Unabhängigkeit der EZB (1)
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu PSPP
Anfang vom Ende der Notenbankunabhängigkeit

Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat am 5. Mai 2020 mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das vom Eurosystem im Jahre 2015 begonnene Staatsanleiheankaufprogramm (PSPP) stattgegeben und die Beschlüsse der EZB dazu als kompetenzwidrig eingestuft. Das BVerfG sieht im PSPP zwar keinen Verstoß gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung. Es beanstandet jedoch, dass Bundesregierung und Deutscher Bundestag es unterlassen haben, bei der EZB auf eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Programms hinzuwirken.

Das Urteil des EuGHs

Zwar hatte bereits der EuGH mit Urteil vom 11. Dezember 2018 entschieden, dass das PSPP nicht über das Mandat der EZB hinausgehe und auch nicht gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung verstoße. Dieses Urteil des EuGHs verkennt aber aus Sicht der BVerfG „in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (…) und ist wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar“ (BVerfG, 2020; auch die nachfolgenden Zitate sind dem entnommen).

In Konsequenz verpflichtet das BVerfG die Bundesregierung und den Bundestag, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken, und untersagt es der Deutschen Bundesbank, „nach einer Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen.“ Unterbleibt dieser Nachweis, muss die Bundesbank aus dem Programm austeigen und die bereits angekauften Bestände an Staatsanleihen längerfristig wieder rückführen.

Was ist PSPP?

PSPP ist wesentlicher Teil des vom Eurosystem im Januar 2015 gestarteten Expanded Asset Purchase Programme (APP) und gestattet es der EZB und den Nationalen Zentralbanken (NZBen), am Sekundärmarkt Anleihen von im Euroraum ansässigen Zentralstaaten, regionalen und lokalen Gebietskörperschaften sowie von Emittenten mit Förderauftrag und europäischen Institutionen anzukaufen. Die Verteilung der Ankäufe von Anleihen auf die Jurisdiktionen richtet sich nach dem Kapitalschlüssel der NZBen, wobei die einzelnen Zentralbanken sich im Wesentlichen auf öffentliche Titel ihres jeweiligen Heimatlandes konzentrieren. Hypothetische Verluste aus Anleihen von Zentralstaaten, regionalen und lokalen Gebietskörperschaften sowie Emittenten mit Förderauftrag trägt die jeweilige NZB selbst. Der Anteil der von der EZB angekauften Vermögenstitel beläuft sich auf 20%; für diese Titel entstehenden Verluste wären gemeinsam zu tragen.

Monita des BVerG gegenüber EZB und EuGH

Der zentrale Einwand des BVerfG gegen PSPP besteht darin, dass das Eurosystem und der EuGH mit Beschluss zum PSPP bzw. dem Urteil zu diesem Programm jeweils einen Ultra-vires-Akt begangen, d.h. eine Entscheidung außerhalb ihres Kompetenzbereichs getroffen haben. Aus Sicht des BVerfG besteht die Kompetenzüberschreitung der EZB darin, in „den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen weder geprüft noch dargelegt hat, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind.“ Die Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordere, die tatsächlichen Wirkungen von PSSP darzustellen und nachvollziehbar dazulegen, inwieweit PSPP zur Erfüllung des geldpolitischen Mandates beiträgt. Darüber hinaus hätte die EZB „die wirtschaftspolitischen Auswirkungen … gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen.“

Im Falle des EuGHs besteht die Kompetenzüberschreitung darin, dass sein Urteil „im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar … ist“. Insbesondere bemängelt das BVerfG eine vom EuGH sich selbst auferlegt Beschränkung seiner gerichtlichen Prüfung darauf, „ob ein `offensichtlicher´ Beurteilungsfehler der EZB vorliegt, ob eine Maßnahme `offensichtlich´ über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgeht oder ob deren Nachteile `offensichtlich´ außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen“. Das klingt wie: Der EuGH hat seinen Job nicht gemacht.

