Der EZB-Rat hat sich auf das neue „Transmission Protection Instrument“ (TPI) verständigt, was es dem Eurosystem künftig erlaubt, am Sekundärmarkt Anleihen öffentlicher (und ggf. privater) Emittenten in ex ante unbegrenzter Höhe anzukaufen (ECB, 2022). TPI wird eingesetzt, sobald Anzeichen für eine „ungerechtfertigte, ungeordnete Marktdynamik“ bestehen und der EZB-Rat die geldpolitische Transmission innerhalb der Eurozone als gefährdet ansieht. Als Indiz für ungeordnete Marktdynamiken gelten steigende Renditeabstände für Staatsanleihen auf Sekundärmarkten, die auf eine zunehmende Fragmentierung der Finanzmärkte hindeuten und aus Sicht der EZB die Transmission geldpolitischer Impulse behindern.
Programmbestandteile
Bereits vor TPI war der Ankauf von Staatsschuldtiteln auf Sekundärmärkten Gegenstand verschiedener QE-Programme des Eurosystems, die entweder inzwischen eingestellt (wie das Programm für die Wertpapiermärkte, SMP) oder bislang noch nicht aktiviert wurden (OMT). Weiterhin aktiv sind die Ankaufprogramme APP und PEPP, in deren Rahmen aber derzeit keine Nettoankäufe mehr erfolgen und nur die Rückzahlungserlöse angelegt werden. TPI ist vermutlich kein neues Ankaufprogramm, sondern ändert die Regeln für die bisherigen Programme auf eine Art und Weise, die wichtige Grundsätze des Eurosystems über Bord wirft.
Das wesentlich Neue besteht darin, dass das Eurosystem den Grundsatz der Marktneutralität aufgibt und sich ermächtigt, die länderspezifische Zusammensetzung seines für geldpolitische Zwecke gehaltenen Wertpapierportfolios zu verändern. Dies soll so geschehen, dass das geldpolitische Wertpapierportfolio des Eurosystems im Gesamtvolumen weitgehend unverändert bleibt und die Auswirkungen auf die Überschussliquidität in der Eurozone sterilisiert werden. Insofern ist TPI kein originär geldpolitisches Instrument, sondern ähnelt der Schuldenstrukturpolitik, das der Kurpflege oder Zinsglättung dient und eher der Fiskalpolitik zuzuordnen ist.
Bislang ist nennenswerte Schuldenstrukturpolitik nur im Rahmen des OMT-Programms möglich. OMT erlaubt den unbeschränkten Ankauf einzelner Staatsschuldtitel, jedoch nur, sofern ein Land sich einem ESM-Anpassungsprogramm unterwirft. Da dies beträchtliche Strukturanpassungen mit hohen politischen Kosten impliziert, wurde OMT bislang noch nicht in Anspruch genommen. Solch eine Konditionalität besteht bei den Asset Purchase Programmen APP nicht, jedoch unterliegen sie bislang einer strikten Begrenzung, d.h. die Verteilung auf die einzelnen Länder bei den Ankäufen von Wertpapieren des öffentlichen Sektors richtete sich nach den jeweiligen Kapitalschlüsseln der nationalen Zentralbanken. Diese Regel besteht auch im Rahmen des Pandemieprogramms PEPP, allerdings dürfen hier die Ankäufe und die Wiederanlagen flexibel durchgeführt werden, sodass Schwankungen bei der Verteilung der Ankäufe im Zeitverlauf hinsichtlich der Anlageklassen und der Länder möglich sind.
