Gastbeitrag
Hilft es der Ukraine, wenn es mit Russlands Wirtschaft bergab geht?

Starke Sanktionen gegen Russland sollen das Regime schwächen und Zweifel in den Russen wecken – an Putin und seinem Krieg. Doch hilft es der Ukraine wirklich, wenn sich die Lage der russischen Wirtschaft verschlechtert?

Seit 24. Februar 2022 ist die Welt tatsächlich eine andere – Außenministerin Baerbock hat mit dieser klaren Äußerung Recht. Niemand hat sich vorstellen können oder wollen, dass im 21. Jahrhundert ein Land ein anderes in einen derart menschenverachtenden und verbrecherischen Krieg verwickelt. Die Bilder von brennenden Wohnhäusern nach Raketenbeschuss sind extrem verstörend.

Die Wucht und Unmenschlichkeit dieser Attacke und der dahinter stehenden Entscheider – allen voran Präsident Putin – haben aber nach einer kurzen Schockphase eine in dieser Tiefe und Breite ebenfalls zuvor unvorstellbare Reaktion in der ganzen Welt hervorgerufen. Dabei fällt uns Deutschen natürlich zuerst die durch eine breite Mehrheit im Bundestag getragene kräftige Reaktion der Bundesregierung auf, die sowohl kurzfristig als auch mittel- und langfristig die deutsche geopolitische Haltung völlig neu aufstellt. Das macht Mut!

Die Bundesregierung reiht sich damit in die Maßnahmen der Europäischen Union (EU) und der nordatlantischen Allianz Nato ein. Dabei bleibt es nicht, denn auch in anderen Teilen der Welt hat der Angriff auf ein friedliches Nachbarland zu Entsetzen, Wut und heftigen Reaktionen geführt. In der UN-Generalversammlung am Mittwochabend stimmten 141 von 181 für eine Resolution gegen den Bruch des Völkerrechts; nur fünf eher dubiose UN-Mitglieder stimmten dagegen. Darüber hinaus gibt es schnelle und harte Reaktionen des Westens. Drei wesentliche Linien der Reaktion sind auffällig und besonders.

Zu nennen sind erstens die Hilfslieferungen in die Ukraine einschließlich der Bereitschaft aller Mitgliedsländer der EU, den vor dem Krieg fliehenden ukrainischen Bürgern Unterkunft und Unterstützung anzubieten. Diese Bereitschaft sorgt auch für neue, wenn auch nicht vollständige Einigkeit in der EU. Neu aus deutscher Perspektive schließlich sind die Waffenlieferungen an die ukrainische Armee, die hoffentlich so lange durchhalten kann, bis die hohen Kosten des Krieges sich in Russland bemerkbar machen und das Kalkül des Usurpators nicht mehr so klar aufgeht, weil immer mehr Menschen in Russland Zweifel bekommen.

Dazu tragen drittens die umfassenden Wirtschafts-, Kultur- und Sportsanktionen gegen das russische Regime bei. Selten hat es in der Geschichte eine so breite und alle Bereiche des internationalen Austausches betreffende Welle von Sanktionen gegeben – zumindest seit den Sanktionen gegen das südafrikanische Apartheidregime im vergangenen Jahrhundert nicht. Regierungen, Unternehmen, Universitäten, Kulturveranstalter und – wenn auch widerstrebend – Sportverbände haben die Beziehungen mit russischen Akteuren eingestellt und diese weitgehend vom Zugang zu Märkten oder irgendwelchen Veranstaltungen ausgeschlossen. Gemeinsame Forschungsprojekte ruhen, Konzerte werden abgesagt, russische Sportler von Wettbewerben ausgeschlossen.

Besonders wichtig waren die Sperrung russischer Vermögen (zumeist der Putin nahestehenden Oligarchen) und Währungsreserven sowie der Ausschluss russischer Finanzinstitute vom global agierenden Finanztransfer-System Swift. Aber sie waren nur der erste Schritt zu umfassenden Wirtschaftssanktionen. Der Luftraum in der EU und den USA wurde für russische Flugzeuge gesperrt. Inzwischen findet so gut wie kein Verkehr mehr zwischen Russland und den meisten Ländern – vermutlich mit Ausnahme Chinas und Indiens – statt. Keine Reisen, keine Transporte zu Land, zu Wasser und in der Luft sind momentan möglich.

