„Soziale Arbeitsmärkte“ (Contra)
„Soziale“ Arbeitsmärkte sind fauler Zauber
„Solidarisches Grundeinkommen“, staatliche Beschäftigung und dezentrale Verantwortung

„Der Sozialismus hat in Amerika nie Wurzeln geschlagen, weil die Armen sich nicht als ausgenutztes Proletariat sehen, sondern als vorübergehend in Verlegenheit befindliche Millionäre.“ (John Steinbeck)

In Deutschland waren im Jahr 2005 über 4,8 Mio. Menschen ohne Arbeit. Mehr als ein Jahr arbeitslos waren fast 1,8 Mio. Arbeitnehmer. Zu Ende des Jahres 2017 belief sich die Zahl der Arbeitslosen auf etwas mehr als 2,5 Mio. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen lag bei etwas mehr als 900.000 Arbeitnehmer. Seit Mitte der 00er Jahre hat sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland fast halbiert. Das war nicht nur, aber auch, das Verdienst der „Agenda 2010“ von Rot-Grün. „Fordern und Fördern“ war deren arbeitsmarktpolitische Philosophie, die sie aus den skandinavischen Ländern importierten. Ein Kernstück war die Grundsicherung für Arbeitssuchende, das Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Das ist ein beachtlicher arbeitsmarktpolitischer Erfolg. Ein Teil der SPD sieht dies anders. Sie fremdelte von Anfang an mit den Arbeitsmarktreformen von Rot-Grün. Zu ihnen zählt(e) auch Andrea Nahles, die heutige Fraktionsvorsitzende der SPD. Hartz IV ist für die Kritiker ein Gesetz gegen Arme und Schwache. Die Linke, die direkte Konkurrenz der SPD, spricht von Hartz IV als „Armut per Gesetz“ (hier). Das schmerzt große Teile der SPD. Sie will die „schlimmsten Auswüchse“ korrigieren. Hartz IV soll reformiert (ersetzt) werden. Die neue GroKo soll es richten. Michael Müller, der Regierende Bürgermeister von Berlin, hat die Diskussion neu entfacht. Er propagiert ein „solidarisches Grundeinkommen“ in Konkurrenz zum ALG II. Es soll als Eckpfeiler eines „sozialen Arbeitsmarktes“ installiert werden. Das ist eine Abkehr von der Grundidee „Fordern und Fördern“ der heutigen Grundsicherung für Arbeitssuchende.

„Sozialer“ Arbeitsmarkt

Trotz der guten Entwicklung auf den Arbeitsmärkten beziehen in Deutschland etwa 1,7 Mio. Arbeitslose das ALG II. Dazu kommen 2,7 Mio. erwerbsfähige Hartz IV-Empfänger. Das sind Arbeitnehmer, die nicht arbeitslos, aber bedürftig sind (hier). Für viele Langzeitarbeitslose ist es nach wie vor schwierig, wieder eine reguläre Beschäftigung zu finden. Die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, die das ALG II bauen soll, ist für diese Arbeitnehmer nicht gangbar. Für die Kritiker von Hartz IV ist deshalb ein „sozialer Arbeitsmarkt“ unverzichtbar. Der Vorschlag eines „solidarischen Grundeinkommens“ will einen (weiteren) staatlich finanzierten Arbeitsmarkt installieren. Den Empfängern von ALG II soll eine dauerhafte, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten werden. Diese Arbeit soll vor allem im kommunalen Bereich angesiedelt werden. Geplant ist ein staatliches Angebot an gemeinnütziger Arbeit, die private Unternehmen nicht anbieten. Diese Lücke zu finden, dürfte allerdings nicht ganz leicht sein. Die staatlich Beschäftigen sollen tariflich entlohnt werden, mindestens in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Der liegt allerdings nur für Alleinstehende über dem „sozialen“ Mindestlohn des ALG II (hier). Die Empfänger von Hartz IV sollen sich frei entscheiden können, ob sie weiterhin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende oder aber das „solidarische Grundeinkommen“ in Anspruch nehmen wollen. Wer das neue Angebot nicht wahrnehmen will oder kann, erhält weiter die bisherigen Leistungen des ALG II.