Künftig wird das Eurosystem den gesamten, Ende 2021 auf 4.700 Mrd. Euro gewachsenen Bestand der zu geldpolitischen Zwecken gehaltenen Wertpapiere einsetzen können, um Zinsglättung zu betreiben und das Entstehen eines Zinsspreads zwischen den europäischen Staatsanleihen zu verhindern. Die Regeländerung wird erklärbar, wenn man berücksichtigt, dass die zur Wiederanlage verfügbaren Rückzahlungserlöse aus dem Pandemieprogramm bei weitem nicht ausreichen, um die Effekte aus dem Auslaufen von APP und PEPP zu kompensieren. Selbst wenn das Eurosystem alle PEPP-Rückzahlungen 2022-23 beispielsweise in italienische Anleihen investierte, wären die monatlichen Nettokäufe italienischer Schuldtitel durch die EZB geringer als der Wert der 2021 im Durchschnitt erfolgten Ankäufe (Marsh, 2022). Der Einsatz von TPI ist zwar konditioniert und setzt u.a. voraus, dass das betreffende Land keinem Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits und keinem Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht unterliegt. Anders als beim OMT-Programm ist die mit einem ESM-Programm verbundene strenge Konditionalität jedoch nicht vorgeschrieben.
Mittel gegen Marktfragmentierung?
Begründet wird das neue Instrument mit der Gefahr einer „Marktfragmentierung“, d.h. dem Auseinanderdriften der Renditen auf Staatsanleihen, was die Umsetzung einer einheitlichen Geldpolitik in der Eurozone erschwere. Steigende Zinssätze beeinträchtigen danach die Schuldentragfähigkeit der öffentlichen Haushalte, erhöhen das Ausfallrisiko für Staatsanleihen und gefährden die Stabilität des nationalen Bankensektors, der typischerweise den Großteil der inländischen Anleihen hält und über den die monetäre Transmission erfolgt. Banken müssen erhebliche Verluste befürchten, was die Kreditzinsen erhöht und Finanzierungsprobleme für den privaten Sektor verursacht.
TPI soll die geldpolitische Transmission vor solchen Störungen schützen, denn es erlaubt dem Eurosystem, die aus den vorherigen Ankaufprogrammen freiwerdenden Mittel bei Wiederanlage vornehmlich zum Kauf von Staatsanleihen aus Krisenländern zu verwenden. Dies ist aber nur dann ursachenadäquat, wenn der Zinsanstieg spekulativ bedingt ist und keine fundamentalen Ursachen hat. In diesem Fall steigen die Risikoprämien, weil Marktteilnehmer eine Schuldenkrise erwarten, was den Staatsbankrott im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung herbeiführt. Dann reicht die Ankündigung der Notenbank aus, Anleihen anzukaufen aus, um die Krise zu verhindern. Hat der Zinsanstieg jedoch fundamentale Ursachen und ist Folge unsolider Haushaltspolitik, erfordert er eine Reform des Steuersystems oder eine Bereinigung öffentlicher Ausgaben; dann mindert TPI den Anreiz zur Haushaltskonsolidierung und schürt Befürchtungen, dass das Eurosystem durch Ankauf von Staatsanleihen nicht vor ungerechtfertigten Übertreibungen schützt, sondern zur „Bad bank“ in der Eurozone wird.
Tatsächlich will das Eurosystem TPI nur einzusetzen, sofern Anzeichen für eine „ungerechtfertigte, ungeordnete Marktdynamik“ bestehen, und lässt offen, was diese Anzeichen sein sollen. Im Wesentlichen meint „ungerechtfertigt“ wohl, dass der beobachtbare Zinsanstieg spekulativ bedingt und nicht durch die länderspezifische Fundamentaldaten verursacht ist. Dies erfordert Kenntnisse, spekulative von fundamentalen Ursachen zu unterscheiden, und bedarf eines Instruments zu beurteilen, welche Zinsunterschiede begründet und daher gerechtfertigt sind und welche nicht. Zweifel sind angebracht, ob Notenbanken besser als Marktteilnehmer wissen, wie hoch die adäquate Risikoprämie sein oder wie der Kurs lauten sollte (Dombret, 2013).
Preisgabe der Marktneutralität
Hinzu kommt, dass das Eurosystem mit TPI von Grundsatz der Marktneutralität abweicht, denn das Eurosystem war bei der Festlegung seines Sicherheitenrahmens und bei einen Ankaufprogrammen bislang stets bemüht, eine Vorzugsbehandlung bestimmter Anlageformen, Emittenten oder Sektoren zu vermeiden, die zu Marktverzerrungen führen kann (Bindseil et al., 2017). Das Eurosystem beleiht bzw. kauft das Marktportfolio. Dies wird mit TPI fallengelassen, weil Anleihen bestimmter Emittenten bevorzugt angekauft werden.
