Im Sommer 1989 warf die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) angesichts der Daueropposition der polnischen Bevölkerung und der inzwischen katastrophalen Wirtschaftslage den führenden Köpfen der legendären SolidarnoÅ›c sprichwörtlich die Brocken vor die Füße, und zwar nach dem Motto: Wenn ihr es besser könnt, dann bitte. Vermutlich ahnten General Jaruzelski und die alt-sozialistische Parteielite nicht, dass die SolidarnoÅ›c-Oppositionellen es wirklich besser konnten. Ebenso wenig hatte zu dieser Zeit im Westen jemand ernsthaft vorhergesehen, dass dieses von Krisen und wirtschaftlichem Chaos geschüttelte Land gerade damit begann, sich auf eindrucksvolle Weise aus seiner Misere zu befreien.
Und doch sollte es so kommen. Tadeusz Mazowiecki, der erste frei gewählte Ministerpräsident innerhalb der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, zögerte nicht lange, denn für ihn wie für die meisten seiner Landsleute war klar: Die Ursache für die Misere war ein System, das man den Polen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezwungen hatte und das wohl kaum irgendwo derart ungeliebt war wie in Polen. Aber befreien von diesem System und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Chaos müssten sich die Polen dennoch in allererster Linie selbst. Dies klar vor Augen, benannte Mazowiecki einen SolidarnoÅ›c-Mitstreiter und Ökonomen zum Finanzminister und damit zum Chefarchitekten der wirtschaftlichen Transformation, der bereits damals international renommiert war, der in mehreren westlichen Ländern studiert hatte und der die Hintergründe des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders besser kannte als vermutlich mehr als 95 Prozent der deutschen Bevölkerung: Leszek Balcerowicz, der mit Anfang 40 nur deshalb noch kein Professor geworden war, weil er bereits in der ersten SolidarnoÅ›c-Welle knapp zehn Jahre zuvor führende polnische Ökonomen zusammengeführt und mit ihnen an Konzepten zur Transformation des polnischen Wirtschaftssystems gearbeitet hatte.
Balcerowicz nahm angesichts der hohen Auslandsverschuldung von rund 40 Mrd. US-Dollar, der völlig zerrütteten Staatsfinanzen und der nicht minder zerrütteten Währung unmittelbar Kontakt zum Internationalen Währungsfonds auf. Binnen weniger Wochen stand der Plan einer umfassenden Wirtschaftsreform, welche in den Folgejahren als „Balcerowicz-Plan“ in Ost und West die Gemüter in ähnlicher Weise erregte wie heutzutage das „Troika-Diktat“ im Zusammenhang mit der Dauerkrise in Griechenland. Gerade auch viele westliche Beobachter kritisierten das polnische „Austeritätsprogramm“ scharf, denn die Kombination aus einer weitreichenden Liberalisierungen der Märkte, einer strikt anti-inflationären Geldpolitik und einer konsequenten Rückführung der staatlichen Budgetdefizite konnte aus Sicht der Kritiker nur eine einzige Konsequenz haben: Polen würde angesichts der Nachfrageausfälle in einer tiefen Depression versinken, die Armut der Bevölkerung würde sich in der Folge der Haushaltskürzungen zwangsläufig ins Unerträgliche steigern, und zukunftsorientierte Investitionen würden auf dem Altar dessen geopfert, was heute von vielen eine neoliberale Marktideologie genannt wird und was damals unter dem ebenso abschreckenden Begriff des „Washington Konsensus“ firmierte; einem Begriff, hinter dem sich damals viele fachlich versierte und noch viel mehr nicht versierte Politikbeobachter bereitwillig zusammenfanden, um dem von ihnen diagnostizierten Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Damals wie heute wurde ein Zielkonflikt zwischen einem Konsolidierungskurs vom Schlage des Balcerowicz-Plans auf der einen Seite und einem fiskalisch wie monetär expansiven Wachstumskurs auf der anderen Seite aufgebaut, so als ob es je ein Beispiel dafür gegeben hätte, dass ein Land mit zerrütteten wirtschaftlichen und institutionellen Strukturen im Wege eines fiskalischen und monetären Expansionskurses einfach so aus seinen Problemen herausgewachsen wäre; und so als ob es eine selbstverständliche Wahrheit wäre, dass ein Konsolidierungskurs immer und überall in eine tiefe Depression münden müsse, so dass man immer nur die Wahl hätte zwischen einem depressiven Konsolidierungskurs und einem wachstumsorientierten Expansionskurs, auf den Politiker jederzeit „einschwenken“ könnten, sofern sie denn nur zu jenen gehörten, die mit einem guten Willen ausgestattet sind.
