Griechenland (10)
Mit „Gewissheit“ im Euro
Das strategische Spiel der Griechen

Die politisch produzierte „Euro-Gewissheit“

Zunächst schien es so, als sei der griechische Finanzminister Varoufakis nicht nur theoretisch, sondern auch im praktischen Handeln ein trickreicher Meister der polit-ökonomischen Spieltheorie: Als Vertreter des höchstverschuldeten Krisenlandes der Euro-Zone und eines, wie er selbst es ausdrückt, „Pleitestaates“ spielte er auf hohem Niveau das Klavier persönlicher Verbalinjurien und materieller Forderungen gegenüber den Gläubigern seines Landes, vor allem Deutschland, so, als sei nicht Griechenland der hilfebedürftige Pleite-Schuldner, sondern vielmehr der kraftstrotzende Gläubiger im Rettungsnetz der Euro-Zone. Nunmehr, nach kurzen drei Wochen stolperhaften Anfängergebarens in der euro-politischen Arena, ist offensichtlich mehr Nüchternheit bei den griechischen Strategiespielern gegenüber der Realität des ihnen von den Vorgängerregierungen vererbten Chaos im Lande eingetreten. Zu diesem realitätsverleugnenden Spiel mutwillig und aggressiv vertauschter Rollen haben ihre Gegenspieler in der Euro-Zone, also die Euro-Retter, sie allerdings geradezu eingeladen. Und diese Einladung scheint von Dauer zu sein.  Wieso? Das erklärende Stichwort heißt: „Gewissheit“.

Was ist gemeint? Die politischen Konzeptoren haben die Euro-Zone als eine unumkehrbare Institution verstanden, für die ein Ausscheiden einzelner Mitglieder dementsprechend nicht vorgesehen ist. Mit dem Polit-Plakat der auf Ewigkeit angelegten „Schicksalsgemeinschaft“ wollte die Politik „Gewissheit“ produzieren: Einmal Euro-Mitglied – immer Euro-Mitglied, unabhängig von der polit-ökonomischen Performance im Zeitverlauf. Das Täuschen, Tarnen und Tricksen Griechenlands beim Euro-Eintritt war die Eintrittskarte für den Zugang zum später faktisch konditionsfrei gelieferten Gut „Gewissheit“. Gewissheit in der Unmöglichkeit eines zwangsweisen Ausscheidens Griechenlands (und auch aller anderen Mitglieder) bei nicht regelkonformem Verhalten.

Diese politisch produzierte „Gewissheit“, die von Anfang an und bis heute auf einer währungspolitischen und geschichtsvergessenen Gestaltungsillusion der europäischen und insbesondere auch der deutschen Euro-Politikplaner beruht und die mit ineffizienten ökonomischen Handlungsanreizen und sanktionslosen flächendeckenden Regelverletzungen einhergeht, hat es der Varoufakis-Tsipras-Crew und ihrer Vorgänger bisher gestattet, dieses anmaßend-aggressive Spiel  gefahrlos zu spielen, wie wir es derzeit erleben. Sie tanzen die riskantesten Akrobatenkunststücke hoch oben, und fallen sie herab, haben sie die „Gewissheit“, dass sie vom Netz der Anderen aufgefangen werden und ihre Risikostücke erneut risikolos und mit gegen die Netzbetreiber gerichtetem  Stinkefinger wieder vorturnen können. Zwar demonstriert Finanzminister Schäuble seine Gemütsverfassung zuweilen als „fassungslos“ und erhebt gegenüber seinen griechischen Bittstellern innenpolitisch öffentlichkeitsorientiert den warnenden Zeigefinger, dass nun aber bald Schluss sei mit seiner Toleranz, zugleich aber schwört er seine Fraktionskollegen im Bundestag auf die Alternativlosigkeit der Zustimmung zu immer weiteren Verlängerungen von Hilfszusagen an die Griechen ein. So versichern alle Europolitiker den Griechen immerwährend und immer wieder neu, dass sie mit „Gewissheit“ im Euro verbleiben werden und – der europäischen Friedensidee wegen –  verbleiben müssen.