Von den damit verbundenen negativen Anreizeffekten für die öffentliche Haushaltsdisziplin abgesehen, eröffnet dies die Möglichkeit, künftig auch andere Kriterien für den bevorzugten Erwerb bestimmte Anleihen durchzusetzen. Schon jetzt ist der Druck auf das Eurosystem groß, bspw. ein „grünes“ QE zu betreiben und den Anteil grüner Anleihen an seinem geldpolitischen Wertpapierportfolio zu erhöhen, um zum Erreichen von Klimazielen beizutragen. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass die Ansprüche an die EZB zunehmen könnten, mit Hilfe seiner geldpolitischen Instrumente auch anderen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen dienlich zu sein.
Gefahr „fiskalischer Dominanz“
Eckfeiler des Eurosystems war bislang das Prinzip der “monetären Dominanz“, wonach die Zentralbank allein geldpolitische Ziele verfolgt und sich dabei nicht von anderen Erwägungen einschränken lässt (Schnabel, 2020). Wenngleich mancher Beobachter diesen Grundsatz bereits durch die bisherigen Ankaufprogramme als gefährdet ansieht, haben Konditionalität und Festhalten am Kapitalschlüssel das Eurosystem bislang davor geschützt, zum Erfüllungsgehilfen der Fiskalpolitik zu werden (Issing, 2022). Mit TPI scheint der Rubikon jetzt überschritten zu sein, weil jede größere Renditedifferenz als ungerechtfertigte, ungeordnete Marktdynamik diffamiert werden kann, die der Kurspflege durch das Eurosystem bedarf und den Ankauf von Staatsanleihen rechtfertigt. Das Eurosystem gerät in den Verdacht, seine monetäre Dominanz zugunsten einer „fiskalischen Dominanz“ preiszugeben. Es könnte für die EZB zunehmend schwerer werden, diesen Verdacht auszuräumen. Damit schützt TPI vielleicht die geldpolitische Transmission, gefährdet aber die Unabhängigkeit des Eurosystems.
Literatur
Bindseil, U., Corsi, M., SahelL, B., Visser, A. (2017), The Eurosystem Collateral Framework Explained, ECB Occasional Paper No. 189. Frankfurt/M.
Dombret, A. (2013), Wege zur Überwindung der Fragmentierung der europäischen Finanzmärkte. Rede auf dem 23. Europäischen Bankenkongress, Frankfurt/M. https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/wege-zur-ueberwindung-der-fragmentierung-der-europaeischen-finanzmaerkte-710750#tar-2
ECB (2022), Press Release. The Transmission Protection Instrument, Frankfurt/M., 21. July 2022. https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2022/html/ecb.pr220721~973e6e7273.en.html
Issing, O. (2022), Die politische Anmaßung der EZB, Project Syndicate. https://www.project-syndicate.org/commentary/ecb-tpi-political-overreach-by-otmar-issing-2022-07/german?barrier=accesspaylog
Marsh, D. (2022), Eight Thorny Questions over ECB Fragmentation, OMFIF, https://www.omfif.org/2022/07/eight-thorny-questions-over-ecb-fragmentation/
Schnabel, I. (2020), The Shadow of Fiscal Dominance: Misconceptions, Perceptions and Perspectives, Speech at the Centre for European Reform and the Eurofi Financial Forum, Berlin, 11 September 2020, https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2020/html/ecb. sp200911~ea32bd8bb3.en.html
Blog-Beiträge zum Thema:
Michael Schubert (2022): EZB-Transmission-Protection-Mechanism. Je effektiver, desto illegaler
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Zum schleichenden Vertrauensverlust in Zentralbanken - 5. Dezember 2024 - Ist die Unabhängigkeit der US Fed in Gefahr? - 15. August 2024
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