Tatsächlich hat sich die EZB im Beschluss (EU) 2015/74 vom 4. März 2015 eher knapp zur Verhältnismäßigkeit von PSPP geäußert. Dort heißt es: „… In einem Umfeld, in dem die Leitzinsen der EZB ihre Untergrenze erreicht und die auf Vermögenswerte des privaten Sektors fokussierten Ankaufprogramme messbare, jedoch unzureichende Wirkung gezeigt haben, um den Risiken einer schwindenden Preisstabilität zu begegnen, ist es erforderlich, die geldpolitischen Maßnahmen des Eurosystems um das PSPP als ein Instrument mit hohem Transmissionspotenzial für die Realwirtschaft zu ergänzen. … Das PSPP umfasst verschiedene Sicherungen, um zu gewährleisten, dass die geplanten Ankäufe in einem angemessenen Verhältnis zu den Programmzielen stehen und die verbundenen finanziellen Risiken bei der Programmgestaltung ordnungsgemäß berücksichtigt wurden und mittels Risikomanagement begrenzt werden.“ Dem BVerfG reichen solche Ausführungen offenbar nicht aus, und es fordert Bundesregierung und Deutschen Bundestag auf, hier nachzuhaken.

Angriff auf die Notenbankunabhängigkeit?

In einem Gastbeitrag zur FAZ zeigen sich einige namhafte deutsche Ökonomen besorgt, dass das Urteil die „verfassungsrechtlichen Grundlagen der Unabhängigkeit der Zentralbank und ihres Preisstabilitätsmandats untergräbt“ (Bofinger et al., 2020). Sie halten die Vorstellungen des Gerichts über die Trennung von Wirtschafts- und Währungspolitik für problematisch und fragen nach den Maßstäben für die von den Richtern geforderte wertende Gesamtbetrachtung. Diesen Bedenken sind meiner Sicht drei weitere Argumenten hinzuzufügen:

Erstens nennt das Urteil des BVerfG keinen Grund, warum die jetzt für das PSPP geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung zukünftig nicht auch bei Einsatz anderer geldpolitischer Instrumente des Eurosystems notwendig wird. Schließlich haben auch herkömmliche Instrumente wirtschafts- und fiskalpolitische Nebeneffekte und beeinflussen nicht nur die Inflationsrate. Beispielsweise hat eine Geldpolitik, die auf Ankäufe von Staatsanleihen verzichtet und diese „nur“ als Sicherheiten für Notenbankkredite akzeptiert (wie das bei traditionellen Hauptrefinanzierungsgeschäften der Fall ist) Auswirkungen auf die Attraktivität dieser Anleihen für Anleger und damit fiskalische Konsequenzen. Auf die Spitze getrieben bedeutet das, dass das Eurosystem dem Bundestag bei jedem neuen Instrumenteneinsatz, ja sogar bei jeder Leitzinsänderung, eine Verhältnismäßigkeitsanalyse liefern müsste, bevor die Maßnahme umgesetzt werden kann. Das ist das Ende jeder geldpolitischen Autonomie.

Zweitens weist das BVerfG in seiner Urteilsbegründung auf einen Wertekonflikt hin. Es muss abgewogen werden, ob Länder auf eine Ultra-vires-Kontrolle verzichten und akzeptieren, dass Unionsorgane ihre Kompetenzen ausweiteten oder ob sie durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union entscheiden und damit die Anwendung des Unionsrechts gefährden. Im hier vorliegenden Fall hat sich das BVerfG für die zweite Alternative entschieden, denn es wertet die Kompetenzkontrolle der EZB stärker als die Fragmentierung des Unionsrechts. Damit gefährdet das BVerfG aber die einheitliche Geldpolitik in der Eurozone und nimmt in Kauf, dass einzelne Länder künftig eine von der Entscheidung des Eurosystems abweichende Geldpolitik betreiben. Um es anders auszudrücken: Was hindert in Zukunft beispielsweise das oberste italienische Gericht daran, über das italienische Parlament durchzusetzen, dass die Banca d`Italia den Ankauf italienischer Staatsanleihen verdoppelt, wenn das BVerfG eine Aussetzung der Ankäufe durch die Bundesbank verfügen kann?

