Flüchtlingskrise: Europa hat keinen Plan
Vertragsbrüche, Solidarität und Mindestlöhne

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„The minimum wage law is most properly described as a law saying employers must discriminate against people who have low skills. That’s what the law says.“ (Milton Friedman)

Die Flüchtlingsströme ebben nicht ab. In der EU ist Deutschland nach wie vor das bevorzugte Ziel. Es nimmt fast 40 % der Flüchtlinge auf. Die Lasten aus der Zuwanderung hinterlassen Spuren. Menschen, Staaten und Politik stoßen an Grenzen. Auch Länder mit einer „liberalen“ Flüchtlingspolitik, wie etwa Schweden, geraten in Not. Sie setzen „Schengen“ außer Kraft und schließen (temporär) ihre Grenzen. Der Druck weiter Teile der Bevölkerung auf die Politik wächst, den Flüchtlingsstrom nachhaltig einzudämmen. Die Gefahr ist groß, dass die „Willkommenskultur“ auf der Strecke bleibt. Fremdenfeindliche Parteien haben regen Zulauf. Tektonische Verschiebungen in der Parteienstruktur sind programmiert. Das sieht nun auch die Bundesregierung so und handelt, wenn auch eher widerwillig.

Schutz, Schengen und Dublin

Alle Menschen weltweit sollten frei darüber entscheiden können, wo auf der Welt sie leben wollen. Allerdings haben auch die Länder das Recht, eine Auswahl unter den Menschen zu treffen, die sie bereit sind aufzunehmen. Es existiert ein Zielkonflikt. Aus liberaler Sicht ist nichts daran auszusetzen, wenn Länder, die „normale“ Zuwanderung nach Kriterien organisieren, die sie selbst festlegen. Wer sie erfüllt, darf einwandern. Alle anderen werden abgewiesen. Das ist bei den gegenwärtigen Flüchtlingsströmen allerdings anders. Die meisten Menschen kommen aus Regionen, in denen sie um Leib und Leben fürchten müssen. Ein kleinerer Teil wird persönlich verfolgt, die meisten kommen allerdings aus Gebieten, in denen Bürgerkrieg herrscht. Damit haben sie in den Ländern der EU einen Anspruch auf Schutz vor Verfolgung.

Die EU ist kein Staat. Das Sagen haben nach wie vor die Nationalstaaten. Die meisten von ihnen haben sich im Vertrag von Schengen darauf geeinigt, dass zwischen ihnen Freizügigkeit der Personen herrscht. Damit das Ganze für diese EU-Länder sicherheitspolitisch nicht aus dem Ruder läuft, wurde gleichzeitig vereinbart, dass die Personenkontrollen an den Außengrenzen der EU stattfinden. Damit musste auch eine Regelung für Flüchtlinge gefunden werden. Im Vertrag von Dublin hat man sich darauf geeinigt, dass die Flüchtlinge, in dem Land, in dem sie erstmalig die EU betreten, registriert werden. Einen Antrag auf Asyl oder auf Schutz bei Bürgerkriegsflüchtlingen ist auch nur in diesem Land möglich. Damit sind gegenwärtig vor allem Griechenland und Italien gefordert.

Das Regelwerk funktionierte einigermaßen, solange die Flüchtlingsströme primär über die Mittelmeer-Route nach Europa kamen. Italien wurde mehr schlecht als recht damit fertig. Das änderte sich, als die Flüchtlinge vor allem den Weg über den Balkan nahmen. Griechenland war weder in der Lage noch willens, die eingegangen Pflichten aus dem Vertrag von Dublin wirksam zu erfüllen. Als die Flüchtlinge schließlich massenhaft in Ungarn strandeten, entschied sich die Bundesregierung in Berlin (wieder einmal) für den Vertragsbruch. Sie erlaubte den Flüchtlingen, nach Deutschland zu kommen, um dort regulär Asyl oder subsidiären Schutz zu beantragen. Da sie faktisch allen syrischen Flüchtlingen den gewünschten Schutz anbot, geriet der Flüchtlingsstrom nach Deutschland außer Kontrolle.

