „europäischen“ Sozialmodelle, denen Globalisierung und Demographie schon arg zusetzen, weiter destabilisieren. Dabei wird oft nicht zwischen „Bürgerkriegsflüchtlingen“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ unterschieden. Einerseits leisten die Visegrad-Staaten erbitterten Widerstand gegen die Zuteilung von Flüchtlingen aus humanitären Gründen. Andererseits votierte eine Mehrheit der Briten auch deshalb für den Brexit, weil sie gegen die wirtschaftlich motivierte Binnenwanderung aus Osteuropa ist.
Mit der Personenfreizügigkeit wird Arbeit in der EU mobiler. Das verschärft den institutionellen Wettbewerb der verschiedenen Varianten des „europäischen Sozialmodells“. Der Druck auf die staatliche Umverteilung wächst. Die nordische und kontinentale Variante, die beide relativ viel umverteilen, werden Federn lassen. Dort wächst die Angst, dass der Sozialstaat erodiert. Die trotz allem relativ niedrige inter-regionale Mobilität der Arbeit in Europa deutet darauf hin, dass der Einfluss auf die Heterogenität gering ist. Es ist allerdings denkbar, dass die größere Heterogenität durch die Hintertür in die EU kommt. Dabei spielen humanitär motivierte Flüchtlingsströme, die schwer steuerbar sind, eine wichtige Rolle. Asylbewerber haben nach der Anerkennung und dem Erwerb der Staatsbürgerschaft eines EU-Landes einen Anspruch auf Personenfreizügigkeit in der EU. Die Personenfreizügigkeit deshalb einzuschränken, wäre allerdings völlig überzogen. Zum einen sind die gegenwärtigen humanitären Flüchtlingsströme eher ein temporäres Phänomen. Zum anderen käme eine solche Reaktion einer Akupunktur mit der Gabel gleich. Es gibt sinnvollere Alternativen. Ein verstärkter Kampf gegen die Ursachen der Flucht, mehr Hilfe vor Ort oder in der Region und eine bessere Integration in die Arbeitsmärkte zählen dazu.
Gesteuerte Zuwanderung
Die Protagonisten des „Europäischen Binnenmarktes“ hatten allen Grund, auf Personenfreizügigkeit in der EU zu setzen. Politisch kann sie allerdings nur überleben, wenn eine migrationspolitische Voraussetzung erfüllt ist: Die wirtschaftlich motivierte Zuwanderung von außerhalb der EU muss gesteuert werden. Das erschließt sich auf den ersten Blick ökonomisch nicht. Die theoretisch beste Lösung besteht darin, die Grenzen sowohl im Innern der EU als auch nach außen zu öffnen. Es macht wenig Sinn, die EU gegenüber Drittländern vor Zuwanderung abzuschotten, wenn man weiter intensiv weltweiten Handel betreiben will und auf internationalen Kapitalverkehr setzt. Weltweit offene Güter- und Kapitalmärkte konterkarieren den erwünschten Effekt regulierter Zuwanderung. Wer verhindert, dass gering Qualifizierte aus aller Welt nach Europa kommen, schützt europäische Geringqualifizierte noch nicht vor der weltweiten Konkurrenz. Der Druck auf die Löhne und Beschäftigung einfacher Arbeitnehmer in der EU kommt über den Import von arbeitsintensiven Gütern, die weltweit kostengünstiger produziert werden.
In der Realität muss die Politik allerdings extern auf eine gesteuerte Zuwanderung setzen, wenn sie intern die Personenfreizügigkeit erhalten will. Der Grund liegt auf der Hand: Die Bevölkerung hat Angst vor den ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Zuwanderung. Vor allem einfache Arbeit glaubt, dass ein Stopp gering qualifizierter Zuwanderer in die EU ihren Arbeitsplatz zu den gegenwärtigen Bedingungen erhalten kann. Das ist ein Irrtum. Daneben ist die Befürchtung weit verbreitet, dass massenhafte Zuwanderung die verschiedenen Varianten des „europäischen“ Sozialmodells unterminiert. Die „schlechten“ Sozialmodelle der Zuwanderer würden die „guten“ Modelle der Länder der EU verdrängen. Dafür gibt es empirisch bisher keine Belege. Die Bevölkerung lässt sich wohl nur beruhigen, wenn die Zuwanderung gesteuert wird. Vorbilder könnten Kanada oder auch Australien sein. Über die Kriterien der Arbeitsmigration entscheiden die Länder der EU bisher in eigener Regie. Das wäre allerdings eine der wenigen wichtigen Aufgaben, die künftig zentral von der EU wahrgenommen werden sollte.