Die politische Irrtumsverweigerung

Das Kernproblem in diesem Spiel ist die Unwilligkeit der Europolitiker, die Ursprungsirrtümer ihrer konstruktivistischen Euro-Konzeption sowie der endlos ausufernden Rettungsaktionen zulasten der europäischen Steuerzahler zuzugestehen. Irrtumszugeständnisse werden aber  immer unwahrscheinlicher, je länger der gegenwärtige Pfad der politischen Irrtumsverweigerung weitergegangen wird. So produziert pfadabhängige Irrtumsverweigerung steigende Kosten der dauerhaften Produktion von Euro-„Gewissheit“. Die Haftung für diese Strategie tragen aber nicht die Verursacher selbst, also die Irrtumsverweigerer in der europolitischen Arena, die sich vielmehr ihres hochmoralischen europäischen Friedensaltruismus rühmen und womöglich den späteren Eintritt in die Europa-Walhalla erhoffen, sondern die europäischen Steuerzahler, die staunend und zunehmend verärgert vernehmen müssen, dass gegen sie die griechische Syriza-Crew nicht nur eine – in den Worten von Tsipras – „Schlacht gewonnen“ habe, sondern auch noch den „Krieg gewinnen“ wolle.

Wieder Krieg in Europa, in der Euro-Zone gar? Ob dieser wieder aufgelebten öffentlich verkündeten – mindestens semantischen – Kriegsmentalität reibt sich der europäische Steuerbürger die Augen: Hatte nicht Kanzler Kohl die misstrauischen Bürger Europas und insbesondere Deutschlands bei der Euro-Einführung visionär aufklären wollen, dass Länder unter einem gemeinsamen Währungsdach nie (wieder) untereinander Krieg führen und dass deshalb der Euro eine Sache von Krieg und Frieden sei? Musste man schon damals die Kohlsche Vision nicht allzu ernst nehmen, weil sie ahistorisch und währungstheoretisch absurd ist, so gilt dies natürlich auch heute noch. In diesem Sinne hat es die griechische Regierung aber immerhin gewagt, ihren Landsleuten und der Euro-Öffentlichkeit die verbale Kriegsbemalung vorzuführen, mit der sie unter dem Schutzschild der „Gewissheit“ des Verbleibs Griechenlands im Euro zukünftige Verhandlungen über weitere Rettungsschirme und Schuldenerlasse zu gestalten gewillt ist. Auch wenn inzwischen wieder mehr Nüchternheit auf allen Seiten – Rat, EZB, IWF und Tsipras-Crew – eingekehrt ist, so ist weiterhin das Gut Euro-„Gewissheit“ kein Verhandlungsobjekt.

Ohne diese „Gewissheit“ als Auffangnetz müsste allerdings das strategische Spiel der Griechen  verhandlungstechnisch unter dem Risikokalkül des Euro-Ausscheidens rational und also weniger aggressiv ausfallen. Aber diese Euro-Lizenz „Gewissheit“, die zunehmend auch von der EZB durch ihre „Whatever-it-takes-Philosophie“ der OMT-Geld- und Staatsfinanzierungspolitik im Verbund mit der politisch organisierten Rettungsschirmpolitik produziert wird, zwingt sie dazu nicht wirklich, sondern lädt die Griechen ein, ihren Schuldenschlendrian und ihre Unwilligkeit zur strukturellen Staatserneuerung ziemlich sanktionslos auf der Zeitachse zu verlängern. In der neuesten Variante droht Tsipras der EZB mit einem erneuten „Thriller wie vor dem 20. Februar“, wenn diese nicht bereit sei, ihre Zustimmung zur Emission kurzristiger T-Bills zur Überbrückung der immer neuen Finanzierungslücken, deren Ausmaß niemand überblickt und genau beziffern kann, zu geben: High Noon in der Euro-Zone mit „Gewissheits-Zertifikat“ für Griechenland, das einer Lizenz für den Schuldner zur Erpressung seiner Gläubiger gleichkommt.

