Soziale Marktwirtschaft 2.0
Ein Zweiter Bildungsweg für Flüchtlinge

Über die Frage, was angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen zu tun sei, die eine längere Bleibeperspektive in Deutschland haben, scheint es auf einer hinreichend abstrakten Ebene keinen Dissens mehr zu geben: „Integrieren, integrieren, integrieren“, forderte selbst ein Abgeordneter der Partei „Die Linke“ in einem Interview. Alte linke wie rechte Vorbehalte gegen allzu offensive Integrationsstrategien scheinen damit Schnee von gestern zu sein. Dasselbe gilt für Befürchtungen über den Verlust kultureller Identität, dem man mit einer gedanklichen Trennung von Integration und Assimilation glaubte, begegnen zu können und zu müssen. Heute will kaum noch jemand den Vergleichen von Assimilation mit Verbrechen oder gar mit Völkermord folgen, auch wenn sie einst bei Rechten wie Linken gleichermaßen Anklang fanden. Schließlich finden sich kaum noch Einwände gegen die Vermittlung freiheitlicher Werte und Verfassungsprinzipien, und dass der Spracherwerb eine conditio sine qua non gelungener Integration darstellt, kann auch niemand mehr ernsthaft bezweifeln. So weit sind wir immerhin schon einmal gekommen, und das ist gut so.

Die praktischen Probleme liegen damit freilich noch vor uns. Denn es bleibt zu klären, was „integrieren, integrieren, integrieren“ in der Realität bedeutet und was dazu zu leisten wäre. Um zunächst einmal zu verstehen, wie Integration nicht funktioniert, ist es hilfreich, die machtvolle Dynamik der Bildung von Parallelgesellschaften nachzuvollziehen. Diese Dynamik beginnt schon damit, dass Zuwandernde gern dahin wandern, wo bereits Menschen ihrer Herkunft leben; und sie geht damit weiter, dass genau dies den meisten Nicht-Zuwanderern durchaus recht ist, denn wenn die Zuwanderer sich in bestimmten Regionen konzentrieren, hat man selbst nicht allzu viel mit ihnen zu tun und vor allem nicht mit den Problemen, die eine Zuwanderung fremder Menschen nun einmal mit sich bringen. Allein mit diesen beiden eher harmlosen Effekten ist aber die Grundlage zur Ghettoisierung schon gelegt, auch wenn niemand das böswillig forciert.

Ganz wird man eine solche Dynamik nicht vermeiden können, aber umso mehr wird man dafür sorgen müssen, dass sich deren Folgen in Grenzen halten. Und das geht am besten dadurch, dass das berufliche Leben der Menschen möglichst schnell in die Mitte unserer Gesellschaft gerückt wird. Indes: Zu diesem Zweck bräuchten diese Menschen erst einmal ein berufliches Leben oder zumindest etwas, was darauf vorbereitet. Wie kann man ihnen dazu aber verhelfen, wenn bestenfalls zehn Prozent von ihnen eine akademische Ausbildung hat, fast zwei Drittel über gar keine formelle Ausbildung verfügt, viele nicht einmal gut lesen und schreiben können und nur die allerwenigsten über Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen? Die Zuwanderer direkt in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren, würde tiefgreifende Veränderungen unserer Arbeitsmarktstrukturen voraussetzen. Seine institutionelle Struktur müsste die Entwicklung sehr einfacher Jobs zulassen – Jobs, die wenig produktiv, dafür aber auch wenig bezahlt wären. Eine solche Strategie kollidiert schon gleich mit dem Mindestlohngesetz. Will man das nicht abschaffen, so müsste man Ausnahmeregelungen für Flüchtlinge schaffen, um diesen die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Nachteile gegenüber inländischen Arbeitnehmern durch niedrige Löhne auszugleichen und sich auf diesem Wege in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Eine solche Ausnahmeregelung allerdings würde andere Arbeitslose gegenüber Flüchtlingen diskriminieren und dazu noch massive Fehlanreize am Arbeitsmarkt setzen. Es wäre also keine gute Idee.

