Der Wind hat sich gedreht. Offene Märkte gelten heute vielen als Teufelszeug. Abschottung hat wieder Konjunktur. Wettbewerb ist nur noch im Sport akzeptiert, vorausgesetzt die Sportler verdienen nicht zuviel. Eine Mehrheit der Bevölkerung misstraut dem Wettbewerb. Allenfalls staatlich gelenkt darf er noch sein. Und die Politik reagiert prompt. Die Arbeitsmärkte, obwohl schon wettbewerbliche Ausnahmebereiche, werden weiter verriegelt. Mindestlöhne und Gehaltsobergrenzen sollen dem Preismechanismus endgültig den Garaus machen. Aber auch dem Wettbewerb auf den Kapitalmärkten soll es an den Kragen gehen. Nur noch „gutes“ Kapital soll ins Land dürfen. Die Kriterien will die Politik festlegen.
Dieser ordnungspolitische Klimawandel trifft die meisten reichen Länder der Welt. In Europa ist von der Aufbruchstimmung des „Binnenmarktprojektes 1992“ nichts mehr zu spüren. Wären nicht die hungrigen Länder der Osterweiterung, der Wettbewerb stünde in der EU längst auf dem Index. Auch in den USA stehen marktwirtschaftliche Prinzipien zur Disposition. Im Wahlkampf um die Präsidentschaft wird mit protektionistischen Versprechungen gekämpft. Prominente Ökonomen leisten Schützenhilfe. Der Auslöser des ordnungspolitischen Temperatursturzes ist distributiver Natur. In den reichen Ländern ist eine Mehrheit nicht mehr bereit, die distributiven Konsequenzen offener Märkte zu tragen.
Die neue Ungleichheit
Einkommen und Vermögen verteilen sich in den meisten OECD-Ländern ungleich. Das gilt nicht nur für die funktionelle Verteilung der Einkommen, es trifft auch für die personelle zu. Die Lohnquote ist in allen OECD-Ländern seit Anfang der 80er Jahre gesunken. Der Anteil der Kapitaleinkommen am Volkseinkommen ist weiter gestiegen. Allerdings sank die Lohnquote nicht in allen Ländern gleich stark. Der Rückgang war in Kontinentaleuropa und Japan stärker ausgeprägt als in den angelsächsischen Ländern. Dabei sinkt die Lohnquote besonders in den Sektoren, die viel einfache Arbeit beschäftigen. Sie steigt demgegenüber in Bereichen mit einem hohen Anteil hochqualifizierter Arbeitnehmer.
Auch die personelle Ungleichheit ist seit den 80er Jahren größer geworden. Die Einkommen der oberen 10 % der Einkom-mensbezieher wachsen schneller als die Einkommen der unteren 10 % (90/10-Ungleichheit). Diese Entwicklung gilt mit Ausnahme von Irland und Spanien für alle anderen OECD-Länder. Dabei entstanden allerdings die großen Ungleichheiten in den USA und in UK schon in den 80er Jahren. Die Angst der Mittelschichten vor dem Absturz ist unbegründet, zumindest bisher. Die „Mitte“ gewinnt relativ zum „Boden“ (untere 10 %), verliert aber gegenüber der „Decke“ (obere 10 %). Ob diese Entwicklung anhält, ist ungewiss. Nach der These der Polarisierung gewinnen beide Enden der Einkommensverteilung zu Lasten der Mitte.
90/10-Ungleichheit
Quelle: OECD (2007)
Der wichtigste Treiber der Verteilung der Einkommen ist der technische Wandel, nicht die Globalisierung. Das gilt für die funktionelle und personelle Verteilung. Beide Faktoren verringern die Lohnquote und erhöhen die 90/10-Ungleichheit (Maß für die personelle Ungleichheit). Arbeitsmarktpolitiken, die nationale Arbeitsmärkte funktionsfähiger machen, steigern die Lohnquote. Sind die Bildungsleistungen in den Schulen ungleich, sind dies auch die späteren personellen Einkommen. In den skandinavischen Ländern streuen die Leistungen der Schüler weniger als in den angelsächsischen. Auch hierzulande werden sich die Verteilungsprobleme vergrößern. Die Bildungsleistungen sind am aktuellen Rand wesentlich ungleicher verteilt als in früheren Zeiten.