Lasten, Verteilung und Integration

Die „moderne“ Völkerwanderung stellt Europa vor drei Probleme. Erstens sind die Lasten der Anpassung erheblich. Das gilt für die ökonomischen Kosten aber auch für gesellschaftliche und politische Verwerfungen. Die Bundesregierung versucht, die Anpassungslasten zu verringern, den der Flüchtlingsstrom verursacht. Dabei achtet sie darauf, dass der grundgesetzliche Schutz weiter gilt. Im „Asylpaket I“ wurde versucht, mit der Ausweitung „sicherer Herkunftsländer“, der Umstellung von Geld- auf Sachleistungen und Regelungen zur effizienteren Abschiebung den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Gelungen ist es nicht. Im geplanten „Asylpaket II“ will man die Anreize weiter verringern. Registrierzentren, ein restriktiverer Familiennachzug und stringentere Abschieberegeln sind die wichtigsten Elemente.

Deutschland trägt in der EU den Hauptteil der Lasten aus den Flüchtlingsströmen. Grundsätzlich sollten die Lasten allerdings einigermaßen „gerecht“ in der EU verteilt werden. Das verlangt die sonst so viel beschworene europäische Solidarität. Damit entsteht aber ein zweites Problem. Viele EU-Länder sind nicht bereit, sich angemessen an den Lasten zu beteiligen. Nicht alle sagen es so deutlich, wie Victor Orban, der sich nur als Beobachter der Flüchtlingsszene sieht. Es sind vor allem die osteuropäischen Länder, die lieber migrationspolitisch Trittbrett fahren. Ganz deutlich hat dies auch die neue polnische Regierung gemacht. Sie weigert sich, den Anteil aus den 160.000 Flüchtlingen zu tragen, die einmalig in der EU umverteilt werden sollen, um Griechenland und Italien zu entlasten.

Die Erfahrungen traditioneller Einwanderungsländer zeigen, die Integration gelingt nur, wenn die Menschen möglichst schnell in Arbeit und Brot kommen. Dazu sind gut funktionierende Arbeitsmärkte und ein anreizverträglicher Sozialstaat notwendig. Das ist das dritte Problem der EU. Die persistent hohe Arbeitslosigkeit zeigt, die EU ist weit weg von flexiblen Arbeitsmärkten. Das hat nicht nur mit maroden Institutionen auf den Arbeitsmärkten zu tun, die vor allem Insider begünstigen. Es ist auch darauf zurückzuführen, dass der Sozialstaat nach wie vor Fehlanreize für das Arbeitsangebot einfacher Arbeit produziert. Die Flüchtlingsströme kosten uns nicht nur kurzfristig viel Geld, sie sind ohne Reformen des Arbeitsmarktes und Sozialstaates auch längerfristig sehr kostspielig.

Türkei, „Mini-Schengen“ und Mindestlöhne

Der EU gelingt es nicht, das „Schengen-Dublin-Paket“ effizient zu schnüren. Die Außengrenzen lassen sich weder technisch noch politisch sichern. Flüchtlinge werden weiter nach Europa strömen. Deutschland könnte es sich leichter machen. Da (fast) alle Flüchtlinge aus sicheren Staaten in Europa kommen, haben sie keinen Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz. Ihnen könnte die Einreise verweigert werden. Das lässt sich aber weder humanitär rechtfertigen noch politisch durchhalten. „Schengen“ wäre endgültig am Ende. Die EU ist auf die Idee verfallen, die Lasten aus den Flüchtlingsströmen „out zu sourcen“. Mit finanziellen und politischen Zugeständnissen soll vor allem die Türkei helfen, die Außengrenzen der EU abzudichten. Das wird die EU teuer zu stehen kommen, finanziell und politisch.