Daher könnte man daran denken, das Mindestlohngesetz vor dem Hintergrund der Zuwanderung auszusetzen oder abschaffen und die entstehende Lücke zum sozio-kulturellen Existenzminimum über ergänzendes ALG-II zu schließen. Wegen der nur geringen nicht-anrechenbaren eigenen Einkommen würde das ALG-II aber auch dann noch einen faktischen Mindestlohn einziehen, so dass die Flüchtlinge gleichwohl in der Arbeitslosenfalle gefangen blieben. Hinzu kommt, dass eine Abschaffung des Mindestlohns politisch schlicht nicht durchsetzbar ist.

Wir müssen also mehr tun, denn wenn eine Integration in den Arbeitsmarkt nicht gelingt, dann wird auch die Integration in die Gesellschaft kaum gelingen. Die Bildung von Parallelgesellschaften ist dann gleich in jeder Hinsicht vorprogrammiert. Das beinhaltet dann auch, dass die Flüchtlinge nicht einmal mehr die Fähigkeit erwerben werden, wenigstens ihren Kindern die Funktionsweise unserer Gesellschaft, unseres Bildungssystems und unseres Arbeitsmarktes zu vermitteln. Und auch wenn das Ergebnis niemand so gewollt haben wird: Das augenblicklich zweifellos dominierende Gefühl der Dankbarkeit gegenüber unserem Land wird Zug um Zug zugunsten eines Gefühls dahinschmelzen, die Underdogs unserer Gesellschaft zu sein; und sollte sich das bei der Flüchtlingsgeneration selbst noch nicht einstellen, so doch spätestens bei deren Kindern. Das muss dann nicht immer die schlimmsten Folgen haben, aber eines ist auch klar: Gute Folgen kann es auch nicht haben.

Daher müssen wir handeln, und zwar schnell. In ökonomischen Kategorien formuliert, lautet das Problem: Wenn ein Großteil der Flüchtlinge aufgrund seiner fehlenden Kenntnisse von Sprache und Kultur sowie aufgrund seiner fehlenden Ausbildung ohne weitere Hilfe ein Produktivitätsniveau von 8,50 € plus Lohnnebenkosten nicht erreicht, dann wird dieser Großteil im geltenden Regelwerk direkt und dauerhaft in die Arbeitslosigkeit wandern. Wer sich in diesem Punkt aus welchen Gründen auch immer etwas vormacht, handelt zumindest im Ergebnis fahrlässig. Wenn wir den Mindestlohn aber nicht abschaffen wollen oder können, und wenn wir selbst ohne Mindestlohn durch das ALG-II eine faktische Lohnuntergrenze haben, dann müssen wir die Produktivität von so vielen Zuwanderern wie möglich über die Grenze von 8,50 € plus Lohnnebenkosten heben, und dazu brauchen diese Menschen eine Ausbildung. Zu diesem Zweck können und sollten wir an unser bewährtes System der dualen Berufsausbildung anknüpfen und ihm einen zweiten dualen Berufsausbildungsweg an die Seite stellen.

Kurz gesagt müssen wir Brücken in die berufliche Qualifikation bauen, und das könnte so gehen: Wir definieren für möglichst viele Berufsbildungsabschlüsse von Industriefacharbeitern, Kaufleuten, Handwerkern und so weiter den Status eines Anwärters – die Bezeichnung mag gern eine andere sein. Wichtig ist allein, dass es eine erste Ausbildungsstufe hin zu dem jeweiligen traditionellen Ausbildungsberuf ist. Diesen Abschluss muss grundsätzlich jeder erwerben dürfen, der über eine hinreichende Vorbildung in allgemeinbildenden Fächern besitzt, also schreiben und lesen kann und gewisse mathematische Grundkenntnisse besitzt. Gewiss werden das bei weitem nicht alle Flüchtlinge sein, aber doch ein sehr erheblicher Prozentsatz. Diese Personen würden dann im Rahmen eines zweijährigen Ausbildungsgangs einen Facharbeiteranwärterstatus, einen Kaufmannsanwärterstatus, eines Gesellenanwärterstatus oder einen vergleichbaren Status erwerben und mit diesem auf den Arbeitsmarkt treten können.