Die Diskussion um eine neue Grundsicherung für Arbeitssuchende hat gerade erst angefangen. Wo sie enden wird, ist unklar. Auch in der SPD gehen die Meinungen auseinander. Olaf Scholz, der Finanzminister, will am „Fordern und Fördern“ von Hartz IV festhalten. Hubertus Heil, der Arbeits- und Sozialminister, setzt offensichtlich nicht allein auf die staatliche Karte. Private Unternehmen müssen mit ins Boot. Beide haben bei Rot-Grün zur Mitte der 00er Jahre die „Agenda 2010“ aufgegleist. Sie sehen wohl die Probleme eines dritten (kommunalen) Arbeitsmarktes. Der Staat könnte in die Rolle eines „employer of last resort“ geraten. Das prioritäre Ziel der „Agenda 2010“, Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu reintegrieren, würde nachhaltig verfehlt. Die finanziellen Lasten eines „solidarischen Grundeinkommens“ für den Staat wären erheblich. Die Steuer- und Abgabenschere würde sich weiter öffnen, reguläre Beschäftigung würde sinken, die Arbeitslosigkeit wieder steigen. Der Arbeitsminister will die 4 Mrd. Euro, die im Koalitionsvertrag angesetzt sind, um 150.000 Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, auch dazu verwenden, die Nachfrage privater Unternehmen nach Langzeitarbeitslosen zu erhöhen. Er denkt unter anderem an spezielle Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber, die bereit sind, diese Problemgruppe einzustellen. Die Förderung soll nicht unbefristet gewährt werden. Unternehmen sollen sie maximal 5 Jahre in Anspruch nehmen können. Und sie soll im Zeitverlauf sukzessive abgeschmolzen werden. Damit sollen unvermeidliche Mitnahme-, Verdrängungs- und Substitutionseffekte jeder staatlichen Förderung verringert werden.

Ein dritter (kommunaler) „sozialer“ Arbeitsmarkt ist fauler Zauber. Das zeigt die leidvolle Erfahrung mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik in der „Vor-Hartz-Zeit“. Ist die staatliche Beschäftigung auf Dauer angelegt, geht sie zu Lasten der Langzeitarbeitslosen. Ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt werden minimiert. Die Erfahrungen mit den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Beschäftigungsgesellschaften in den 90er Jahren bis Mitte der 00er Jahre sprechen eine klare Sprache. Sie waren meist nur kostspielig aber kontraproduktiv. Das gilt nicht nur für Deutschland, es trifft auch international zu. ABM vermitteln in der Regel kaum marktverwertbares Humankapital. Sind die staatlichen Arbeitsangebote „zusätzlich“, um private Anbieter nicht zu verdrängen, ist das zwangsläufig. Tatsächlich verdrängen sie aber private Konkurrenz. Das Handwerk aber auch Unternehmen im Gartenbau und in der Landschaftspflege können ein Lied davon singen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen können allenfalls „Sekundärtugenden“, wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Respekt und Disziplin, bei den dem Arbeitsprozess oft entwöhnten, unter multiplen Vermittlungsproblemen leidenden Langzeitarbeitslosen aktivieren. Oft ist deren Teilnahme an ABM sogar schädlich. Die geringe Marktnähe der Maßnahmen sendet ein negatives Signal an potentielle Arbeitgeber des ersten Arbeitsmarktes. Werden die Stellen sozialversicherungspflichtig ausgestaltet, ist die Gefahr eines „Drehtüreffektes“ groß. Mit der Arbeit werden neue Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung erworben. Die Teilnehmer des „sozialen“ Arbeitsmarktes fahren die Suche nach einem Arbeitsplatz spürbar zurück. Der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt gelingt noch weniger.