Kein Wunder also, dass der Balcerowicz-Plan auch und gerade in Polen nicht unumstritten blieb: Die in der Opposition auf fast schon rührende Weise geeinte SolidarnoÅ›c spaltete sich angesichts der Regierungsverantwortung auf, und es wurde zeitweise sehr einsam um den Finanzminister. Mazowieckis Nachfolger Bielecki ließ ihn zwar noch im Amt, aber bereits Ende 1991 wurde er unter der Regierung Olszewski abgelöst. Einer seiner Nachfolger war zugleich einer seiner schärfsten Kritiker: der Wirtschaftsprofessor Grzegorz KoÅ‚odko, der im In- und Ausland unter teilweise großem Applaus westlicher Experten gegen die depressionstreibende Austeritätspolitik des Balcerowicz-Plans wetterte und 1994 mit vollmundigen Versprechungen, welche denen des neuen griechischen Finanzministers Varoufakis nicht ganz unähnlich waren, selbst das Amt des Finanzministers übernahm – um dann im Wesentlichen den 1990 eingeschlagenen Kurs beizubehalten, was natürlich auf Druck der internationalen Finanzmärkte geschah, wie viele kundige Beobachter vermuteten und wie noch mehr Feuilleton-Redakteure sicher wussten. Balcerowicz selbst wurde 1997 erneut Finanzminister und später Notenbankchef. Stets blieb er das Ziel vehementer Angriffe auf seinen vermeintlich ideologischen Kurs, und es gab Zeiten, in denen er als der meist gehasste Mann Polens galt.
Das Bemerkenswerte dabei ist aber: Ebenso wenig wie KoÅ‚odko wich irgendein Politiker in Polen wirklich von dem Kurs ab, den Balcerowicz ab 1990 eingeschlagenen hatte. Dabei schienen zu Beginn alle Kritiker Recht zu behalten, denn die Lage war tatsächlich dramatisch: Das Bruttoinlandsprodukt sank nach offiziellen Statistiken um rund 30 Prozent und die Arbeitslosigkeit explodierte nach offiziellen Angaben und erst Recht unter Einbeziehung der verdeckten Arbeitslosigkeit. Die Inflationsrate sank nicht, sondern sie schoss im Zuge der Preisliberalisierung auf zweistellige Monatsraten (!), und selbst im Jahre 1991 lag die Jahresrate noch bei über 70 Prozent. Für die Kritiker war das ein klares Indiz dafür, dass nur marktfundamentalistisch verbohrte Ideologen unter solch depressiven Bedingungen fiskalische und monetäre Konsolidierung betreiben konnten und dass es ökonomischem Harakiri gleichkam, sich in einem derartig wettbewerbsentwöhnten Umfeld zu einer so umfassenden Preisliberalisierung hinreißen zu lassen. Und das sah man keineswegs nur in Polen und erst Recht nicht nur in ökonomisch weniger versierten Kreisen so. Einer der wenigen westlichen Ökonomen, die den Balcerowicz-Plan damals ohne Abstriche befürworteten, war der renommierte schwedische Ökonom und Osteuropa-Experte Anders Ã…slund. Er wies schon früh darauf hin, dass der Rückgang des Bruttoinlandsprodukt zu einem großen Teil eine statistische Illusion war, dass die zu beobachtende drastische Preisanpassung unter den Bedingungen des monetären Überhangs die einzige Alternative zu einer Währungsreform war und dass die Arbeitslosigkeit ein Indiz für Probleme war, die bereits vorher bestanden und daher ursächlich nur bekämpft werden konnte, wenn man diese seit langem bestehenden Problem im Rahmen einer neu etablierten marktwirtschaftlichen Ordnung löste.
