Wissenschaftliche Politikberatung ist selten effizient. Berater und Politiker ticken unterschiedlich. Beide verfolgen nicht (nur) das Gemeinwohl. Auch der Umweg über eine aufgeklärte Öffentlichkeit ist voller Hindernisse.
„Erhard, woll’n Sie sich ’ne Laus in den Pelz setzen?“ (Konrad Adenauer zum Vorschlag von Ludwig Erhard (1956), eine besondere Institution mit unabhängigen Ökonomieprofessoren zur Beratung über die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Lage einzurichten. hier)
Politikberatung ist ein hartes, manchmal auch schmutziges Geschäft (Albrecht O. Ritschl). Der jüngste Streit im Sachverständigenrat (SVR) ist die Spitze des Eisberges (hier). Der Markt für wissenschaftliche Politikberatung ist hart umkämpft, die Renten sind hoch. Die Nachfrage nach Politikberatung ist groß, das Angebot an „guter“ Politikberatung aber rar. An schlechtem Rat herrscht kein Mangel (Otmar Issing). Politikberater haben eine doppelte Aufgabe: Zum einen sollen sie der Politik helfen, eine effiziente Politik für die Bürger zu machen. Ansonsten werden sie über kurz oder lang abgewählt. Zum anderen haben sie eine Bringschuld (Herbert Giersch), die Bürger aufzuklären, wie eine „bessere“ Politik aussieht. Mit diesem Wissen können die Bürger die Politik auf den „richtigen“ Weg bringen.
Was wollen die Bürger?
Die wohl wichtigsten (ökonomischen) Wünsche der Bürger, wie mehr Wohlstand und eine „gerechte“ Verteilung, sind weniger klar, als es auf den ersten Blick scheint. Und sie sind vom Zeitgeist abhängig. Der ändert sich, oft auch schnell. Mit ihm variiert der Wunsch nach Wohlstand. Gegenwärtig zeigen De-Growth-Philosophien, Work-Life-Balance-Überlegungen und die über Parteigrenzen hinweg geäußerte Forderung, fossile durch erneuerbare Energien zu ersetzen, dem Wachstum neue Grenzen auf. Einheitlich sind die Präferenzen der Bürger aber immer weniger. Sie fächern sich mit wachsendem Wohlstand auf. Das erschwert das Geschäft der Politik.
Was „gerecht“ ist, wird in einer Gesellschaft unterschiedlich beurteilt. Gerechtigkeit ist keine ökonomische, Gerechtigkeit ist eine ethische Kategorie. Sie beruht auf individuellen Werturteilen. Die Bandbreite der individuellen Einschätzung, was gerecht ist und was nicht, ist in der Gesellschaft groß. Zumeist können sich Gesellschaften nur auf einige wenige allgemein akzeptierte distributive Werturteile verständigen. Die Garantie eines Existenzminimums zählt dazu. Schon über die Höhe und Ausgestaltung herrscht aber Uneinigkeit, wie die heftigen Diskussionen gestern um Hartz IV, heute um das Bürgergeld (hier) zeigen. Das gilt erst recht für weitere Formen der Umverteilung. Sie werden kontrovers diskutiert.
Die Politik hat also ein erstes Informationsproblem. Sie steht vor der Schwierigkeit, den herrschenden Zeitgeist zu erkennen. Das ist schwierig, auch weil der Zeitgeist volatil ist. Die Politik muss herausfinden, was sich die Mehrheit der Bürger allokativ und distributiv wünscht. Gelingt ihr das nicht, stehen es schlecht um ihre Wahlchancen. It’s the Zeitgeist, stupid. Von Ökonomen kann die Politik auf diese Fragen keine seriösen Antworten erwarten. Deren komparative Vorteile liegen woanders. Gefragt sind beratende Experten, die das Geschäft der politischen Marktforschung besser beherrschen als die Ökonomen.
Was soll die Politik tun?