Die Ausbildung zum Anwärter könnte so erfolgen: Das erste halbe Jahr findet allein in der Berufsschule statt, wo vorwiegend allgemeinbildende Kenntnisse vermittelt und aufgefrischt werden, darunter: Sprache, Kultur, Verfassung, Gesellschaft. Dazu werden die bestehenden mathematischen Kenntnisse auf einen gemeinsamen Stand gebracht. Nach den ersten sechs Monaten werden die Auszubildenden ganz so wie alle anderen Auszubildenden in Betriebe integriert und gehen ergänzend in die Berufsschule. Hierfür erhalten sie eine Ausbildungsvergütung oberhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums. Letzteres erhalten die ausbildenden Betriebe allerdings als Zuschuss von der Bundesagentur für Arbeit zurück. Auf diese Weise hat die Bundesagentur oder die zuständige Sozialbehörde keinerlei Zusatzkosten; zugleich fällt bei den Betrieben lediglich die kleine Differenz zwischen dem ALG-II und der Ausbildungsvergütung an. Die Mindestlohnregelung ist dadurch ökonomisch gegenstandslos und darüber hinaus rechtlich auch nicht bindend, weil sich die betreffenden Personen in einer Ausbildung befinden. Bei angemessener Wahl der Ausbildungsvergütung würden also beide gewinnen: die Auszubildenden und die Betriebe. Beim Staat würden zudem keine Zusatzkosten anfallen, was die Versorgung der betreffenden Personen angeht. Der Staat wird lediglich die Ausbildungskosten in der Berufsschule tragen müssen.

Mit einem erfolgreichen Abschluss können die Absolventen den potenziellen Arbeitgebern signalisieren, dass sie unabhängig von ihrer Herkunft aus einer anderen Kultur mit einer anderen Sprache ein Entwicklungspotenzial besitzen, dass sie bereits grundlegende Sprach- und Kulturkenntnisse erworben haben, über elementare fachlich-theoretische Kenntnisse in ihrem neuen Fach verfügen sowie bereits praktische Berufserfahrung in einem Betrieb in Deutschland erworben und sich darin bewährt haben. Nach ein paar Jahren Berufserfahrung und eventuell einer theoretischen Zusatzprüfung sollte der Anwärterstatus dann in einen regulären Abschluss als Facharbeiter, Kaufmann oder Geselle überführt werden, mit dem die betreffenden Personen dann endgültig über alle Rechte verfügen wie alle anderen, die auf dem bisher üblichen „ersten“ Ausbildungsweg eine Facharbeiter-, Kaufleute- oder Gesellenprüfung oder etwas vergleichbares absolviert haben. Selbstverständlich würden ihnen auch alle weitergehenden Bildungsmöglichkeiten offen stehen.

Wichtig wäre die vertikale Durchlässigkeit des Systems: Sollte ein Betrieb ebenso wie die Berufsschule einen Auszubildenden des zweiten Ausbildungswegs für fähig genug halten, in den ersten Ausbildungsweg zu springen, so muss dies jederzeit möglich sein, so dass die betreffende Person direkt den Facharbeiterstatus erwerben kann. Wichtig wäre weiterhin, dass Berufsschulen schnell und unbürokratisch die nötigen Kapazitäten zur Verfügung stellen. Geeignet sind hier nicht allein verbeamtete Lehrer, sondern durchaus auch pensionierte Lehrer, Handwerksmeister, Ingenieure, Kaufleute sowie Studierende, und hier vor allem solche des Lehramts. In allen diesen Kreisen lassen sich gewiss viele Personen finden, die sich eine solche Aufgabe befristet für ein paar Jahre und/oder nebenbei vorstellen können und die im Wege einer solchen Aufgabe Geld (hinzu-)verdienen und auch interessante Erfahrungen sammeln möchten.

Insgesamt können wir mit einem solchen System Brücken in den Arbeitsmarkt und darüber in die deutsche Gesellschaft bauen, welche uns und die Flüchtlinge sodann vor den langfristigen Folgen misslungener Integration schützen, wie wir sie zum Teil in Deutschland, noch mehr aber in den banlieues in Frankreich und Belgien beobachten müssen. Das wird nicht immer und nicht bei allen gelingen, aber es kann bei vielen gelingen, und darauf kommt es an.