Ã…slund sollte Recht behalten: Nachdem der Balcerowicz-Plan ab dem 1. Januar 1990 umgesetzt wurde, stellte sich ausgerechnet im krisengeschüttelte Polen bereits im Jahre 1993 und damit im ersten aller Transformationsländer (inkl. der ehemaligen DDR) wieder Wirtschaftswachstum ein – und zwar ganz ohne ein „Einschwenken“ der Politik auf einen expansiven „Wachstumskurs“ und ganz ohne eine Abkehr von der konsolidierungsorientierten „Depressionspolitik“ des Balcerowicz-Plans. Und was sich in den gut zwei Jahrzehnten danach in Polen abspielte, sprengt so ziemlich alle Dimensionen dessen, was man sich damals selbst als größter Optimist hätte vorstellen können: Den – angesichts der historischen Verstrickung Deutschlands in die polnische Misere ohnehin stets unangebrachten – Schmähbegriff der „polnischen Wirtschaft“ kennen junge Menschen heute gar nicht mehr; dass polnische Bürger in den 1980er Jahren gehungert haben, wissen die wenigsten jungen Leute im Westen heute noch; und Erzählungen darüber, dass es in den 1980er Jahren in Deutschland umstritten war, ob man angesichts der katastrophalen Versorgungslage in Polen die seinerzeit begehrten polnischen Weihnachtsgänse kaufen oder gerade nicht kaufen solle, versetzt sie in ungläubiges Staunen. Aber umgekehrt gilt: Wer sich auch immer nur ein wenig mit der jüngsten polnischen Geschichte befasst hat, kennt den Begriff des „polnischen Wirtschaftswunders“. Heute kaufen wir keine Weihnachtsgänse mehr aus Polen, sondern Autos und Flugzeuge!
Man könnte also geneigt sein, alles das als eine beispiellose Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Denn in der Tat sind Superlative angesichts einer solchermaßen glücklichen Entwicklung nicht unangebracht – und das selbstverständlich unter Ankerkennung der Tatsache, dass es in der ganzen Zeit natürlich auch Probleme gegeben hat. Wie hätte es auch anders sein sollen? Eines allerdings ist die polnische Erfolgsgeschichte nach 1989 nicht: Sie ist nicht einzigartig! Einzigartig waren gewiss die oft dramatischen Bedingungen, die historische Vorgeschichte seit der Neugründung Polens im Jahre 1918, die erneute Besetzung 1939, die abermalige Aufteilung, Zerstörung und Wiederbesetzung im 2. Weltkrieg; schließlich der verbissene und bisweilen spektakuläre Freiheitskampf der Polen nach 1945, welcher angesichts des Leids, das sich die Polen damit oft selbst zufügten, bisweilen auch mit Kopfschütteln im Westen beobachtet wurde, der die Polen am Ende aber zu den Vorreitern bei der Befreiung im Jahre 1989 machte.
Das alles war gewiss einzigartig. Aber die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte nach 1989 war es nicht. Denn zur gleichen Zeit spielten sich auf diese und auf ganz ähnliche Weise rund um Polen ähnliche Prozesse ab. Unter den unterschiedlichsten, aber immer unter schwierigsten Bedingungen war eine jeweils ganz ähnliche Geschichte in mindestens sieben weiteren Ländern zu beobachten, die alle mitten in Europa lagen und die schließlich alle im Jahre 2004 Mitglieder der Europäischen Union wurden: In Estland, Lettland und Litauen sowie in Slowenien musste man aus dem Nichts einen neuen Staat mitsamt einer neuen Währung aus dem Boden stampfen, in Tschechien und der Slowakei war eine Sezession zu verkraften und in Ungarn musste man lernen, dass der in den 1980er Jahren im Westen angesichts seines pragmatischen Umgangs mit der marxistischen Ideologie bewunderte „Gulaschkommunismus“ keineswegs schon der halbe Weg zur modernen Marktwirtschaft gewesen war. In allen diesen Ländern war das Einkommensniveau bestenfalls vergleichbar mit jenem Griechenlands, und das wohlhabendste unter allen diesen Ländern konnte sich gerade einmal mit der damaligen DDR vergleichen. Die meisten anderen lagen weit darunter.