Auch die private Wirtschaft reagiert. Viele in Russland aktive westliche Unternehmen lassen die Arbeit ruhen oder wollen sich gar von ihren russischen Beteiligungen trennen. Das ist insofern besonders, als dass in einigen Fällen wohl die Totalabschreibung des eingesetzten Kapitals bedeuten dürfte. Aber gerade die Energieunternehmen, die in der Öffentlichkeit ohnehin kritisch beäugt werden, dürften kaum eine Alternative sehen. Andere Unternehmen stellen ihre Exporte nach Russland ein. Verträge mit russischen Sponsoren wurden mit sofortiger Wirkung gekündigt.

Diese Sanktionen sollen ebenfalls dazu dienen, das Kalkül der russischen Regierung zu verändern. Wenn die Lage der russischen Wirtschaft sich verschlechtert oder wenn die Oligarchen um einen Großteil ihres Vermögens bangen müssen, so die Absicht der sanktionierenden Regierungen, steigt erstens der Widerstand gegen den Krieg und wird zweitens die russische Regierung im Interesse der eigenen Bevölkerung einlenken. Das ist keineswegs garantiert, wie ein Blick in die Geschichte der wirtschaftlichen Sanktionen zeigt. In weniger als der Hälfte aller Sanktionsfälle der Neuzeit waren die Sanktionen erfolgreich. Insbesondere solche Sanktionen, die die Beendigung militärischer Aktionen zum Ziel hatten, erzielten wenig Durchschlagskraft. Außerdem waren Sanktionen gegen Autokratien weniger erfolgreich als solche gegen Demokratien. Dort fühlen sich Regierungen ihren Bürgern gegenüber sicherlich stärker verantwortlich, und sei es nur wegen der Gefahr, abgewählt zu werden. Schließlich gibt es immer wieder Sanktionsbrecher – im vorliegenden Fall könnte China diese Rolle spielen.

Und in der Tat hat die russische Regierung bisher wegen der Sanktionen kein Zeichen des Rückzugs gegeben, sondern im Gegenteil auch den sanktionierenden Ländern mit immer mehr Gewalt gedroht. Dass Präsident Putin das Wohl russischer Bürger im Blick hat, kann man zudem nicht ernsthaft annehmen. Vielmehr kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass er den Konflikt weiter eskalieren wird. Die Folgen wären unabsehbar.

Dennoch besteht Hoffnung, dass die Überlegungen der sanktionierenden Staaten vernünftig sind. Denn anders als bei den meisten Sanktionen der Vergangenheit basieren sie dieses Mal auf einem sehr breiten weltweiten Konsens. Das Instrument der sekundären Sanktion gegen Sanktionsbrecher könnte China zudem davon abhalten, Russland allzu offensichtlich zu unterstützen. Das Verbrechen ist außerdem so ungeheuerlich, dass selbst eigene Kosten die meisten Menschen in den sanktionierenden Ländern nicht von Sanktionen abhalten können. In diesem Zusammenhang stellt sich übrigens die Frage, wann die Bundesregierung die Gasimporte aus Russland endlich stoppt! In anderen Ländern gäbe es sicherlich alternative Quellen, die schon im Laufe des Jahres 2022 nutzbar gemacht werden können. Laut einer Studie des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel wären gerade die fehlenden Einnahmen aus dem Gasgeschäft für Russland spürbar, und das wesentlich stärker als bei uns.