Auch wenn der Politik klar wäre, was die Bürger genau wollen, hat sie ein zweites Informationsproblem. Sie weiß oft zu wenig, welche Instrumente am besten geeignet sind, die Vorstellungen der Bürger zu erfüllen. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung herrscht allerdings (noch) Konsens, dass die Politik zweierlei tun sollte: Zum einen soll sie adäquate Spielregeln für das Marktgeschehen installieren, sie überwachen und Verletzungen sanktionieren. Zum anderen soll die Politik (allokatives und distributives) Marktversagen korrigieren, wenn sie es besser kann. Keinesfalls soll der Staat als Schiedsrichter mitspielen (Ludwig Erhard).
Beides ist leichter gesagt als getan. Wie ist der Ordnungsrahmen auszugestalten? Mit welchen Mitteln soll Marktversagen korrigiert werden? Die (Ministerial)Bürokratie kann der Politik wenig helfen. Oft weiß weder sie noch die Politik, was allokativ und distributiv sinnvoll ist. Welche Instrumente am wenigsten kosten, kann sie oft auch nicht sagen. Manchmal ist es für die Politik aus wahltaktischen Überlegungen sogar sinnvoll, nicht die ökonomisch beste Lösung anzustreben, sondern auf teurere Mittel zu setzen und Geld zum Fenster raus zu werfen. „Es ist allerdings noch nie gelungen, mit schlechter Ökonomie gute Politik zu machen.“ (Alfred Schüller)
Die Informationsdefizite der Bürger sind nicht kleiner. Oft wissen sie nur wenig darüber, wie eine Volkswirtschaft funktioniert. Kein Wunder, dass auch sie schlecht informiert sind, wie konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen der Politik wirken. Bürgern fehlt oft das ökonomische Basiswissen. Familien und Schulen vermitteln es hierzulande eher selten. Oft sind die Informationen irreführend. Bürger, Politiker und Bürokraten sind Nachfrager auf dem Markt für wissenschaftliche Politikberatung. Die Angebote sollen (auch) von der Wissenschaft kommen. Der Staat stützt und „subventioniert“ das Angebot der Wissenschaft über viele Kanäle.
Welche Rolle spielt die Wissenschaft?
Das Angebot an Politikberatung ist vielfältig. Die Wissenschaft spielt eine wichtige Rolle. Ihr wird zugetraut, die Politik sachgerecht zu beraten. Das geschieht etwa über Gutachten von Forschungsinstituten, situations- und bedarfsabhängige Kommissionen, wie etwa die De-Regulierungs-Kommission oder jüngst die Gaspreis-Kommission, aber auch durch fest installierte, staatlich finanzierte Beratungsinstitutionen, wie Wissenschaftliche Beiräte bei Ministerien, den Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Monopolkommission.
Im „naiven“ Modell der Politikberatung (Gebhard Kirchgässner) ist die Wissenschaft glaubwürdig. Ihr Rat an die Politik ist die in vielen Publikationen geronnene, evidenzbasierte Forschung (Klaus F. Zimmermann). Die (ökonomische) Wissenschaft kennt die besten Instrumente, weiß Bescheid über Zielkonflikte, hat keine individuellen Werturteile, ist politisch neutral und nur der Wahrheit, besser: der Wohlfahrt ihres Gemeinwesens, verpflichtet. Je unabhängiger die institutionalisierte wissenschaftliche Politikberatung ist, desto besser ist ihr Rat.
In dieser (Traum)Welt folgt die Politik dem zuverlässigen und eindeutigen Rat der Wissenschaft. Sie setzt die Vorschläge im politischen Prozess Eins zu Eins um. Es gibt nur richtige und falsche Vorschläge. Die Wissenschaft kennt die richtigen und schlägt sie ungefiltert der Politik vor. Und die Politik nimmt sie bereitwillig auf. Es gilt: Was ökonomisch sinnvoll ist, ist es auch politisch. Diese Strategie sichert ihr auch das politische Überleben. Die Politik hat keine Anreize, diskretionäre Handlungsspielräume zu nutzen.
Verfolgen die Akteure eigene Interessen?
Die reale Welt ist eine andere. Die Interessen der Bürger sind heterogen. Eine einheitliche Politik trifft die unterschiedlichen Präferenzen nicht. Die Politik muss differenzieren. Und das tut sie auch. Sie orientiert sich nicht an einem Gemeinwohl, wie auch immer definiert. Sie achtet auf ihre Wiederwahlchancen. Deshalb verfolgt sie eine Politikstrategie, die viele kleinere Gruppen begünstigt und die Lasten möglichst unfühlbar auf die breite Masse der Wähler verteilt (Beat Blankart). Ökonomisch sinnvolle Lösungen sind das eine, politisch ertragreiche etwas anderes.