Soziale Mobilität
Die wirtschaftliche Ungleichheit ist gestiegen, die Reichen sind reicher geworden. Allerdings sind die Individuen in den verschiedenen Einkommensgruppen nicht immer dieselben. Man kann die Verteilung der Einkommen mit einem Zug vergleichen. Bei jedem Zuglauf sind Plätze in der 1. und 2. Klasse belegt. Auf den Plätzen sitzen aber nicht immer die gleichen Personen. Ein Wechsel in den Klassen und zwischen 1. und 2. Klasse ist genauso möglich, wie umgekehrt. Das ist wie im richtigen Leben. Wie oft es dort vorkommt, hängt davon ab, wie sozial mobil die Menschen sind. Ungleich verteilte Einkommen werden zum Problem, wenn der soziale Aufstieg kaum möglich, die Gesellschaft gespalten ist.
Nach oben kommt man über zwei Wege. Einer führt über den sozialen Aufstieg im individuellen Lebenszyklus. Menschen, die nach oben wollen, sehen sich in einer Übergangsphase. Wenn sie eine realistische Chance sehen, im Laufe des Berufslebens nach oben zu kommen, stören sie ungleich verteilte Einkommen kaum. Die Aussicht auf sozialen Aufstieg entschädigt, um so weiter, um so mehr. Mindestens so wichtig ist den Menschen allerdings, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Wenn dieser zweite Weg des sozialen Aufstiegs intakt ist, wird auch eine ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen weniger als ungerecht empfunden. Soziale Mobilität kann Ungleichheit kompensieren.
Soziale Mobilität ist mehr als ein Null-Summen-Spiel. Natürlich steigt einer ab, wenn ein anderer aufsteigt. Der Schmerz des Absteigers wird allerdings gemildert, wenn mehr soziale Mobilität sein reales Einkommen wachsen lässt. Das gilt auch für alle die, deren Weg nach oben verbaut ist. Um im Bild zu bleiben: Die Reisenden der 2. Klasse sind weniger verstimmt, nicht in der 1. Klasse zu reisen, wenn der Zug sein Ziel schneller erreicht. Ein hohes wirtschaftliches Wachstum, das alle wohlhabender macht, lässt den fehlenden sozialen Aufstieg in eine höhere Einkommensklasse leichter ertragen. Es ist kein Zufall, dass die Verteilungskämpfe in Zeiten hohen wirtschaftlichen Wachstums auch in segmentierten Gesellschaften geringer ausfallen.
Ungleichheit und soziale Mobilität
Die Möglichkeiten sozial aufzusteigen, sind international unterschiedlich verteilt. Die neusten Ergebnisse für die USA zeigen, dass sich im beruflichen Auf und Ab im Lebenszyklus seit Mitte der 80er Jahre kaum etwas verändert hat. Wo allerdings die USA international stehen, ist damit noch nicht geklärt. Bei der inter-generativen sozialen Mobilität haben dagegen nordische Länder, wie Dänemark, Norwegen und Finnland, aber auch angelsächsische Staaten, wie Australien und Kanada, die Nase vorn. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder ihre armen Eltern beruflich überflügeln, ist dort größer als etwa in Schweden, Deutschland, Spanien und Frankreich. Am Ende der Skala rangieren Großbritannien, Italien und die USA.
Soziale Mobilität
Quelle: d’Addio (2007)
Und noch eines fällt auf. In Ländern mit sehr ungleich verteilten Einkommen ist auch die soziale Mobilität gering. Bildlich gesprochen: Wenn die Sprossen der Einkommensleiter weiter auseinander liegen, nehmen die Probleme zu, die nächste Sprosse zu erreichen. Es liegt nahe zu vermuten, dass die soziale Mobilität bei steigender Ungleichheit abnimmt. Dieser Schluss ist voreilig. Der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und sozialer Mobilität ist zwar empirisch signifikant. Über die Wirkungsrichtung sagt er allerdings noch nichts. Die spannende Frage ist: Verringert eine höhere Ungleichheit der Einkommen die soziale Mobilität oder führt eine geringere soziale Mobilität zu einer größeren Ungleichheit?
Ungleichheit und soziale Mobilität
Quelle: Andrews/Leigh (2007)
Noch etwas bleibt ungelöst: das amerikanische Rätsel. In den USA ist der Glaube an den individuellen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg ungebrochen. Eine Mehrheit ist der Meinung, die USA seien das Land der vielen Möglichkeiten. Die Einkommen verteilen sich zwar seit langem ungleicher. Meinungsumfragen zeigen, dem Glück der Menschen hat dies keinen Abbruch getan. Das Niveau des Glücks hat sich seit 1970 kaum verändert, die Verteilung ist sogar gleichmäßiger geworden. Der Aufstieg der Armen ist zwar begrenzt, die soziale Mobilität der Mittelklasse scheint aber weiter intakt. Da die Mittelklasse den Median-Wähler stellt, ist der Druck auf die Politik gering, die soziale Mobilität zu fördern. Der amerikanische Traum platzt erst, wenn sich die Lage der Mittelklasse verschlechtert.
