„Die Ökonomie lässt sich nicht bescheißen.“ (Jörg Niehans)
Das vom Konkurs bedrohte Griechenland darf wieder hoffen. Der Gang zum „Insolvenzrichter“ wurde noch einmal aufgeschoben. Nach der dramatischen Einigung nächtens in Brüssel und den Zusagen des Parlaments in Athen werden die Euro-Gruppe, der IWF und Griechenland über ein drittes, großvolumiges Hilfspaket verhandeln. Ob sie sich einigen können, ist allerdings nicht sicher. Noch immer droht der Grexit. Das ist erstaunlich. Die Politik hat ein währungspolitisches Tabu gebrochen. Sie diskutiert „Plan B“ ernsthaft. Syriza und Varoufakis sei Dank. Der alte (Schäuble-)Plan eines Europas der „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ wird wieder aus der Schublade geholt. Das gilt auch für die EWU. Ist das die kopernikanische Wende in der Strategie der europäischen Integration? Hat das ptolemäische Weltbild der EWU als einer Schicksalsgemeinschaft ohne Wiederkehr ausgedient? Es scheint so, als habe die Politik endlich begriffen, wieder stärker auf die heterogenen Interessen der Bürger in den europäischen Nationalstaaten zu hören.
Verlust nationaler Souveränität?
Es ist zweifellos starker Tobak, was die Euro-Gruppe von Griechenland verlangt, damit sie überhaupt bereit ist, wieder zu verhandeln. Die verbale Härte überrascht, mit der konsolidierte staatliche Haushalte und nachhaltige Strukturreformen gefordert werden. Hier wirken sicher auch die Varoufakis-Spiele nach. Dabei greifen die Kreditgeber tief in die wirtschaftspolitische Souveränität der griechischen Regierung ein. Sie fordern im Voraus ganz konkrete Maßnahmen, einen verlässlichen Zeitplan für Reformen und bestehen auf einem Fonds für Privatisierungen. Mit diesen Aktionen wollen sie verhindern, dass ihnen die Regierung Tsipras weiter auf der Nase herum tanzt. Als Gegenleistung werden bis zu 86 Mrd. Euro, eine Brückenfinanzierung bis diese Mittel fließen und mögliche Erleichterungen bei den Schulden in Aussicht gestellt. Die Frage bleibt, ob die verbale Härte der Euro-Gruppe sich im tatsächlichen Handeln niederschlägt. Da habe ich starke Zweifel. Ein Kuhhandel erscheint mir sehr viel wahrscheinlicher.
Die Euro-Gruppe wird teilweise heftig kritisiert, weil sie die griechische Wirtschaftspolitik entmündige. Diese Kritik erscheint auf den ersten Blick berechtigt. Die Regeln der EWU besagen, dass die Mitglieder nur ihre geldpolitische Souveränität verlieren. Über alle anderen Wirtschaftspolitiken können sie weiter souverän entscheiden. Allerdings sind bei fiskalpolitischen Aktivitäten die Handlungsspielräume der Länder begrenzt. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt und die No-Bail-Out-Klausel ziehen fiskalische Leitplanken ein. Die Länder können ihre Wirtschaftspolitik somit auf weiten Feldern weitgehend autonom gestalten. Ganz unterschiedliche Wirtschaftsmodelle („Welten“) sind denkbar. Das gilt für den „Normalfall“. Aus diesem Blickwinkel greifen die Vorgaben der Euro-Gruppe erheblich in die nationale Souveränität ein. Griechenland ist aber nicht „normal“. Es ist seit 5 Jahren ein „Programmland“. Hier gilt international die Regel „Geld gegen Reformen“. Ein Verlust nationaler wirtschaftspolitischer Souveränität ist unvermeidlich.
Undemokratisches Verhalten?
Die Kritiker der griechischen Vorleistungen und Auflagen sind auch der Meinung, dass sich die Euro-Gruppe undemokratisch verhalte. Schließlich habe die griechische Bevölkerung in einem Referendum klar entschieden, dass sie die Vorstellungen der Troika ablehne. Es sei deshalb undemokratisch, wenn die Euro-Gruppe das griechische Parlament mit der Pistole am Kopf zwinge, etwas anderes zu akzeptieren. Es gibt viele berechtigte Einwände gegen die Art, wie das Referendum abgehalten wurde. Unabhängig davon ist dies aber eine eigenwillige Interpretation von Demokratie. Grundsätzlich gilt: „pacta sunt servanta“. Das ist auch bei Kreditverträgen zwischen Staaten nicht anders. Daran können demokratische Entscheidungen in den Schuldnerländern nichts ändern. Die Bürger der Gläubigerländer können durch Mehrheitsentscheide der Bürger der Schuldnerländer nicht gegen ihren eigenen demokratischen Willen enteignet werden.