Ökonomen denken ökonomisch, Politiker denken politisch. Die Wissenschaft kann dieses Dilemma nicht auflösen. Politik erscheint beratungsresistent. Es ist auch eine Illusion zu glauben, es gäbe eindeutigen Rat. Das Wissen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der Ökonomie ist unsicher und vorläufig. Viele Wege führen nach Rom. Die Wissenschaft ist uneins, was ökonomisch effizient ist. Und schließlich sind die Wissenschaftler selbst nicht frei von Werturteilen. Auch die Unabhängigkeit der Politikberatung kann dieses Problem nicht elminieren.
Tatsächlich ist die Wissenschaft meist nicht unabhängig von der Politik. Gut dotierte Gutachten setzen bei einzelnen Wissenschaftlern falsche Anreize. Auch seriöse Forschungsinstitute sind abhängig von staatlichem Geld. In Kommissionen werde die Mitglieder politisch „vorsortiert“. Das gilt auch für Institutionen, wie etwa dem SVR, der Monopolkommission und der Gemeinschaftsdiagnose. Unabhängiger sind dagegen die Wissenschaftlichen Beiräte beim BMWK und dem BMF. Sie kooptieren ihre Mitglieder mit absoluten Mehrheiten der stimmberechtigten Mitglieder selbst. Die Mitglieder sind auf Lebenszeit berufen. Und sie wählen ihre Beratungsthemen frei aus.
Wer versagt bei der Aufklärung der Öffentlichkeit?
Unterschiedliche Kalküle der (ökonomischen) Wissenschaft und Politiker tragen dazu bei, dass wissenschaftliche Politikberatung oft nicht erfolgreich ist. Die hohe Beratungsresistenz der Politik frustriert auch renommierte Ökonomen wie etwa den langjährigen Ifo-Präsidenten Hans-Werner Sinn. Er schlägt deshalb vor, in der Politikberatung einen Umweg zu machen und vor allem die Öffentlichkeit mit ökonomischen Fakten und Argumenten zu unterrichten. Vermutet die Politik, dass das Volk auf die Ökonomen hört, dann hört auch die Politik auf sie, so seine Hoffnung.
So einfach ist das aber nicht. Die Märkte für wissenschaftliche Politikberatung versagen, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit aufzuklären. Eine Beratung der Öffentlichkeit ist ein Gut mit positiven externen Effekten. Das Angebot fällt erfahrungsgemäß zu gering aus. Politikberater haben wenig Interesse, die Öffentlichkeit ausreichend zu informieren. Die Beratung der Politik ist oft nicht nur lukrativer. Berater der Öffentlichkeit müssen akademische Erkenntnisse auf das Wesentliche reduzieren, möglichst einfach darstellen und in eine verständliche Sprache bringen (Aymo Brunetti). Auf diesem Feld haben aber Wissenschaftler oft keine komparativen Vorteile, zumindest nicht in Deutschland.
Die Wissenschaft kann die Öffentlichkeit oder die Politik beraten, aber nicht beide. Der Mannheimer Ökonom Roland Vaubel vertritt diese These. Die Beratung der Politik mache Wissenschaftler für die Beratung der Öffentlichkeit oft unglaubwürdig. Ihr Rat verhalle in der Öffentlichkeit. Ist der Wissenschaftler bei der Öffentlichkeitsberatung dagegen erfolgreich, werde er Medienakteur und damit Rivale der Politik (Klaus F. Zimmermann). Die Anreize der Politik seien gering, ihn als Politikberater zu engagieren, es sei denn, er stützt die eigene Position (Hans-Jürgen Krupp). Der Wissenschaftler müsse sich also entscheiden, wen er berät, die Politik oder die Öffentlichkeit.
Braucht es einen anderen SVR?