Was ist zu tun?
Wie auch immer die Kausalität von materieller Ungleichheit und wirtschaftlicher und sozialer Mobilität sein mag, eine höhere Mobilität verspricht auf alle Fälle eine hohe gesellschaftliche Dividende. Die Chancen steigen, den Teufelskreis von steigender Ungleichheit und rückläufiger Mobilität zu durchbrechen. Aber auch die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, einen Tugendkreis von sinkender Ungleichheit und steigender Mobilität auszulösen. Selbst wenn es nicht gelingt, einen Tugendkreis in Gang zu setzen, produziert eine höhere wirtschaftliche und soziale Mobilität positive externe Effekte. Die Menschen sind eher bereit, auch eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zu akzeptieren.
Erziehung, Ausbildung und Arbeit sind die Felder, auf denen die soziale Mobilität wächst und gedeiht. Das A und O sind Investitionen in Humankapital. Der Aufbau ist ein kumulativer Prozess. Ohne kognitive und soziale Fähigkeiten geht wenig. Die werden aber früh im Leben entwickelt. Bildungspolitik schon im Vorschulalter ist eine Investition in eine höhere soziale Mobilität. Eine solide Ausbildung in Schule und Beruf akkumuliert weiteres Humankapital. Dabei sollten die Investitionen den Preissignalen des Marktes folgen. Sie geben die richtige Richtung an. Die Bildungsprämien zeigen, wo es sich für die Individuen lohnt, in Humankapital zu investieren. So nimmt die soziale Mobilität weiter Fahrt auf.
Das Tempo wird allerdings verlangsamt, wenn es nicht möglich ist, die Erträge aus den Investitionen in Humankapital auch einzufahren. Das ist immer dann der Fall, wenn Tarifpartner und Staat den Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten beschränken. Die richtige Antwort auf niedrige soziale Mobilität und ungleich verteilte Einkommen sind wettbewerbliche Arbeitsmärkte. Und noch etwas verhindert adäquate Erträge aus Investitionen in Humankapital: ein Mangel an privaten Unternehmern, die bereit sind, Risiken zu übernehmen. Wer mehr soziale Mobilität und gleichmäßiger verteilte Einkommen und Vermögen will, muss ein ökonomisches und gesellschaftliches Klima schaffen, das Unternehmer hierzulande wieder unternehmen lässt.
Fazit
Auch in Zukunft werden die Markteinkommen eher ungleichmäßiger verteilt sein. Dafür sorgt schon der technische Fortschritt. Die Sprossen der Einkommensleiter liegen auch künftig weiter auseinander. Nationale Politik hat es in der Hand, ob sich daraus ein Wohlstand für alle oder nur für einige wenige entwickelt. Der Schlüssel ist eine höhere wirtschaftliche und soziale Mobilität. Voraussetzung dafür sind mehr Investitionen in Familie, Schule und Beruf. Diese Investitionen in Humankapital lohnen aber nur, wenn die Märkte offen sind und ein Klima wirtschaftlicher Freiheit herrscht. Um im Bild zu bleiben, wenn die Sprossen der Leiter weiter auseinander liegen, müssen die Individuen länger werden.
Die Politik hat allerdings andere Pläne. Sie wird versuchen, den Abstand zwischen den Sprossen der Leiter zu verringern. Damit stehen Maßnahmen auf der Agenda, die den Wettbewerb einschränken. Protektionismus und Regulierung begrenzen die Treiber der Ungleichheit, aber auch des Wohlstandes. Über das Steuer-Transfer-System wird sie über den Kampf gegen die Armut hinaus versuchen, die ungleiche Primär- in eine gleichmäßigere Sekundärverteilung umzuwandeln. Damit verringert sie aber die Anreize für harte Arbeit und die Übernahme von Risiken. Am Ende sind die Sprossen der Leiter zwar vielleicht wieder enger beieinander, die Leiter ist aber kürzer, der Wohlstand geringer.
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Ich wünschte mir sehr, dass das Wahlvolk von Deutschland ihren Beitrag liest. Denn fast alle Parteien fordern gerade mit ihren absurden Maßnahmen, dass die Leiter kürzer wird.