Dennoch hat man sich trotz aller Bedenkenträger unter den Beobachtern, trotz aller internen Konflikte und Zweifel am Ende doch nicht beirren lassen. In allen diesen Ländern waren sich die Verantwortlichen der Tatsache bewusst, dass ihnen und ihren Landsleuten allein die Aufgabe zufiel, sich von dem zu befreien, was andere ihnen aufgezwungen hatten. Und das waren Strukturen, die sie immer weiter abgehängt hatten von dem Maß an Freiheit und Wohlstand, welches in ihren westlichen Nachbarstaaten inzwischen selbstverständlich geworden war. Daher haben sie am Ende alle der Versuchung widerstanden, ihre Probleme mit Staatsverschuldung und Gelddruckmaschinen lösen zu wollen und zu glauben, dass sie aus den ihnen aufgezwungenen institutionellen Strukturen per expansiver Geld und Fiskalpolitik einfach hinauswachsen könnten. Stattdessen haben sie die bittere Wahrheit akzeptiert, dass sie nur im Wege der Reform dieser Strukturen vorankommen würden – und das ungeachtet der Tatsache, dass ihnen auf internationaler Bühne Heerscharen von Makroökonomen in teilweisen höchstrangigen wissenschaftlichen Zeitschriften im Rahmen technisch anspruchsvollster Modelle empirischer wie theoretischer Art das Gegenteil einzureden versuchten. Nicht wenige von ihnen haben den erfolgreichen Reformern ebenso wie ihren wenigen verbliebenen wissenschaftlichen Begleitern vorgehalten, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein und keine Ahnung vom wissenschaftlichen „State of the Art“ zu haben. Das muss einem alles bekannt vorkommen, und es ist allzu merkwürdig, dass kaum jemand die Parallelen zur heutigen Situation sieht, wenn wir über die griechische Misere sprechen.
Dabei ist bekannt, dass Griechenland zwar einen eigentlich untragbaren Schuldenstand vor sich herschiebt, dass dieser der griechischen Politik aber – ganz anders als fortwährend behauptet – keineswegs die Luft zum Atmen nimmt: den Rettungsschirmen zum Dank, man mag sie ja mögen oder nicht. Jedenfalls ist der Schuldendienst angesichts der vielfältigen EU-Hilfe keinesfalls erdrückend und niedriger als in anderen europäischen Ländern. Man möge sich nur einmal vorstellen, dass man in Griechenland ab Jahre 2010 ein ähnlich ambitioniertes und konsequentes Reformpaket umgesetzt hätte wie in Polen! Und bei dieser Vorstellung darf man durchaus in Rechnung stellen, dass auch dort nicht alles nach Plan lief und zum Beispiel die Privatisierung über Jahre im Strudel ideologischer und interessengeleiteter Auseinandersetzung feststeckte. Und dennoch war man nach drei Jahren auf Wachstumskurs. Wo wäre also Griechenland heute, hätte man dort ähnlich gehandelt wie in Polen, in Estland, in Lettland und und und?