Das Maximin-Prinzip             

Die „Gewissheits-Garantie“ des alternativlosen Euro-Verbleibs Griechenlands verschüttet nun aber den Aspekt, dass es immer Alternativen zur Pfadabhängigkeit gibt. Das zeigt uns das bereits von David Hume bekannte Maximin-Prinzip in der Spiel- bzw. Entscheidungstheorie: Im Entscheidungskalkül sollte diejenige Alternative gewählt werden, deren schlechtestes Ergebnis besser ist als das schlechteste Ergebnis aller übrigen Alternativen. In Bezug auf das Euro-Problem schaltet die „Gewissheits-Garantie“ aber eine entscheidende Alternative von vornherein aus, nämlich die Suspension Griechenlands von der Vergemeinschaftung der Geldpolitik in der EU

Hier wird bewusst nicht vom Ausscheiden aus der „Organisation“ Währungsunion gesprochen, weil dieser europapolitisch negativ besetzte Terminus suggeriert, dass die Euro-Zone, wie die EU, eine eigenständige Organisation sei, deren „Mitgliedschaft“ man erwerbe (oder auch verliere). Tatsächlich aber handelt es sich bei den Ländern der Euro-Zone um diejenigen Länder der EU, die der Vergemeinschaftung ihrer Geldpolitik unterliegen. Alle anderen Nicht-Euro-Länder haben entweder eine Ausnahmegenehmigung von der Vergemeinschaftung (Dänemark, Großbritannien) oder erfüllen die Maastricht-Bedingungen freiwillig (wie Schweden) oder unfreiwillig (noch) nicht, um der Vergemeinschaftung ausgesetzt zu werden. Sie nehmen also nicht teil an der Vergemeinschaftung der Geldpolitik, sondern behalten die nationale Souveränität über ihre eigene Geldpolitik, ihre Zinsen, ihren Wechselkurs.

Dieses Szenario entspricht ganz und gar der EU-Praxis auch für andere Politikbereiche, wie z. B. für die Landwirtschaft, die Industrie, die Justiz, den Schengenraum usw., für die eine teilweise oder vollständige Vergemeinschaftung erfolgt ist und auch im Politikprozess verändert werden kann – und natürlich auch sollte, wenn man das EU-vertraglich kodifizierte Subsidiaritätsprinzip inhaltlich ernst nimmt, das durchaus eine Rückverlagerung von bisher vergemeinschafteten Politikbereichen in wieder nationale Zuständigkeiten vorsieht, wenn sich die Vergemeinschaftung für einzelne Länder nicht bewährt hat. Dies alles entspricht dem Konzept der differenzierten Integration.

Opting-out und Sezession

Deshalb ist es sinnvoll, zwischen einem Opting-out und einer Sezession zu unterscheiden. Scheidet ein Land auf der Basis von Art. 50 EUV aus der Organisation EU aus, so handelt es sich um eine Sezession. Wenn Griechenland aus dem institutionellen Arrangement der vergemeinschafteten Geldpolitik ausscheidet, so liegt ein Opting-out vor, das auf Basis von Art. 5 EUV den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung bemüht, also dem Prinzip der Subsidiarität entspricht. Es gilt mithin, das Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich auch für die Geldpolitik in der EU relevant werden zu lassen, wenn es um die Frage geht, wer dem EU-Raum der vergemeinschafteten Geldpolitik angehören soll und welches Land besser auf subsidiärer Basis Geldpolitik, Zinsen und Wechselkurs gestaltet. Eine solche Sicht, die nichts mit der politisch erzeugten und Rationalität abtötenden Emotionalität einer „Schicksalsgemeinschaft“ zu tun hat, wäre in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um Griechenland höchst angebracht, um das skizzierte spieltheoretisch relevante Problem der „Gewissheit“ dauerhafter Zugehörigkeit zum Euro-Club aufzuheben. Denn das Subsidiaritätsprinzip, das im Übrigen auch dem Art. 125 AEUV („No bail-out“) zugrunde liegt, soll ja auf Basis des Prinzips der institutionellen komparativen Wettbewerbsvorteile die komparativen Nachteile einer Politik-Vergemeinschaftung vermeiden.