Drittens betrachtet das BVerfG die Geldpolitik als eine Art „Speisekarte“, auf der man die gewünschte Zusammensetzung des Menüs auswählt und den erhofften Mix an Zielen anstrebt. Dies ist nicht der Fall. Zinssätze sind jedenfalls keine geldpolitische Zielgröße, sondern Marktpreise, und niemand weiß, ob das aktuell niedrige Zinsniveau monetäre oder realwirtschaftliche Ursachen hat. Zielgrößen könnten Konjunktur, Produktion und Beschäftigung sein, doch diese kann die Geldpolitik nur durch Schaffung von Erwartungsirrtümer und dann auch nur vorübergehend beeinflussen. Langfristig verpuffen die Realeffekte einer expansiven Geldpolitik und die Volkswirtschaft landet bei gleicher Beschäftigung und höherer Inflation, was beträchtliche Wohlfahrtskosten hat. Wird die Geldpolitik dem Parlament überlassen, ist die Versuchung groß, besonders vor Wahlen, die Geldpolitik zur vorübergehenden Konjunkturankurbelung einzusetzen, selbst wenn dies nur ein Strohfeuer ist, das in einem Inflationsanstieg endet.

Gerade weil die Geldpolitik allein auf das Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist und keine Zielabwägung betreiben darf, ist sie von der Versuchung befreit, mit Geldpolitik realwirtschaftliche Ziele zu verwirklichen. Wie Odysseus sich an den Mast seines Schiffes hat binden lassen, um den Lockungen der Sirenen zu widerstehen, die sein Schiff ins Verderben reißen, hilft das Primat der Preisstabilität es den Entscheidungsträgern in der Notenbank, sich Wünschen nach kurzfristigen monetären Strohfeuern zu widersetzen. Indem das BVerfG das Eurosystem zwingt, über die Verhältnismäßigkeit geldpolitischer Ziele Rechenschaft abzulegen und diese vom Bundestag absegnen zu lassen, nimmt es der Zentralbank den Mast, der die Geldpolitik vor den Lockrufen der Sirenen schützt. Solche Sirenen mit betörenden Lockrufen und langen Wunschzetteln gibt es genug.

Literatur

Bofinger, P., Hellwig, M., Hüther, M., Schnitzer, M. , Schularick, M., Wolff, G. (2020), Gefahr für die Unabhängigkeit der Notenbank, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Gastbeitrag vom 29.05.2020.

Bundesverfassungsgericht (2020), Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig. Pressemitteilung Nr. 32/2020 vom 5. Mai 2020, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-032.html

3 Antworten auf „Unabhängigkeit der EZB (1)
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu PSPP
Anfang vom Ende der Notenbankunabhängigkeit

  1. Wenn das BVerfG von „Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ spricht, heißt das ganz offensichtlich nicht, dass jede noch so kleine Maßnahme der EZB den Parlamenten der Euro-Länder bis in die zehnte Nachkommastelle hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit erklärt werden muss.
    Außerdem bleibt die EZB Initiator und Betreiber der Maßnahmen, den Parlamenten kommt auf der Basis der BVerfG-Entscheidung – mittelbar und partiell! – nur eine Kontroll- und gegebenenfalls Vetokompetenz zu. Die Sentenz „Was hindert in Zukunft beispielsweise das oberste italienische Gericht daran, über das italienische Parlament durchzusetzen, dass die Banca d`Italia den Ankauf italienischer Staatsanleihen verdoppelt, wenn das BVerfG eine Aussetzung der Ankäufe durch die Bundesbank verfügen kann?“ ist also gleich doppelt fehlprogrammiert, denn
    – das BVerfG verfügt keine Aussetzung der Ankäufe durch die Bundesbank, sondern die Wahrnehmung entsprechender Darlegungspflichten der EZB sowie Prüfungspflichten von Bundesregierung und Bundestag bei derart gewaltigen Maßnahmen und
    – damit geht keine Initiativkompetenz nationaler Gerichte und Parlamente in Sachen geldpolitischer Instrumente einher.
    Das ist auch der Grund, weshalb der Vergleich mit dem Lockruf der Sirenen nicht taugt. Dieser Lockruf erfolgt vielmehr über die nationale Zusammensetzung der höchsten EZB-Gremien. Wie zu wenig (positive!) Inflation unter dem Primat der Preisstabilität als Basis derart gigantischer Programme heranzuziehen ist, löst sicher bei manchen Beobachtern Staunen aus, während politische Einflussnahme über die nationalen Vertreter im EZB-Rat sowie andere politische Kanäle deutlich mehr Plausibilität als gewichtigster Grund der Maßnahmen aufweist. Der mit dem BVerfG-Urteil de lege lata (!) angemahnte Filter für Megaprogramme à la PSPP ist mit Blick auf allzu erfolgreiche Lockrufe durchaus zu begrüßen.

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