Hartz IV mit Mängeln

(Langzeit)Arbeitslosigkeit und Armut leben in enger Symbiose. Armut ist in allen Phasen des Lebens möglich. Tritt sie bei Arbeitsfähigen auf, wird sie in Deutschland mit dem Arbeitslosengeld II (Hartz IV) bekämpft. In der Rente wird sie mit der Grundsicherung im Alter angegangen. Das ALG II soll Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Ziel ist die Integration von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt. Ein dauerhafter „sozialer“ Arbeitsmarkt ist nicht vorgesehen. Der Kampf gegen Armut mit dem ALG II wird wenig zieladäquat und zu kostenintensiv geführt: Der Lohnabstand zur regulären Beschäftigung ist oft zu gering, die Transferentzugsrate ist zu hoch, die Leistungen sind regional zu wenig differenziert. Das Existenzminimum legt den „sozialen“ Mindestlohn fest, der für viele gering qualifizierte Arbeitnehmer eine unüberwindbare Hürde ist. Eine reguläre Beschäftigung rückt in weite Ferne. Das gilt vor allem dann, wenn sie Familie und Kinder haben. Es trifft neuerdings auch für viele Flüchtlinge zu. Alleinstehende sind weniger oft in der Mindestlohnfalle gefangen. Der mangelnde Lohnabstand wird durch die hohe Transferentzugsrate noch verschärft. Die hohe Grenzbelastung bestraft reguläre Arbeit. Sie belohnt das Nichtstun und die Schwarzarbeit. Hohe Transferentzugsraten begünstigen eine „Ganz oder gar nicht“-Lösung beim Arbeitsangebot. Das trifft vor allem Frauen, die Beruf und Familie miteinander verbinden wollen.

Die Grundsicherung für Arbeitssuchende (ALG II) leistet wenig Hilfe zur Selbsthilfe. Lohn- und Tarifpolitik werden aggressiver, räumliche und berufliche Mobilität behindert. Die Höhe, relativ zum möglichen Arbeitseinkommen und die unbegrenzte Dauer des Transferbezugs begünstigen ein aggressiveres Lohnsetzungsverhalten der Tarifpartner. Der „soziale“ Mindestlohn (ALG II) ist der Nagel, an dem der individuelle Anspruchslohn und die qualifikatorische Lohnstruktur aufgehängt ist. Ein gesetzlicher Mindestlohn verschärft das Problem noch, vor allem für Alleinstehende. Das trifft gering qualifizierte Arbeitnehmer besonders hart. Deren Position am Arbeitsmarkt wird weiter geschwächt. Die relativ hohen Leistungen komprimieren die qualifikatorische Lohnstruktur und machen sie nach unten inflexibel. Und noch etwas ist problematisch. Mehr oder wenig bundeseinheitliche Leistungen scheren die regional nach wie vor recht unterschiedlichen Arbeitsmärkte viel zu oft über einen Kamm. Verzerrte regionale und qualifikatorische Lohnstrukturen sind ein Hemmschuh für die räumliche und berufliche Mobilität. Eine gestauchte qualifikatorische Lohnstruktur verringert die Anreize gering qualifizierter Arbeitnehmer, in Humankapital zu investieren. Eine regional zu wenig differenzierte Lohnstruktur macht es für Arbeitslose wenig attraktiv, in Regionen zu wandern, in denen Arbeitsplätze angeboten werden. Eine wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe wird nicht geboten. Arbeitslose werden in der Armutsfalle gefangen gehalten.

