Herr Professor Issing, seit Mitte Dezember ist es amtlich. Der Europäische Rat hat einen dauerhaften Mechanismus für Haushaltshilfen an die Mitgliedstaaten der Euro-Zone beschlossen. Ist der Euro als Währung eigenständiger Staaten damit am Ende?
Otmar Issing: Keinesfalls. Ich war zwar von Anfang an ein Gegner eines dauerhaften Krisenmechanismus. Gleichzeitig muss ich aber gestehen, dass der Rettungsschirm – so schnell wie die Zuspitzung der Krise im letzten Jahr vorangeschritten ist – unter den vielen schlechten Lösungen noch die beste ist. Offensichtlich können einige Länder des Euro-Raums ohne fremde Hilfe die Währung und ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht aufrecht erhalten. Es sollte aber das Interesse aller Euro-Mitglieder – auch das von Deutschland – sein, das Währungsgebiet als solches dauerhaft zu stabilisieren. Mit dem beschlossenen Krisenmechanismus hat die europäische Gemeinschaft nun die Möglichkeit, zum einen Kredite auf den Notfall zu beschränken und zum anderen die Vergabe an strikte Bedingungen zu knüpfen.
Wäre die Währungsunion vor 20 Jahren überhaupt zustande gekommen, wenn die EU-Regierungen diesen permanenten Krisenmechanismus vorhergesehen hätten?
Issing: Vermutlich nicht, denn es war vor allem die Vorstellung Deutschlands, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt solide öffentliche Finanzen garantiert. Fehlverhalten sollte mit harten Sanktionen bestraft und Ungleichgewichte damit bereits im Vorfeld im Keim erstickt werden. Nicht nur Deutschland, sondern auch andere europäische Staaten haben auf die „No Bail Out“-Klausel bestanden. Die Währungsunion wurde also im Verständnis gegründet, dass jedes Mitglied für seine eigenen Fehler haften muss. Man hat geglaubt, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt als Druckmittel ausreicht, um allzu großes Abweichen von der gemeinsamen Linie zu vermeiden.
Mittlerweile werden längst andere Töne angeschlagen. „Wir werden den Euro verteidigen, was immer es kosten mag,“ hat EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nach Abschluss des Sondergipfels im Mai letzten Jahres gesagt. Ist eine Rettung um jeden Preis wirklich sinnvoll?
Issing: Ganz sicher nicht. Diese Aussage müsste der Kommissionspräsident inzwischen bereut haben. Eine Rettung um jeden Preis ist eine Einladung an Länder im Fehlverhalten fortzufahren. Man wird nicht sanktioniert, sondern am Ende sogar gestützt. Das ist definitiv das falsche Signal.
Vor allem in Deutschland wird vielfach eine Rückkehr zur D-Mark gefordert. Aber auch dieser Schritt wäre nicht umsonst, wenn man nur an die ökonomischen Kosten, etwa die Absicherung von Wechselkursrisiken, denkt. Welche Argumente gibt es noch gegen eine Aufgabe des Euro?
Issing: Bei der Einstellung der Deutschen zum Euro sollte man bedenken, dass es ein sehr schwerer Verzicht war, die nationale Währung aufzugeben. Die D-Mark galt als Garant der Stabilität. Sie hat nach dem zweiten Weltkrieg eine besondere Rolle gespielt. Auch bei der Wiedervereinigung war die D-Mark ein Anker in unsicheren Zeiten. Die Währungen anderer Länder können auf keine vergleichbare Erfahrung zurückblicken. Insofern kann es nicht überraschen, dass die Deutschen eine dauerhafte Nostalgie zur D-Mark pflegen. Die Ablehnung gegenüber dem Euro ist aber weit weniger ausgeprägt, als ich das befürchtet habe. Immerhin stehen nach wie vor etwa 50 Prozent dem Euro positiv gegenüber. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist dieser Prozentsatz kein schlechter Wert, zumal immer noch die Vorstellung mitschwingt, dass durch den Euro alles teurer geworden ist.
Was zur sogenannten Teuro-Debatte ausgeufert ist.
Issing: Diese war aber definitiv fehl am Platz. Zu Zeiten der D-Mark gab es nur zu Beginn ein Jahrzehnt mit derart niedrigen Preissteigerungsraten, wie sie der Euro vorweisen kann. Wenn man für Deutschland eine nationale Inflationsrate berechnen würde, dann käme man auf eine jährliche Preissteigerungsrate von etwa 1,5 Prozent. Die D-Mark hatte in den 50 Jahren ihrer Existenz durchschnittlich eine jährliche Inflationsrate von 2,8 Prozent. So gesehen ist die Nostalgie mit falschen ökonomischen Vorstellungen verbunden.
Unterliegt auch einer Illusion, wer eine Rückkehr zur D-Mark gutheißt?