Das Ergebnis des griechischen Referendums kann aber auch anders interpretiert werden. Mit dem eindeutigen „Oxi“ zeigen die Griechen, dass sie mehr Souveränität in der Wirtschaftspolitik wollen. Deshalb lehnen sie die von der Euro-Gruppe geforderte Politik harter Austerität und umfassender Strukturreformen ab. Gleichzeitig zeigen aber alle Umfragen, dass sie mit großer Mehrheit am Euro festhalten wollen. Beides muss kein Widerspruch sein. Es lässt sich so deuten, dass die griechischen Bürger einerseits bereit sind, auf nationale Souveränität in der Geldpolitik zu verzichten und fiskalpolitische Leitplanken grundsätzlich zu akzeptieren. Andererseits wollen sie nicht, dass nicht-griechische Institutionen sich in die griechischen Angelegenheiten auf dem breiten Feld der Wirtschaftspolitik einmischen. Sie wollen die ökonomische und soziale „Welt“ stärker nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Das ist ihr gutes Recht. Die EU verträgt unterschiedliche „Varianten des Kapitalismus“.
Unterschiedliche nationale Geschwindigkeiten?
Die Vorstellung einer Mehrheit der Griechen, dass in der EWU jeder nach seiner Facon ökonomisch selig werden kann, ist verlockend. Sie funktioniert aber nur, wenn es nicht möglich ist, auf Kosten der Anderen zu leben. Eine harte Budgetrestriktion aller Mitglieder ist deshalb unabdingbar. Das setzt voraus, dass die No-Bail-Out-Klausel strikt eingehalten wird. Gerade daran hat es allerdings nicht nur Griechenland in der Vergangenheit fehlen lassen. Eine Regel für eine geordnete Insolvenz von Staaten wäre ein weiterer wichtiger Baustein, der die Budgetrestriktion härten würde. Auf diesem Humus harter Budgetrestriktionen gedeiht die wettbewerbliche Variante des Föderalismus sehr gut. Sie führt allerdings nur dann zu guten Ergebnissen, wenn die Kompetenzen vertikal zwischen Ländern und „Europa“ klar verteilt sind. Wer mehr nationale Souveränität in der Wirtschaftspolitik fordert, muss bereit sein, diese Bedingungen zu erfüllen. Griechenland war es bisher jedenfalls nicht.
Mehr wirtschaftspolitische Souveränität der Mitglieder in der E(W)U harmoniert sehr gut mit dem Prinzip der Subsidiarität. Es erlaubt den Ländern, den heterogenen Präferenzen ihrer Bürger besser Rechnung zu tragen. Sie könnten auch unterschiedlich schnell bei der Integration in Europa voranschreiten („variable Geometrie“). Verschiedene nationale institutionelle Arrangements („Welten“) werden möglich. Ein intensiver institutioneller Wettbewerb zwischen den ökonomischen und sozialen „Welten“ der E(W)U-Länder sorgt dafür, dass bessere ökonomische Lösungen gefunden werden. In einem Europa ohne politische Union stärkt mehr nationale Souveränität auch die europäische Demokratie (Dani Rodrik). Wenn die Krise um Griechenland die EU auf diesen Weg zwingt, ist die bisherige Strategie der europäischen Integration obsolet. Das zentralistische Experiment der EU-Kommission ist dann zu Ende. Das wäre kein Verlust.
Fazit
Die Krise in Griechenland hat auch ihr Gutes. Vielleicht erzwingt sie eine Wende in der überkommenen Strategie der europäischen Integration. Alle über einen Kamm zu scheren, hat schon lange keine Zukunft mehr. Den Nationalstaaten muss es erlaubt sein, unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der wirtschaftlichen und politischen Integration einzuschlagen. Es muss möglich sein, aus den europäischen „Clubs“ auszuscheiden, in denen man Mitglied ist. Anhaltendes Fehlverhalten muss zum Ausschluss führen können. Das alles gilt auch für die EWU. Sie ist keine Schicksalsgemeinschaft. Klare Regeln zum „exit“ härten die Budgetrestriktion der Länder und stabilisieren die EWU. Ob Wolfgang Schäuble den Vorschlag eines „Grexit auf Zeit“ verhandlungstaktisch eingesetzt hat oder nicht, weiß ich nicht. Er hat auf alle Fälle eine Diskussion über unterschiedliche Geschwindigkeiten in der europäischen Integration ausgelöst. Und das ist gut so.
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