Das ist zugegebenermaßen eine rhetorische Frage. Eine nicht rhetorische Frage ist dagegen diese: Wo liegt der Unterschied zwischen den Transformationsländern damals und Griechenland heute? Eines sollte zunächst einmal klar sein: Die Probleme waren damals wie heute nicht makroökonomischer, sondern struktureller Art, und damit sind sie heute in Griechenland ganz ähnliches gelagert wie seinerzeit in Mittel- und Osteuropa. Allerdings: Die ehemals sozialistischen Länder haben es seinerzeit geschafft, auf einem neuen Fundament Stück für Stück neue politische und ökonomische Institutionen zu errichten. Das ist in Griechenland bis heute nicht einmal ansatzweise gelungen. Allerdings muss man sich hüten, aus einem solch deprimierenden Befund auf irgendeine kollektive Unfähigkeit eines ganzen Volks zu schließen. Warum sollten Griechen per se weniger fähig zu institutionellem Wandel sein als andere? Natürlich sind sie das nicht, und damit sollte klar sein: Die Gründe liegen tiefer. Tragischerweise liegen sie ausgerechnet dort, wo die Reformen ansetzen müssten: in den Institutionen. Institutioneller Wandel entsteht aus kollektivem Handeln einer sehr großen Zahl von Akteuren, und bei kollektivem Handeln verbietet sich der Rückschluss von einem – guten oder schlechten – Ergebnis auf den Willen oder die Fähigkeit der einzelnen Akteure. Das klingt akademisch, ist aber fundamental für das Verständnis der darunter liegenden Probleme. Leider beinhaltet diese Einsicht aber auch, dass institutionellen Reformstaus wie jener in Griechenland immer auch etwas Schicksalhaftes anhaftet, so traurig das ist.
Obwohl die Situation der Transformationsländer zunächst viel dramatischer erschien als anderswo, hatte sie Eigenschaften, welche den institutionellen Wandel am Ende begünstigten. Die Tatsache, dass die Transformationsländer schon angesichts ihres planwirtschaftlichen Erbes kaum eine andere Option hatten, als einen grundlegenden institutionellen Wandel in die Wege zu leiten, hat die Einsicht befördert, dass an strukturellen Reformen kein Weg vorbei ging. Konsequenterweise stolperte ausgerechnet jenes Land, in dem man zuvor geglaubt hatte, den Weg zur modernen Marktwirtschaft schon halbwegs gegangen zu sein, in eine ähnliche Falle wie heute Griechenland. Man glaubte dort ganz ähnlich wie heute in Griechenland, mit weniger grundlegenden Reformen auszukommen als beispielsweise in Polen. Dieses Land war Ungarn, das Land, dessen „Gulaschkommunismus“ auch im Westen mit einer „Fast-schon-Marktwirtschaft“ verwechselt wurde, das dann aber binnen weniger Jahre zusehen musste, wie es von seinem mitunter belächelten nördlichen Nachbarn im Fortschritt des institutionellen Wandels überholt wurde. In den übrigen Ländern trieb man den institutionellen Wandel von Beginn an in der Überzeugung voran, genau jene Strukturen überwinden zu wollen, innerhalb derer man nach 1945 vom Kern Europas weggetrieben wurde.
Daraus und aus der Aussicht auf die Mitgliedschaft in der EU hatten sich Bedingungen ergeben, die die Erfolgswahrscheinlichkeit des institutionellen Wandels entscheidend erhöht hatten. Es war zwar keine Garantie für den Erfolg, aber es schaffte Voraussetzungen dafür, dass vernünftigen Politikern wie Balcerowicz und vielen anderen in den anderen Ländern die Arbeit erleichtert wurde und dass diese vernünftigen Politiker den vielen ungebetenen Ratschlägen wirklicher und weniger wirklicher Fachleute widerstehen konnten. Schließlich vermittelte es der Bevölkerung in den Transformationsländern den Eindruck, dass es ihre Reform war, eine Reform, die dazu da war, sie nach Jahrzehnten der Unterdrückung in Freiheit und Wohlstand zu führen. Trotz aller internen Auseinandersetzungen, die in einem solchen Prozess natürlich nicht ausbleiben konnten, wich man dort wohl genau deshalb nie ernsthaft von dem eingeschlagenen Kurs ab – auch wenn man Politiker wie Balcerowicz für alles verantwortlich machte, was nicht gelingen wollte.