Die Grundsicherung in der Phase der Erwerbsfähigkeit strahlt auf die Grundsicherung in der Zeit der altersbedingten Nicht-Erwerbstätigkeit aus. Menschen mit geringer Ausbildung, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiographien sind stärker als andere armutsgefährdet. Für viele von ihnen ist schon relativ früh klar, dass es ihnen nicht gelingen wird, in der Gesetzlichen Rentenversicherung genug Entgeltpunkte zu sammeln, um im Alter eine Rente zu erhalten, die spürbar über der Grundsicherung im Alter liegt. Mit der Regelung des Arbeitslosengeldes II, wonach Langzeitarbeitslose faktisch aus der Gesetzlichen Rentenversicherung ausgeschlossen sind, wird diese Entwicklung noch verstärkt. Die durch eigene Erwerbstätigkeit erworbenen Rentenansprüche in der GRV werden auf die Grundsicherung im Alter angerechnet. Negative Anreizeffekte auf das Angebot an Arbeit schon in der Phase der Erwerbstätigkeit sind die zwangsläufige Folge. Den Beiträgen zur Gesetzlichen Rentenversicherung stehen keine Gegenleistungen gegenüber. Sie wirken wie Steuern. Die Anreize zur Arbeit werden gemindert, die Anreize zur Schwarzarbeit nehmen zu. Die Sequenzen der Armut im Lebenszyklus liegen auf der Hand: Fehlende Bildung gestern, Arbeitslosigkeit heute, Altersarmut morgen.

Dezentrales „Hartz V“

Eine wirksame Hilfe zur Selbsthilfe muss das oberste Ziel einer Reform der Grundsicherung für Arbeitssuchende sein. Arbeitsfähige Transferempfänger dürfen nicht noch länger in der Arbeitslosigkeits- und Armutsfalle gehalten werden. Ein reformiertes System muss die Empfänger zu mehr Unabhängigkeit vom Sozialstaat, mehr wirtschaftlicher Mündigkeit und mehr persönlicher Freiheit führen. Das macht es zunächst einmal notwendig, die organisatorische Effizienz zu stärken. Mehr Verantwortung für die Kommunen wäre ein erster Schritt (hier). Gegenwärtig darf die Anzahl der Optionskommunen 25 Prozent aller Träger von Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht überschreiten. Diese Beschränkung muss aufgehoben werden. Wer optieren will, sollte künftig auch optieren können. Aus Sozialämtern sollten flexible, erfolgsorientierte Qualifizierungs- und Vermittlungsagenturen werden. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gehören in eine Hand. Sozialämter können die Problemgruppen auf den Arbeitsmärkten besser als Arbeitsämter vermitteln. Sie sind näher am relevanten Arbeitsmarkt für personenbezogene, ortsnahe Dienstleistungen. Gerade das sind aber vor allem die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose. Diese lassen sich nur in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln, wenn ein ganzes Bündel von Maßnahmen eingesetzt wird. Dazu zählen Kinderbetreuung, Schuldner- und Suchtberatung, Gesundheitsdienst und anderes mehr. Die Kommunen besitzen die dafür notwendig soziale Infrastruktur.

Die Effizienz steigt auch, wenn es gelingt, bestehende Fehlanreize und Missbräuche wirksam einzudämmen. Es ist notwendig, die Anreizstruktur der staatlich garantierten Grundsicherung so zu verändern, dass es für arbeitslose Transferempfänger wieder lohnend wird, einen angebotenen Arbeitsplatz anzunehmen. Eine geringere Transferentzugsrate ist ein erster wichtiger Schritt. Den Transferempfängern muss mehr von dem verbleiben, was sie mit ihrer Hände (Köpfe) Arbeit auf regulären Arbeitsmärkten verdienen. Es ist anreizschädlich, wenn von dem selbst erzielten Erwerbseinkommen über 100 Euro zwischen 80 und 90 % auf das ALG II angerechnet werden. Von jedem verdienten Euro sollten es mindestens 50 Cents sein. Der Anreiz, eine reguläre Beschäftigung aufzunehmen, nimmt damit zwar zu, mit ihm steigt aber auch die finanzielle Belastung des Staates. Wenn man diese anreizverträgliche Reform finanzneutral ausgestalten will, bleibt nur der Weg, die Hilfeleistungen für uneingeschränkt Arbeitsfähige zu senken. Die positiven Wirkungen auf die Aufnahme einer regulären Arbeit würden steigen. Mit der Absenkung würde auch das Lohnabstandsgebot wieder eher eingehalten. Ein geringeres Absicherungsniveau wird es aber nicht geben. Der politische Widerstand ist zu groß. Er ist nicht zu überwinden. Mit einer geringeren Transferentzugsrate werden deshalb auch die Steuern und Abgaben weiter steigen. Das tut der regulären Beschäftigung hierzulande allerdings nicht gut.

