Herr Professor Konrad, die europäische Staatsschuldenkrise beherrscht seit Monaten die europäische Politik. Das erste Hilfspaket für Griechenland wurde im Mai 2010 beschlossen. Warum sind so viele Monate vergangen, ehe die Politik die Märkte zumindest etwas beruhigen konnte?
Kai Konrad: Die europäische Staatsschuldenkrise ist nicht in erster Linie ein psychologisches Problem der Märkte, die man einfach „beruhigen“ kann. Die Krise ist das Ergebnis von Entwicklungen die seit vielen Jahren, teilweise seit Jahrzehnten im Gang sind.
Was ist denn falsch gelaufen?
Konrad: Die Finanzpolitik in der Eurozone war nicht nachhaltig. Hinzu kommen erhebliche makroökonomische Ungleichgewichte in der Eurozone. Und schließlich offenbarte sich auch ein Systemfehler: Das Prinzip, wonach die Einzelstaaten in ihren Entscheidungen weitgehend autonom sind und zugleich die Verantwortung für ihr Finanzgebaren selbst tragen, war nicht glaubwürdig verankert. Das zeigte sich im Mai 2010, als gegen das Prinzip der Eigenverantwortung der Staaten einfach verstoßen wurde. Seither zeichnet sich in Europa zunehmend eine gemeinschaftliche Verantwortung für die Staatsschulden ab. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Angesichts dieser Problemlage kann man nicht erwarten, dass große Rettungsschirme diese Bedenken einfach aus der Welt schaffen. Das hat die Politik leider bis heute nur teilweise verarbeitet.
Kritiker behaupten, dass die Politik nach wie vor nur an den Symptomen kuriert, aber keine nachhaltige Therapie für den Patienten Europa auf die Beine stellt. Haben die Dauernörgler recht oder werden die Beschlüsse vom Oktober und Dezember 2011 das letzte Maßnahmenpaket gewesen sein?
Konrad: Wir sehen in der Tat einen Krisengipfel nach dem anderen und eine lange Folge von Beschlüssen. Mit diesen Beschlüssen hat sich die Politik in der Regel jeweils nur ein wenig mehr Zeit erkauft. Dabei werden die Wirkungen immer größerer Rettungsschirme und immer weiter reichender Ankündigungen in Hinblick auf eine Reform der Finanzverfassung in Europa immer kurzlebiger. Die Beschlüsse der Krisengipfel im Oktober 2011 und Dezember 2011 hatten Halbwertszeiten von nur wenigen Tagen. Die Wirkung war dahin, noch bevor die Beschlüsse auch nur in allen ihren Bestandteilen ausformuliert werden konnten.
Was unterscheidet den Euroraum nach den Gipfelbeschlüssen und Rettungspaketen noch von einer Transferunion?
Konrad: Das ist eine gute Frage. Es gibt für Europas Finanzverfassung eigentlich nur zwei Regime, von denen man wenigstens theoretisch erwarten kann, dass sie zu stabilen Staatsfinanzen in Europa führen. Das eine Regime verlagert die Kompetenzen für Staatsverschuldung und für die staatliche Haushaltspolitik praktisch vollständig auf die europäische Ebene. In diesem Regime haftet Europa oder die Eurozone auch gemeinschaftlich für die Staatsschulden aller Mitglieder. Und vermutlich gibt es in diesem Regime zwischenstaatliche Finanztransfers, die das derzeitige Ausmaß von Finanztransfers innerhalb der EU in erheblichem Umfang übersteigen. Ich nenne diese Situation „das französische Modell“, weil es letztlich die Konzeption der Finanzverfassung Frankreichs einfach auf die europäische Ebene verlagert.
Die Konstruktion eines einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraumes im ursprünglichen Sinne war so sicher nicht gedacht. Wie sieht das zweite stabile Modell aus?
Konrad: Die Alternative hierzu ist ein System, wie es die Väter des Stabilitäts- und Wachstumspakts eigentlich vor Augen hatten: ein System, in dem jeder Eurostaat über seinen Haushalt und seine Schulden allein entscheidet, in dem er für die Konsequenzen seiner Politik aber allein verantwortlich ist. Ich glaube, dass dieses System dem „französischen Modell“ überlegen ist. Leider bewegt sich die europäische Politik aber in Richtung auf das „französische Modell“.
Frankreich zählt zu den erfolgreicheren europäischen Staaten. Warum soll sein Modell nicht gut für Europa sein?
Konrad: Ich glaube, dass ein europäischer Zentralstaat nach französischem Muster nicht funktioniert. Die Abgabe von Haushaltskompetenzen an eine europäische Regierung in Verbindung mit hohen Ausgleichszahlungen zwischen den Staaten und mit einer gemeinsamen Schuldenverwaltung würde innerhalb der EU zu politischen Spannungen führen, die so groß sind, dass nicht nur der Euro, sondern die ganze Europäische Union daran zerbrechen würde. Aber auch wirtschaftlich würde ein solches System nicht funktionieren. Es würde einer europäischen Regierung nicht gelingen, die Einzelstaaten wirklich zu disziplinieren. Wie schwierig das ist, sehen wir ja selbst innerhalb Deutschlands. Nicht einmal hier gelingt es, die seit über 20 Jahren aus dem Ruder laufenden Haushalte des Saarlands oder Bremens in den Griff zu bekommen. Wenn sich solche Probleme nicht einmal innerhalb Deutschlands lösen lassen, was können wir dann von einer Europäischen Kommission erwarten, die versucht, gewisse Peripheriestaaten Europas wirklich zu kontrollieren?
Ist die Rückkehr zu einer stärkeren Betonung von nationaler Souveränität aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nicht schon verbaut?
Konrad: Es stimmt, der Zug ist jetzt bald zwei Jahre in die falsche Richtung gefahren und die Zeit wird knapp. Es ist für die Politik auch nicht leicht einzugestehen, dass Fehler dieser Größenordnung gemacht wurden. Deshalb bin ich nicht sehr zuversichtlich, dass die europäische Politik sich zu einem solchen Richtungsschwenk aufrafft.
Ist es Europa und seine gemeinsame Währung wert, dass man sie mit Händen und Hebeln rettet?
Konrad: Das ist eine ganz zentrale Frage. Europa und der Euro, das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Und das gerät derzeit völlig aus dem Blick. Was wir momentan beobachten, ist der Versuch, den Euro um jeden Preis zu retten. Wir übersehen, dass die Europäische Union viel größere Errungenschaften zu bieten hat, als ein gemeinsames Zahlungsmittel. Der Versuch, den Euro zu retten, kann leicht damit enden, dass nicht nur die Eurozone, sondern die Europäische Union zerbricht. Die Eurorettung ist deshalb ein sehr gefährliches Spiel, und der Preis dafür ist zu hoch.
Die Fragen stellte Jörg Rieger.
Hinweis: Die Langfassung des Interviews können Sie in der Fachzeitschrift WiSt (01/2012) nachlesen.
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