Keine dieser ganzen Bedingungen liegt heute in Griechenland vor, und so darf es niemanden wundern, dass die Bevölkerung Griechenlands einen ganz anderen Eindruck hat. Während die Reformen in den Transformationsländern trotz aller Auseinandersetzungen immer als ein Mittel zur Befreiung aus dem Einfluss einer fremden Macht gesehen wurden, sieht man in Griechenland genau umgekehrt die Reformen selbst als ein Diktat fremder Mächte. Das ist der Nährboden, auf dem das Gerede vom „Umschwenken“ auf eine „Wachstumspolitik“ gedeihen kann, mit deren Hilfe man allen Problemen einfach entwachsen könne, wenn es nur die bösen fremden Mächte nicht anders wollten. Und sie, die fremden Mächte, sind die Gläubiger, ihre Banken haben den Griechen alles angetan, was sie heute erdulden müssen und ihnen allein fließt jeder Euro der Rettungspakete zu.
Vor diesem Hintergrund werden wir mehr als bisher an der Frage arbeiten müssen, was wir zur Reformbereitschaft in Griechenland beitragen können, wie man die zweifellos unumgänglichen Reformen zu Reformen der Griechen machen kann. Gerade in diesem Sinne kann man sich mit Fug und Recht darüber streiten, ob ein Land überhaupt „von außen“ zum Wandel seiner politischen und ökonomischen Institutionen zu bewegen ist. Klar ist zwar, dass man nichts erzwingen kann und darf, will man seine demokratischen Werte nicht verraten. Aber das wird leicht missverstanden. Denn man kann, darf und muss sogar jede Hilfe von außen an Bedingungen knüpfen. Die alte liberale Weisheit lautet schließlich, dass die Freiheit zu autonomen Entscheidungen immer verknüpft sein muss mit der Übernahme der Verantwortung für seine Entscheidungen. Vor diesem Hintergrund musste von Beginn der Rettungspolitik an klar gewesen sein, dass man sich dem Vorwurf aussetzen wird, Griechenlands Souveränität infrage zu stellen, wenn man die Verantwortung für seine Schulden auf die EU überträgt. Die einzige Alternative dazu wäre schon früh ein Schuldenschnitt in Verbindung mit einer Entlassung Griechenlands aus der Währungsunion gewesen. Das wollte die Politik nicht, und diese Entscheidung soll hier nicht das Thema sein. Aber die Folgen dieser Politik schlagen dieser Tage mit großer Wucht auf uns zurück. Wenn wir der Hoffnung auf einen doch noch gelingenden Wandel der politischen und wirtschaftlichen Institutionen berechtigte Nahrung geben wollen, dann werden wir jedenfalls in der einen oder anderen Weise dem altehrwürdigen Prinzip der Einheit von Handlung und Haftung Raum geben müssen. Hierzu wäre es gerade wichtig, Griechenland ganz ähnlich wie den mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten den berechtigten Eindruck zu vermitteln, dass es ihre Reform ist, eine Reform, die sie aus freien Stücken zum Wohle ihrer Bürger vorantreiben – selbstverständlich mit der solidarischen Unterstützung der übrigen EU-Staaten, ganz so, wie es im Falle der Transformationsländer war. Aber unter Wahrung des Prinzips der Einheit von Handlung und Verantwortung.
Daher wird eines mit Gewissheit nicht helfen: das Problem zu verkleistern, indem man immer mehr frisches Geld in das schwarze Loch wirft, welches ein schwarzes Loch bleiben wird, solange die Reformen nicht vorankommen. Das „Einschwenken“ auf einen Wachstumskurs ist eine Illusion, zumindest, wenn man es mit institutionellen Strukturproblemen von solchen Ausmaßen wie in Griechenland zu tun hat. In dieser Hinsicht, und mindestens in dieser Hinsicht, könnte der selbstbewusste Finanzminister Varoufakis einiges von seinem ehemaligen polnischen Amtskollegen Balcerowicz lernen. Man kann es den Griechen nur wünschen.
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Dieser Beitrag sollte Pflichtlektüre für alle politischen Entscheidungsträger in der Causa Griechenland werden!
Welche Bedeutung hatte denn die Existenz einer eigenen Währung in den genannten (erfolgreichen) Reformstaaten? Welche Rolle spielte die Währungsabwertung, die in Griechenland heute nicht möglich ist? Ist das möglicherweise ein wichtiger Unterschied zwischen Griechenland und den ehem. Ostblock-Staaten?