Außerdem sind die Sanktionen sehr umfassend und betreffen neben der Bevölkerung auch weite Teile der russischen Nomenklatura. Die Menschen, die unter den Sanktionen leiden, werden zwar von der Regierung mit Sicherheit weiter fehlinformiert werden. Aber dauerhaft wird es der Regierung in Russland schwerfallen, die wahren Hintergründe des Krieges und der Sanktionen zu verschleiern. Noch schneller könnte sich die Lage an der Spitze der Gesellschaft ändern. Da die Freundschaft der meisten Oligarchen zu Putin vor allem auf dem gegenseitigen materiellen Vorteil zu basieren scheint, könnte ein großer potentieller Schaden für die Oligarchen zu einem Umdenken bei ihnen führen und die vasallengleiche Unterstützung des Präsidenten erodieren lassen. Man muss auch davon ausgehen, dass keineswegs sämtliche Abgeordnete, Kabinettsmitglieder und eben Oligarchen das Morden uneingeschränkt befürworten und nach Gründen suchen, mutiger gegen den Präsidenten zu agieren.

Hinzu kommt, dass der Imageverlust Russlands beträchtlich ist. Er wird sich kurzfristig ohnehin nicht reparieren lassen. Unmöglich dürfte es werden, wenn Präsident Putin im Amt bleibt. Selbst wenn er sich durchsetzt und die Ukraine vollständig erobert und unterdrückt, würde es keine Ruhe geben – weder innerhalb der Ukraine noch in anderen Ländern. Nach und nach würden die Sanktionen sicherlich wieder wenigstens in Teilen zurückgenommen werden. Aber das Bild der Welt von Russland bliebe düster, die Beziehungen zu vielen Ländern dauerhaft gestört. Das Land würde langfristig erheblich zurückfallen. Wer das in Russland verhindern will, muss sich aktiv für Menschlichkeit einsetzen. Die Sanktionen helfen hoffentlich dabei.

Hinweis: Der Beitrag erschien am 4. März 2022 in der Online-Ausgabe der Wirtschaftswoche.

Blog-Beiträge zum Thema:

Hartmut Kliemt (2022): Europa: Sturmreife Festung oder sturmfreie Bude?

Andreas Freytag (2022): Warum ist die Bundesregierung so nachgiebig im Umgang mit Russland?

Norbert Berthold (2022): Russland fordert die NATO heraus. Wie glaubwürdig sind Sanktionsdrohungen?

Norbert Berthold (2022): Die Politik wirtschaftlicher Sanktionen. Ökonomisch kostspielig, politisch ineffizient?

14 Antworten auf „Gastbeitrag
Hilft es der Ukraine, wenn es mit Russlands Wirtschaft bergab geht?“

  1. Ich denke, in erster Linie werden die Sanktionen Ersatzhandlungen sein, mit denen man vor den eigenen Leuten gut da stehen kann. Anders ist das mit den Waffenlieferungen und anderen Lieferungen in die Ukraine. Nach dem was ich gelesen habe, ist die hiesige Regierung dabei wenig kreativ. Es sind die Amerikaner, die im wesentlichen die Ukraine stützen und Nützliches liefern. Und natürlich die hiesige Zivilgesellschaft: Das reicht von freiwilligen Kämpfern bis zur Aufnahme von Flüchtlingen. Und zwar richtige Flüchtlinge und nicht junge, männliche „Geflüchtete:Innen“, die tausende von Kilometern, über Meere und über dutzende Grenzen „flüchten“. Die andere Frage ist natürlich ob man den Ukrainern mit dem allen hilft. Ich denke, die Antwort wird erst irgendwann in der Zukunft klar werden oder auch dann noch nicht. Also, handeln unter Unsicherheit. Auch die Fehler der deutschen Russlandpolitik dürfte darauf zurückzuführen sein, dass man diese Unsicherheit nicht sah oder sehen wollte. Übrigens, über die Fehler der ukrainischen Russlandpolitik wird überhaupt nicht gesprochen. Der größte Fehler dürfte die Uneinigkeit gewesen sein, was zur russischen Fehlkalkulation geführt hat, und jetzt wo man einig ist, ist unklar welche Folgen dies haben wird. PS: Bei der deutschen Energiepolitik wollte man auch keine Unsicherheiten sehen. Die Ausstiegsbeschlüsse für Atom- und Kohleenergie zeigen das deutlich.

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