Wir sollten aber bald mit dem Bau der Brücken beginnen, und hierzu sind alle aufgefordert: die Politik, die Kultusminister und die Schulbehörden sowie nicht zuletzt die Handelskammern und die Handwerkskammern. Viel ist über die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft geschrieben und gesprochen worden, und viele Initiativen und Institutionen haben sich den ehrwürdigen Begriff auf die Fahnen geschrieben. Ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft ist das Prinzip der Subsidiarität, welches eine Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik verlangt, die die Menschen dabei unterstützt, sich eine eigenständige wirtschaftliche Basis zu schaffen. In diesem Sinne bedeutet es eine Besinnung auf das Prinzip der Subsidiarität, wenn wir den Zuwanderern im Wege der Flexibilisierung unseres ohnehin bewährten dualen Ausbildungssystems Brücken in die wirtschaftliche Eigenständigkeit und auf diesem Wege in die Mitte unserer Gesellschaft bauen. Vielleicht könnte damit der Grundstein für eine Soziale Marktwirtschaft 2.0 gelegt werden.

Blog-Beiträge zur Flüchtlingskrise:

Norbert Berthold: Flüchtlingskrise: Europa hat keinen Plan
Vertragsbrüche, Solidarität und Mindestlöhne

Juergen B. Donges: Für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik in der EU

Klaus F. Zimmermann: Die Flüchtlingsfrage neu denken

Norbert Berthold: Wolfgang Schäuble tritt eine Lawine los
„Moderne“ Völkerwanderung als Angebotsschock

Norbert Berthold: Flüchtlingspolitik à la Große Koalition. Eine Chronologie des „organisierten“ Chaos. 3. Update: „Europäische Solidarität auf türkisch“

Jörn Quitzau: Der Flüchtlingsstrom wird das deutsche Demografie-Problem kaum lösen

Dieter Bräuninger, Heiko Peters und Stefan Schneider: Flüchtlingszustrom: Eine Chance für Deutschland

Norbert Berthold: Die „moderne“ Völkerwanderung. Europa vor der Zerreißprobe

Tim Krieger: Grenze zu, Schengen tot (reloaded)

Wolf Schäfer: Migration: Von der Euphorie des Unbegrenzten zur Moral des Machbaren

Thomas Apolte: Chance oder Last? Wie wir die Flüchtlinge integrieren müssen

Razi Farukh und Steffen J. Roth: Wir brauchen eine Bildungsoffensive. Ohne gezielte Unterstützung bleiben nicht nur die Flüchtlinge unter ihren Möglichkeiten

 

Thomas Apolte
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5 Antworten auf „Soziale Marktwirtschaft 2.0
Ein Zweiter Bildungsweg für Flüchtlinge

  1. Das Handwerk als Lösung ist eine Illusion, zwar fehlen Fachkräfte, aber aus gutem Grund. In den arbeitsintensiven Gewerken ist die Bezahlung seit jeher prekär, damit auch die Lebensperspektiven. In den Gewerken mit hohem Maschineneinsatz hat die Null (Zins) Rentabilität (wg. Überkapazität) die Kaufkraft der Löhne erodiert. D.h. die Attraktivität dieser Ausbildung sinkt und gute Leute versuchen sofort den Bildungsaufstieg, während Verlierer kaum Qualität liefern können.
    Diese Probleme bestehen ohne die Zuwanderung. Die Zuwanderer im Alter ab 18 Jahren werden kaum Sprache, Schulbildung und Lehre im Schnelldurchgang absolvieren, ohne dass wir das Niveau weiter absenken – mit allen Konsequenzen für die Produktqualität. Das alles incl. der Gefahr von Frustration beim Zuwanderer, sobald klar er realisiert wie wenig er sich in der BRD erarbeiten kann.
    Die Zuwanderung verschärft schwelende Probleme.
    Feinmechanikmeister, selbstständig.

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