Trotz erweiterter Flüchtlingslager regional „vor Ort“ und möglicher Kontingente der EU werden weiter viele schutzsuchende Flüchtlinge nach Europa kommen. Bürgerkriege und Klimawandel sorgen für Nachschub. Die Verteilung der Flüchtlinge in der EU bleibt auf der Tagesordnung. Quotenregelungen sind für einen Teil der EU-Staaten ein rotes Tuch. Die EU hat keinen Plan, dieses Problem zu lösen. Jeroen Dijsselbloem hat ein „Mini-Schengen“ der Willigen vorgeschlagen. Das würde einen Domino-Effekt auslösen und die Anreize der „Verweigerer“ erhöhen, sich an den Lasten zu beteiligen. Daneben denkt Berlin darüber nach, die Mittel der Strukturfonds auch flüchtlingsabhängig zu verteilen. Schließlich gäbe es noch die „Coase-Lösung“: Die „Willigen“ zahlen an „Verweigerer“, damit diese mehr Flüchtlinge aufnehmen.

Selbst wenn es gelänge, das Verteilungsproblem in der EU zu lösen, bleibt eine weitere Schwierigkeit. Die auf die EU-Länder aufgeteilten Flüchtlinge haben oft andere länderspezifische Präferenzen. Sie wollen in einige wenige Länder, wie etwa Deutschland oder Schweden. Bleiben die Grenzen in der EU offen, wandern sie trotz Zuteilung auch dorthin. Das ist ein geringeres (ökonomisches) Problem, wenn sie in die Arbeitsmärkte der „Wunschländer“ einwandern. Dann fallen sie den Zuwanderungsländern nicht zur Last. Ein Problem entsteht dann, wenn sie in die nationalen Sozialstaaten einwandern. Dem könnte allerdings ein Riegel vorgeschoben werden, wenn die individuellen Ansprüche an den Sozialstaat nur in dem Land geltend gemacht werden können, dem die Flüchtlinge zugeteilt wurden („modifiziertes Heimatland-Prinzip“).

Damit die Lasten aus den Flüchtlingsströmen für die EU nicht zu groß werden, muss die Integration in Europa gelingen. Die Chancen sind gut, wenn die Flüchtlinge möglichst schnell Arbeit finden. Dazu ist allerdings viererlei notwendig: Bürokratische Hürden, wie etwa Wartezeit bei Arbeitsaufnahme oder die Vorrangprüfung, müssen abgebaut werden. Staatliche Investitionen in Bildung und Ausbildung müssen verstärkt werden, um die oft mangelhafte Qualifikation der Flüchtlinge zu erhöhen. Der gesetzliche Mindestlohn muss für die Flüchtlinge ausgesetzt werden. Nur so haben die meisten von ihnen überhaupt eine Chance, eine Beschäftigung zu finden. Schließlich muss das Arbeitslosengeld II so umgestaltet werden, dass die Anreize gestärkt werden, eine reguläre Arbeit aufzunehmen. Die doppelte Lohnuntergrenze muss fallen, wenn die Integration gelingen soll.

Fazit

Die „moderne“ Völkerwanderung führt in der EU zu einer Zerreißprobe. Das Modell „Schengen-Dublin“ funktioniert nicht mehr. Mit dem geplanten „türkischen Ventil“ kann die EU allenfalls temporär Zeit kaufen. Der massenhafte Flüchtlingsstrom lässt sich nicht aufhalten, solange die Bürgerkriege anhalten. Die EU wird über kurz oder lang Kontingente einführen. Der Streit um länderspezifische Quoten wird Europa weiter spalten. Ein „Mini-Schengen“ wird in der EU den Prozess eines „Europa à  la carte“ beschleunigen. Eine realistische Chance, nicht in feindseligem Streit zu versinken, hat Europa nur, wenn es bereit ist, verstärkt in Humankapital zu investieren, Güter- und Faktormärkte weiter offen zu halten und den Sozialstaat anreizverträglicher zu gestalten. Nur dann sind die Chancen einer gelingenden Integration überhaupt gegeben. Das ist aber die Voraussetzung, damit die EU nicht auseinanderbricht.

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