Issing: Eine Rückkehr zur alten Währung wäre ein sehr teurer und technisch außerordentlich schwieriger Prozess. Deutschland wäre zudem in Europa sehr schnell isoliert. Selbst wenn man zum damaligen Zeitpunkt gegen die Einführung des Euro war und dafür – wie sich jetzt herausgestellt hat – auch gewichtige Gründe anführen konnte, wäre eine Rückkehr zur D-Mark aus politischen Gründen geradezu abwegig. Ich galt in den neunziger Jahren nun wirklich nicht als Euro-Euphoriker. Ich habe auch davor gewarnt, mit so vielen Ländern so früh zu beginnen. Allerdings habe ich es letztlich dennoch für möglich gehalten, dass der Euro ein Erfolg wird – und ich würde trotz aller Probleme nach wie vor von einer Erfolgsgeschichte sprechen.
Sie selbst waren als Mitglied des EZB-Direktoriums einer der Wegbereiter des Euro. Warum ist die Währungsunion vom rechten Pfad abgekommen?
Issing: Die staatliche Verschuldungskrise hat in ihrer Dimension niemand vorhergesehen. Es war auch kaum zu durchschauen, dass Griechenland falsche Daten in dieser Größenordnung vorlegen würde. Dennoch konnte man die Krise prognostizieren. Die Lohnstückkosten und die Preissteigerungsraten haben sich bereits kurz nach Beginn der Währungsunion innerhalb des Euro-Raumes deutlich auseinander entwickelt.
Aber gibt es nicht schon seit jeher Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Euro-Staaten.
Issing: Vor dem Start zur Währungsunion haben die Euro-Länder viel unternommen, um die Konvergenzkriterien zu erfüllen. Die Inflationsraten haben auch eine Weile konvergiert, aber nach der Einführung des Euro liefen sie bedrohlich weit auseinander. Das ist aber nicht unter dem Schleier des Unwissens passiert, sondern hat sich laufend in den Statistiken niedergeschlagen. In der Europäischen Zentralbank haben wir Monat für Monat auf diese Fehlentwicklungen hingewiesen. Die Lohnstückkosten in einem Land wie Portugal sind beispielsweise in nur acht Jahren der gemeinsamen Währungsunion um fast 30 Prozent schneller gestiegen als in Deutschland. Es ist klar, dass ein solches Land früher oder später aufgrund des preislichen Wettbewerbsnachteils in größte Schwierigkeiten kommt. Früher hätte man den Escudo abgewertet. Heute geht das durch die gemeinsame Währung nicht mehr.
Warum hat man diese Entwicklung nicht kommen sehen?
Issing: Die EZB hat die Finanzminister der Eurogruppe permanent darauf aufmerksam gemacht. Auch die EU-Kommission hat vielfach auf diese Problematik verwiesen. An Warnungen hat es definitiv nicht gefehlt.
Aber alle diese Warnungen wurden ignoriert.
Issing: Die Politik in den betroffenen Ländern hatte nicht den Mut, sich beispielsweise gegen Gewerkschaftsforderungen und Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst zu stemmen. Das Ventil Wechselkurs als für jedermann spürbares Warnsignal hat an allen Ecken und Enden gefehlt. Unter dem Dach des Euro hat sich dieser Prozess sehr viel länger fortgesetzt, als er mit einer eigenen Währung hätte stattfinden können.
Um auch in einem einheitlichen Währungsraum solide öffentliche Finanzen zu sichern, hat man den Stabilitäts- und Wachstumspakt beschlossen. Warum war er letztlich wirkungslos?
Issing: Das hat vielschichtige Gründe. Das Allerschlimmste, was der Währungsunion passieren konnte, war definitiv der Verstoß der beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich (Anm. der Red.: jeweils 2002 und 2003) gegen den Pakt.
Das sind noch dazu die beiden größten Zahlerländer im Euro-Raum.
Issing: Zum einen das. Noch absurder wird dieser Verstoß, wenn man bedenkt, dass Deutschland wie kein zweites Land auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt gedrängt hat. Der damaligen Bundesregierung war bewusst, dass eine Währungsunion mit politisch souveränen Staaten und einer Zentralbank ein disziplinierendes Element für die Finanzpolitik auf europäischer Ebene benötigt. Das eine Standbein sollte eine stabile Währung sein, das andere solide öffentliche Finanzen. Fast alle anderen Staaten – darunter übrigens auch Frankreich – haben sich damals vehement gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt gewehrt. Deutschland hat vorher darauf bestanden und anschließend auf grobe Weise gegen den Pakt verstoßen. Es hat eine politische Mehrheit organisiert, so dass die vorgesehenen Sanktionen ausgeblieben sind. Das war sozusagen der Todesstoß für die Wirksamkeit des Pakts.
Können das Scheitern des Stabilitäts- und Wachstumspakts und das Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit das komplette Ausmaß der Euro-Krise erklären?
Issing: Nicht vollständig. Ein dritter Auslöser der Krise waren die exorbitanten Preisanstiege für Grundstücke und Häuser, die in einigen Ländern wie Spanien oder Irland völlig aus dem Ruder gelaufen sind. Kreditgeber für die Immobilien waren die Banken, die anschließend durch den Kollaps der Märkte in größte Schwierigkeiten geraten sind.
Hätte man bei der Aufnahme der südlichen Länder und Irlands in den Euro-Raum nicht mehr Vorsicht walten lassen müssen?