Die Erfolge der wissenschaftlichen Politikberatung sind übersichtlich. In der Beratung der Politik stoßen Berater an Grenzen, weil Wissenschaft und Politik unterschiedlichen „Rationalitäten“ folgen. Eine unabhängige Beratung der Öffentlichkeit scheitert oft, weil der Markt für Politikberatung versagt. Das alles gilt auch für den SVR, die sichtbarste Institution staatlich finanzierter Politikberatung. Sein gesetzlicher Auftrag ist nicht, die Regierung zu beraten, sondern sie kritisch und unabhängig zu begleiten und die Öffentlichkeit über ökonomische Probleme aufzuklären. Politikvorschläge gehören nicht zu seinen Aufgaben. Daran hält sich der SVR allerdings nicht.
Es gibt seit langem viele Vorschläge, den SVR neu zu ordnen. Für die direkte Politikberatung wird auf den amerikanischen CEA verwiesen. Er ist ein abhängiges Beratungsgremium, das direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Der sucht sich seine Berater aus, auch „Hochkaräter“ aus der Wissenschaft, die ihn beraten, wie er am besten seine politischen Vorstellungen effizient umsetzen kann. Der immanente Konflikt bei „unabhängiger“ Beratung zwischen Wissenschaft und Politik verschwindet. Für das alternative Angebot im Wettbewerb der politischen Ideen ist die Opposition zuständig.
Neben einem „deutschen CEA“ für direkte Politikberatung könnte ein reformierter SVR die Aufklärung der Öffentlichkeit verbessern. Der „neue SVR“ sollte unabhängig sein. Seine Mitglieder sollten nicht korporatistisch, sondern allein nach Qualifikation berufen werden. Joachim Weimann hat vorgeschlagen, die Auswahl „objektiv“ anhand fachlicher und wissenschaftlicher Kriterien vorzunehmen. Vorbild könnte seiner Meinung nach die Wahl der Mitglieder zu den Fachgremien der DFG sein. Ein anderes Vorbild könnte die Art der Kooptation der Mitglieder in die unabhängigen Wissenschaftlichen Beiräten beim BMWK und dem BMF sein.
Fazit
Oft ist wissenschaftliche Politikberatung wenig effizient. Politik und Wissenschaft ticken unterschiedlich. Beide verfolgen nicht nur das Gemeinwohl. Die Wissenschaft hat eigene Interessen, die Politik will wiedergewählt werden. Oft ist die Politik (deshalb) beratungsresistent. Auch die Aufklärung der Öffentlichkeit funktioniert nicht gut. Das „A und O“ einer „guten“ (Wirtschafts)Politik sind ökonomisch gebildete Bürger. Eine (gute) ökonomische Ausbildung an Schulen wäre hilfreich. Dezentralere (föderale) Entscheidungsstrukturen der Politik und direktere Formen der Demokratie wären es auch. Sie erhöhten die Beteiligung der Bürger. Die Anreize der Bürger wären größer, sich zu informieren. Der Druck auf die Politik nähme zu, eine „bessere“ Politik zu machen. Die Schweiz hat es begriffen, trotz der 13. AHV-Rente.
Blog-Beiträge der Serie “Politik(er)beratung”
Aymo Brunetti: Zur Rolle von Ökonominnen und Ökonomen in der Politikberatung
Christoph M. Schmidt: Vertrauen verlangt Verantwortung. Ukraine-Krieg und Ökonomen-Streit
Klaus F. Zimmermann: Wissenschaftliche Politikberatung als Herausforderung
Achim Wambach: Notizen zur wirtschaftspolitischen Beratung durch die Wissenschaft
Friedrich Schneider: Politikberatung in Österreich im Unterschied zu Deutschland. Einige persönliche Anmerkungen
Gert G. Wagner: Mehr Forschungsbasierung der (Bundes)Politik (?)
Roland Vaubel: Realistische Politikberatung
- Pakt für Industrie
Korporatismus oder Angebotspolitik? - 27. Oktober 2024 - De-Industrialisierung nimmt Fahrt auf
Geschäftsmodelle, De-Globalisierung und ruinöse Politik - 12. September 2024 - Ordnungspolitischer Unfug (13)
So was kommt von sowas
Unternehmer, Lobbyisten und Subventionen - 17. August 2024