Adäquate Reaktionen
Die Personenfreizügigkeit zählt zum Kern des „Europäischen Binnenmarktes“. Und das ist ökonomisch gut so. Vor allem die Angst vor Zuwanderung ist übertrieben. Über die Zahl der „Wirtschaftsflüchtlinge“ müssen die Bürger in der EU entscheiden. Die Immigration bringt beträchtliche Wohlstandsgewinne. Kurzfristig wird allerdings von Arbeit zu Kapital umverteilt. Längerfristig wird Arbeit kompensiert, qualifizierte allerdings mehr als einfache. Die Aufgabe der Politik besteht darin, die Lücke zwischen kurz- und langfristig zu verringern. Wettbewerbliche Güter- und Faktormärkte sind das Mittel der Wahl. Die richtige Antwort auf die Angst vor Zuwanderung ist nicht, die Personenfreizügigkeit einzuschränken, sondern den „Europäischen Binnenmarkt“ zu vervollständigen. Damit die Personenfreizügigkeit nicht dysfunktional wirkt, bedarf es allerdings auch eines anreizkompatiblen Sozialstaates. Eine Kombination aus „Heimatland-Prinzip“ für Zuwanderer und einer Reform der Grundsicherung in eine „aktivierende Sozialhilfe“ ist die adäquate Antwort (hier). Auf diesem Weg wird die Gefahr verringert, dass ausländische Arbeit in die Sozialstaaten einwandert und der inländischen Bevölkerung zur Last fällt.
Es spricht nichts dafür, dass der Widerstand gegen die Personenfreizügigkeit in der EU abnehmen wird. Wie wichtig es Teilen der europäischen Bevölkerung ist, die Zuwanderung aus dem EU-Raum zu begrenzen, zeigt die Entscheidung der Briten, aus der EU auszusteigen. Wer diesem Widerstand die Spitze nehmen will, muss dafür sorgen, dass die Gewinne aus der Zuwanderung anders verteilt werden. Mit einer Zuwanderungsabgabe, wie sie der verstorbene Nobelpreisträge Garry S. Becker schon vor langer Zeit vorgeschlagen hat, existiert ein Weg, die erheblichen Gewinne der Zuwanderer teilweise abzuschöpfen. Diese Mittel könnten genutzt werden, mögliche kurzfristige Verlierer der Zuwanderung zu kompensieren. Gleichzeitig könnte man über die Höhe der Abgabe den Strom der Zuwanderung („Wirtschaftsflüchtlinge“) marktlich steuern. Ein Rückgriff auf marktwidrige Kontingente wäre nicht notwendig. Das macht allerdings eine einheitliche, gesteuerte Zuwanderungspolitik der EU notwendig. Über die Kriterien muss debattiert werden (hier). In einer solchen EU gelten weiter uneingeschränkt die vier Grundfreiheiten. Wer diesen Weg nicht gehen will, muss aus der EU ausscheiden und sein Glück auf eigene Faust oder als assoziiertes Mitglied einer Freihandelszone mit der EU suchen.
Fazit
Der Vorschlag, die Personenfreizügigkeit in der EU zur Disposition zu stellen, ist keine gute Idee. Jeder Versuch sie einzuschränken, löst einen protektionistischen Teufelskreis aus. Die Gefahr ist groß, dass die anderen Grundfreiheiten ebenfalls beschnitten werden („Ölflecktheorie“). Zum „acquis communautaire“ der EU sollten auch künftig die vier Grundfreiheiten zählen. Den Menschen sollte es weiter möglich sein, sich in der EU den Ort frei zu wählen, wo sie sich niederlassen wollen. Das bringt die größten Wohlstandseffekte für die Bürger in Europa. Mögliche Risiken und Nebenwirkungen lassen sich verringern. Wettbewerblichere Güter- und Faktormärkte, das Heimatland-Prinzip bei Sozialleistungen und ein anreizkompatibler Sozialstaat bei der Grundsicherung sind wichtige Zutaten. Die Angst davor, dass zugewanderte „Fremde“ versuchen, negativen Einfluss auf das eigene Sozialmodell zu nehmen, ist unbegründet. Es wird eher ein positiver Druck ausgeübt, das in die Jahre gekommene Modell effizienter zu gestalten. Ein „Gresham’sches“ Gesetz, dass das Schlechte das Gute verdrängt, kann ich bei offenen Märkten nicht erkennen. Wer den Kern des „Europäischen Binnenmarktes“ nicht akzeptiert, sollte die EU verlassen.
Blog-Beiträge des Autors zum Thema:
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