Issing: Darüber kann man lange streiten. Sicher hätte es ein Land wie Griechenland – wenn es die Daten nicht gefälscht hätte – nicht in die Europäische Währungsunion geschafft. Letztlich haben aber alle Länder durch die Einführung des Euro von niedrigeren Zinsen profitiert.
Diese günstigere Refinanzierung durch den Beitritt dürfte eine größere Subvention gewesen sein als alle jemals innerhalb der EU gewährten Transfers aus den Strukturfonds. Sie hat jedoch nicht zur Stabilisierung der Staatsfinanzen beigetragen, sondern die Verschuldungsanreize vielmehr noch erhöht.
Issing: Das ist richtig, aber man muss hier schon etwas differenzieren. Spanien hat beispielsweise in der Haushaltspolitik über viele Jahre einen sehr soliden Kurs gefahren. Allerdings muss sich die spanische genau wie die irische Regierung vorwerfen lassen, dass die Entwicklung auf dem Häusermarkt alle Anzeichen einer Überhitzung aufwiesen. Auch an dieser Stelle hat die EZB unermüdlich gewarnt. Zwar war der Bauboom zunächst ein Nachholprozess. Schlussendlich war aber absehbar, dass die Entwicklung ins Desaster führen musste. Was in Spanien zuletzt gebaut wurde, war jenseits dessen, was auf Dauer vernünftig ist. Die Regierungen haben zudem immer weiter Öl ins Feuer gegossen. Sie haben durch Steuererleichterungen den Markt weiter angeheizt, anstatt umgekehrt Wind aus den Segeln zu nehmen. Man hätte zum einen frühzeitig Steuererleichterungen abschaffen und zum anderen darüber hinaus Aktivitäten auf den Immobilienmärkten stärker kontrollieren müssen. Dann wäre der Einbruch sehr viel schwächer ausgefallen. Der Immobilienboom in einigen Ländern, der Verstoß gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie das Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit sind die wesentlichen Ursachen für die heutige Krise.
Welche Möglichkeiten hätte die EZB außer den Warnungen noch gehabt, um die Euro-Not zu verhindern?
Issing: Mir fallen keine ein. Die Geldpolitik muss sich an der durchschnittlichen Entwicklung im Euro-Raum orientieren. Man kann geldpolitische Maßnahmen also nur für den gesamten Währungsraum beschließen und nicht für einzelne Regionen durchführen. Das Gewicht der einzelnen Länder schlägt sich beispielsweise im harmonisierten Verbraucherpreisindex der Europäischen Währungsunion nieder. Wenn einzelne Länder mit einem relativ geringen Gewicht Probleme bekommen, dann steigt dieser eben nur geringfügig an. Aber nochmal, die Notenbank kann nicht eine spezielle Geldpolitik für einzelne Länder betreiben.
Zur Bekämpfung der Krise greift die EZB aber sehr wohl seit letztem Jahr zum Instrument des Ankaufs von Staatsanleihen ausgewählter Länder zurück. Das kann doch nicht im Sinne des Erfinders sein.
Issing: Die EZB war zunächst als einzig aktiv handelnde Institution übrig geblieben. Sie hat sich unter dem Druck der Verhältnisse zu diesen Maßnahmen bereitgefunden, die sie geldpolitisch begründet. Sie will nicht-funktionierende Märkte wieder funktionsfähig machen. Ob diese Begründung einen solchen Eingriff legitimiert, sei dahingestellt. Aber es ist auch der EZB bewusst, dass solche Ankäufe auf Dauer nicht gutgehen können.
Sind sie überhaupt rechtens?
Das Gespräch führte Jörg Rieger.
Hinweis: Die Langfassung des Interviews können Sie in der aktuellen Ausgabe der WiSt (01/2011) nachlesen.
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Da sitzen also Herr Issing und Herr Rieger öffentlich beisammen und plaudern angeregt darüber, ob der Euro möglicherweise nicht doch eine Erfolgsgeschichte sei. Er ist jedoch eher eine Geschichte fortdauernder Verstösse gegen selbst gesetztes Recht, die ihren bisherigen Kulminationspunkt im skrupellosen Beiseitewischen der No-Bail-Out-Klausel der Verträge von Maastricht und Lissabon erreicht haben. Kein Mann mit Ehre und Anstand (klingt altertümlich in dieser Zeit – aber sind diese Werte deshalb tatsächlich völlig entbehrlich?) sollte über die jüngsten Vorgänge in der EU in belanglosem Ton plaudern, sondern sollte sie – im Vorspann jeder seiner Äußerungen – als das verurteilen, was sie sind: Vertrags- und Rechtsbruch, begangen von verlogenen Politikern und Beamten, die die Geister, die sie riefen nicht mehr beherrschen und das Volk das sie vertreten sollen, dreist ignorieren. Diese Klarstellung fehlt mir einfach bei obigem Interview…
„Sind sie überhaupt rechtens?“
Diese Frage bleibt wohlweislich unbeantwortet. Somit brauchen Sie eigentlich keine Klarstellung. Hier wird mehrfacher Gesetzesbruch als „alternativlos“ hingestellt.