Einer der wesentlichsten Nachteile der geldpolitischen Vergemeinschaftung liegt für Griechenland in dem fremdbstimmten Euro-Wechselkurs, der das Land von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit abschottet. Der für Griechenland – nach wie vor – überbewertete Euro müsste und könnte außerhalb der geldpolitischen Vergemeinschaftung abgewertet werden, um dem Land wieder Wettbewerbsfähigkeit zu verschaffen. Dazu wäre die Wiedereinführung der eigenen Währung nötig. Dies ist wohl am besten möglich auf der Basis des Parallelwährungskonzepts, in dem neben dieser Währung der Euro als Parallelwährung (oder auch umgekehrt) existiert (vgl. Wolf Schäfer, Parallelwährungen können hilfreich sein).

Dies ist ein Beispiel für den komparativen Nachteil der Vergemeinschaftung der Geldpolitik und damit der Abschaffung der zentralen Anpassungsvariable Wechselkurs in einem höchst heterogenen Integrationsraum. Wer, wie das in der Euro-Zone der Fall ist, einem Land mit „Gewissheit“ seinen Wechselkurs dauerhaft fremdbestimmt und diesem Land damit seinen komparativen Vorteil der wettbewerbsrelevanten Wechselkursselbstfixierung raubt, darf sich über die wundersamen Strategiespiele der Beraubten eigentlich nicht wundern.

Verlassen des Irrtumspfads

Das Fazit ist: Die Euro-Politiker inklusive EZB müssen den Irrtumspfad der Dauerhaftigkeit der im institutionellen Rahmen der Euro-Zone gewährten Hilfegewährung an Griechenland verlassen und damit die dauerhafte Produktion von „Gewissheit“ im Kalkül der griechischen Strategiespieler beenden. Das entspricht ganz dem Maximin-Prinzip, nach dem die beste aller anderen schlechten Lösungen gewählt werden sollte. Zu den anderen schlechten Lösungen gehört im Übrigen die Illusion, dass die an Griechenland schon gezahlten Hilfen keine versunkenen Kosten („sunk costs“) seien und deshalb ein Schuldenschnitt nicht infrage käme, weil sie dann ja offen zutage treten würden.

 

Blog-Beiträge zum Griechenland-Poker:

Norbert Berthold: Immer Ärger mit Griechenland. Ein Pyrrhus-Sieg der „Institutionen“?

Dieter Smeets: Nach der Rettung ist vor der Rettung. Griechenland und kein (Rettungs-)Ende!

Roland Vaubel: Schäubles Scherbenhaufen

Norbert Berthold: Trojanisches Pferd. Der Brief des Giannis Varoufakis

Uwe Vollmer: Scheidung auf griechisch. Wie realistisch ist der “Grexit“?

Norbert Berthold: Was erlauben Griechenland? Schwach wie Flasche leer

Dieter Smeets: Poker um Griechenland

Norbert Berthold: Sie kamen, sahen und verloren. Haben sich Alexis Tsipras und Giannis Varoufakis verzockt?

Thomas Apolte: Hexenmeister und Reformer. Was Varoufakis von Balcerowicz lernen kann.

12 Antworten auf „Griechenland (10)
Mit „Gewissheit“ im Euro
Das strategische Spiel der Griechen

  1. Brillante Analyse, bei der man sich nur noch fragen muss, ob zumindest manche Politiker dem semantischen Marketingtrick des Währungsnamens selbst aufgesessen sind. Mit „Euro“ wurde gleichsam das Positive an sich beschlagnahmt: Wer gegen den Euro ist, ist gegen Europa, und wer gegen Europa ist, ist gegen den Frieden! Der Eurokritiker wird unversehens zum adaptierten Mephisto, also dem „Geist, der stets verneint“, und wer möchte schon gerne die Inkarnation des Teufels sein?

  2. Aber das ist doch nun einmal seit vorgeschichtlichen Zeiten so: Kreditgeber (Gläubiger!) werden mit zwei Eigenschaften wahrgenommen: Sie sind dumm, weil sie Leuten Geld geben, von denen sie eigentlich wissen müssen, dass sie es nie zurückzahlen, und sie sind unverschämt, weil sie trotzdem verlangen, dass man ihnen ihr Geld zurückzahlt.

    Gläubiger heißen nun einmal Gläubiger, weil sie am Ende immer dran glauben müssen.

    Warum auch haben sie ihr Geld nicht zuhause investiert?

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