Trotz geringerer Transferentzugsrate ist das bei Transfers unvermeidliche Missbrauchsproblem nicht vom Tisch. Ein Einfallstor für eine missbräuchliche Nutzung auch der neu konzipierten Leistungen ist die Schwierigkeit, zwischen prinzipiell Arbeitsfähigen und wirklich Arbeitsunfähigen zu unterscheiden. Der Missbrauch ließe sich verringern, wenn die Hilfe mehr über Sach- und weniger über Geldleistungen gewährt würde. Sachtransfers wirken wie ein Mechanismus der Selbstselektion. Wer nicht bedürftig aber arbeitsfähig ist, wird wenig Interesse an Sachleistungen haben. Er stellt sich besser, wenn er durch eigene Arbeit ein Einkommen erzielt, das er nach seinen eigenen Präferenzen ausgeben kann. Nur wenn zuverlässige Informationen über die Präferenzen von Bedürftigen und Nicht-Bedürftigen über Qualität und Menge der Güter vorliegen, sind Sachtransfers monetären Leistungen zweifelsfrei überlegen. Diese fehlen allerdings in der Regel. Auch die Kommunen zeigen wenig Interesse an Sachleistungen. Geldleistungen sind für sie weniger aufwändig. Vielleicht ändert sich die Einstellung, wenn sie an den Ersparnissen einer geringeren Zahl von Transferempfänger beteiligt würden. Ganz verhindern lässt sich aber auch auf diesem Weg möglicher Missbrauch nicht. Wird allerdings die Prüfung der Arbeitsfähigkeit dezentral auf der Ebene der Kommunen vorgenommen, lässt sich der Missbrauch weiter eindämmen.

Auch eine so reformierte Grundsicherung für Arbeitssuchende mit mehr dezentraler Verantwortung kann nur wirksam Hilfe zur Selbsthilfe leisten, wenn sie die Lage auf den recht unterschiedlichen lokalen Arbeitsmärkten berücksichtigen. Der regionalen Höhe und Ausgestaltung der Leistungen des Arbeitslosengeldes II kommt vor allem für gering qualifizierte Arbeitnehmer besondere Bedeutung zu. Die Chance eines arbeitsfähigen, arbeitslosen Transferempfängers, einen regulären Arbeitsplatz zu finden, hängt entscheidend davon ab, wie hoch der „soziale“ Mindestlohn auf den lokalen Arbeitsmärkten relativ zum lokalen gleichgewichtigen Marktlohn ist. Der „soziale“ Mindestlohn wird vor allem von der Höhe der Grundsicherung, der Transferentzugsrate und den Arbeitspflichten bestimmt. Werden diese Parameter zentral festgelegt, orientieren sie sich am Durchschnitt. Geringqualifizierte auf lokalen Arbeitsmärkten mit hoher Arbeitslosigkeit haben schlechte Karten, einen Arbeitsplatz zu ergattern. Das gilt vor allem für Familien mit Kindern. Deren Anspruchslohn ist wegen der Kinderzuschläge und Wohnkosten relativ hoch. Es trifft weniger für Alleinstehende zu. Den Kommunen müssen deshalb mehr Möglichkeiten eingeräumt werden, die Parameter der Grundsicherung, wie etwa die Höhe, Transferentzugsrate, Arbeitspflichten etc., in eigener Regie festzulegen. So können die Gegebenheiten auf den lokalen Arbeitsmärkten vor Ort berücksichtigt werden. Das erhöht die Chancen einer Beschäftigung.

