„Wegen des ausgesetzten Nachholfaktors summiert sich das Rentenplus bis 2050 auf fast 100 Milliarden Euro“. (Axel Börsch-Supan)
In der letzten Zeit ist es leiser um die Gesetzliche Rentenversicherung geworden. Die rot-grünen Reformen der 00er Jahre und massive Hilfen der Steuerzahler (Bundeszuschüsse) haben sie in finanziell ruhigeres Fahrwasser gebracht. Allerdings: Umverteilungs- und wahlpolitisch motivierte Reformen der Großen Koalition (Rente mit 63, Mütterrente, Grundrente) haben die Reformdividende teilweise wieder aufgezehrt. Die gegenwärtige Ruhe täuscht. Es ist die Ruhe vor dem demographischen Sturm. Die Gesellschaft altert seit langem. Ein Ende ist nicht in Sicht. Niedrige Geburtenraten werden die Gesetzliche Rentenversicherung bis Mitte des nächsten Jahrzehnts und steigende Lebenserwartungen weit darüber hinaus in Atem halten. Der massive demographische Wandel stürzt die umlagefinanzierte Alterssicherung in inter-generative Verteilungskämpfe zwischen Jung und Alt. Wer muss den Preis für weniger Kinder bezahlen? Wer soll die Früchte eines längeren Lebens ernten? Die von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtete und politisch kaum diskutierte seltsame Geschichte des Nachholfaktors gibt einen konkreten Hinweis.
Umlagefinanzierte Alterssicherungssysteme sind anfällig für demographische Schocks. Bis Mitte der 30er Jahre dominiert eine rückläufige Geburtenrate den (steigenden) Altenquotienten. Danach wird allerdings demographisch keine Ruhe einkehren. Eine weiter steigende Lebenserwartung erfordert eine neue rentenpolitische Antwort. Die Politik hat mit der Rentenreform in den 00er Jahren entschieden, die Lasten des ersten demographischen Schocks mehr oder weniger gleichmäßig auf Rentner und Erwerbstätige zu verteilen. Der Beitragssatz soll 22 % nicht übersteigen, das Rentenniveau nicht unter 43 % sinken und die abschlagsfreie Regelaltersgrenze bis 2031 sukzessive auf 67 Jahre ansteigen. Gleichzeitig wurde 2008 unter dem damaligen Sozialminister Olaf Scholz eine temporäre Rentengarantie eingeführt. Danach darf die nominelle Rente in wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht sinken. Rentner erhalten quasi einen „Vorschuss“ auf spätere Rentenerhöhungen. Den müssen sie in wirtschaftlich besseren Zeiten mit höheren Renten sukzessive zurückzahlen. Das Rentenniveau bleibt über die Konjunktur hinweg stabil.
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Mit der rot-grünen Rentenreform war die Gesetzliche Rentenversicherung fast saniert. Die Nachhaltigkeitslücke schrumpfte auf unter 30 % des BIP. Der inter-generative Verteilungskonflikt schien gelöst, zumindest bis Ende der 20er Jahre. Dann stach die Politik wieder einmal der Hafer. Mit dem Rentenpakt 2019 wurde der fein austarierte inter-generative Kompromiss der Rentenreform der 00er Jahre umgestoßen. Es wurde eine „doppelte Haltelinie“ installiert. Das Rentenniveau darf bis 2025 nicht unter 48 % fallen, der Beitragssatz nicht über 20 % steigen. Auftretende finanzielle Löcher in der Rentenversicherung muss der Bund über Zuschüsse stopfen. Die Politik entschied aber auch, den Nachholfaktor bis 2025 auszusetzen. Er hätte das garantierte Rentenniveau (48 %) aushebeln können. Wenn die „nominelle“ Rentengarantie greift, muss der „Vorschuss“ nicht mehr mit künftigen Rentenerhöhungen verrechnet werden. Dieser Fall wird schon 2021 eintreten, wenn der heftige wirtschaftliche Einbruch der Corona-Krise erstmals zu Buche schlägt.
Der Sündenfall des ausgesetzten Nachholfaktors hat nachhaltige inter-generative Konsequenzen. Das Rentenniveau steigt nach heftigen wirtschaftlichen Einbrüchen nicht mehr nur temporär, sondern dauerhaft. Die Dummen sind die Erwerbtätigen. Zwar werden durch die „doppelte Haltelinie“ auch ihre Beiträge gedeckelt. Allerdings werden sie dann als Steuerzahler zur Kasse gebeten, weil der Staat die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung erhöhen muss. Höhere Steuern treffen zwar auch die Rentner. Allerdings tragen die Erwerbstätigen den Löwenanteil. Das gilt für Einkommen- und Mehrwertsteuer. Die weitgehend unbeachtete Geschichte des Nachholfaktors gibt einen Fingerzeig, wie künftig inter-generative Verteilungskonflikte in der Rentenversicherung gelöst werden. Schon jetzt ist der Medianwähler älter als 54 Jahre. Und er wird künftig noch älter. Die Politik wird inter-generativ nichts tun, was die älteren Generationen auf die Palme bringt. Das sind keine guten Aussichten für die jüngeren Generationen und die umlagefinanzierte Alterssicherung.
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