Eine auf lokaler Ebene organisierte Grundsicherung für Arbeitssuchende, die lokale Solidarität mit dezentraler Arbeitsmarktpolitik verbindet, wird die Lage auf den regionalen Arbeitsmärkten entspannen. Lokal unterschiedliche Löhne und erfolgsorientierte Sozialämter, die als Vermittlungs- und Qualifizierungsagenturen agieren, sorgen für mehr und bessere Beschäftigung. Allerdings, ein Teil der Hilfeempfänger ist mehr oder weniger unfähig zur regelmäßigen Arbeit. Ihnen muss mit Therapie-, Entzugs- und Einarbeitungsmaßnahmen geholfen werden. Es gibt auch arbeitsfähige Arbeitnehmer, die erst an eine volle Stelle herangeführt werden müssen. Um Gemeinschaftsarbeiten kommt man für diese eng definierte Klientel des ALG II als Notfallmaßnahme wohl nicht herum. Die staatlich organisierten Arbeitsplätze dürfen allerdings keinesfalls dauerhaft sein, sie müssen zeitlich befristet werden. Installiert werden könnten sie bei privaten Unternehmen, karitativen Einrichtungen oder öffentlichen Betrieben. Dazu gehört auch die verpflichtende Teilnahme der Arbeitnehmer an weiterführender Qualifikation. Diese Aktivitäten müssen strikt begrenzt werden. Kleine und mittlere Unternehmen dürfen durch solche arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten nicht in großem Stil aus dem Markt gedrängt werden. Das ist eine Quadratur des Kreises. Es gibt kaum einfache Arbeiten für gering qualifizierte Arbeitnehmer, die nicht auch von privaten Unternehmen angeboten werden könnten. Verdrängung gibt es überall.

Fazit

Der Kampf gegen (Langzeit)Arbeitslosigkeit und Armut sollte mit einer reformierten Grundsicherung für Arbeitssuchende geführt werden. Eine moderne Grundsicherung sollte ein anreizkompatibleres Arbeitslosengeld II (Höhe, Transferentzugsrate, Arbeitspflichten) haben. Die Entscheidungen über die Leistungen (Transfers, aktive Arbeitsmarktpolitik) sollten auf kommunaler Ebene getroffen und administriert werden. Idealerweise sollten sie auch auf dieser Ebene finanziert werden. „Soziale“ Arbeitsmärkte sind strikt zu begrenzen, sachlich und zeitlich. Es gibt keine „zusätzliche“ Beschäftigung, die nicht auch privat organisiert werden kann. Die Gefahr ist groß, dass reguläre Beschäftigung verdrängt wird. Eine solche Grundsicherung verbindet lokale Solidarität mit dezentraler aktiver Arbeitsmarktpolitik auf kommunaler Ebene. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Mehr föderaler, institutioneller Wettbewerb ist in Deutschland aus der Mode gekommen. Der Zentralismus ist wieder auf dem Vormarsch. Die Bundesländer verkaufen sich und den Föderalismus an den Bund. Von einer evolutionären, dezentraleren Reform der Grundsicherung für Arbeitssuchende ist schon lange keine Rede mehr. Seit Hartz IV ist das Feld der Grundsicherung für Arbeitssuchende für die Politik vermintes Gelände. Die zarten Ansätze einer anreizkompatiblen Reform des ALG II sind längst politisch zertrampelt. Vielen im linken Spektrum der Politik ist daran gelegen, die „Armut per Gesetz“ (Hartz IV) nach und nach zu beseitigen und durch eine unbefristete staatliche Beschäftigung zu ersetzen. Von lokaler Solidarität und dezentraler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik spricht niemand mehr. Wir schönen lieber wieder Arbeitsmarktzahlen wie in der goldenen „Vor-Agenda 2010-Zeit“.

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3 Antworten auf „„Soziale Arbeitsmärkte“ (Contra)
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