Gastbeitrag
Die Flüchtlingsfrage neu denken

Seit Jahren spielen sich vor den Toren Europas im Mittelmeeraum immer wieder humanitäre Dramen ab, die sich jetzt auch auf dem Balkan fortsetzen. Weltweit sind Menschen auf der Flucht, wahrscheinlich mehr als 50 Millionen. Diese Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene fliehen vor den Folgen von Kriegen, Menschenrechtsverletzungen und Naturkatastrophen. Nichts spricht dafür, dass dies künftig besser wird. Strikt nach dem Völkerrecht gelten allerdings nur knapp 17 Millionen Menschen als Flüchtlinge, denn zwei Drittel fliehen innerhalb der Grenzen ihres Landes. Neun von zehn der Fliehenden leben in Entwicklungsländern.

Die meisten Flüchtlinge schaffen es nur in ein angrenzendes Nachbarland. Syrien – Flüchtlinge sind vor allem in der Türkei (1,9 Millionen), im Libanon (1,2 Million) und in Jordanien (630 000). In Ägypten werden sie unter den 5 Millionen Flüchtlingen, die weitgehend aus dem Sudan und Ostafrika stammen, auf über 130 000 geschätzt. Die derzeitigen Einschätzungen über die Zuwanderung in diesem Jahr nach Deutschland variieren zwischen 1 – 1,5 Millionen Menschen. Daraus ergibt sich zweifellos eine erhebliche organisatorische, aber auch politische Herausforderung, die das Gesicht unserer Gesellschaft grundsätzlich ändern könnte. Denn mit Zäunen, Mauern und Kanonenbooten werden wir die Herausforderung nicht stemmen können. Dagegen sprechen alle geschichtlichen Erfahrungen.

Deutschland kann sich nur als Vordenker und Vorbild einer europäischen Lösung positionieren. Denn schließlich ist der Erfolg der Europäischen Union auf ihren offenen Grenzen und integrierten Märkten gegründet. Dies impliziert die Aufgabe der Dublin-Regelung, nach der Flüchtlinge nur in dem Land Asyl beantragen können, das sie zuerst betreten haben. Vielmehr ist ein Quotensystem nötig, das sich an Kriterien wie Bevölkerungsgröße, Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosenzahlen und der Größe der ethnisch relevanten Diaspora, die bereits im jeweiligen Land ist, orientiert. Zwar wird es bisher in vielen Staaten abgelehnt, aber seiner Rationalität kann sich ein weitsichtiges und solidarisches Europa nicht auf Dauer entziehen. Ferner braucht es eine europäische Politik, die die Stichworte militärische Eindämmung der Konfliktursachen, wirtschaftliche Hilfen für Anrainerstaaten, die Vereinbarung zirkulärer, temporärer Arbeitsmigration mit afrikanischen Partnerländern oder die Entwicklung einer gemeinsamen Wirtschaftszone für den Mittelmeerraum aufgreift und mit Leben erfüllt. Nur so besteht eine Chance, mit Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen gemeinsam erfolgreich umzugehen.

Diese Flüchtlinge wollen nicht alle bleiben. Ein Großteil wandert schon nach einigen Jahren weiter oder kehrt nach Klärung der Situation ins Heimatland zurück. Es würde dennoch uns und den Menschen helfen, wenn die Zeit in Deutschland durch Ausbildung und Zugang zum Arbeitsmarkt aktiv genutzt würde. Sollten die Migranten dauerhaft bleiben, wäre dies auch eine langfristige Investition. Ein gezieltes „Profiling“ schon bei der Erstaufnahme der Flüchtlinge zur Prüfung der Qualifikationen für Gesellschaft und Arbeitsmarkt ist nötig und soll jetzt unter Einbindung der Erfahrungen der Bundesagentur für Arbeit auch durchgeführt werden. Gleichzeitig müssen die Asylverfahren erheblich beschleunigt werden.

Es wäre allerdings eine Illusion anzunehmen, mit dem hohen Flüchtlingsaufkommen lasse sich der immer deutlicher werdende Fachkräftemangel in Deutschland beheben. Hierzu ist unverändert eine Reform der deutschen Zuwanderungspolitik mit dem Ziel erforderlich, ein Auswahlsystem für qualifizierte Zuwanderer gesetzlich zu etablieren. Ein solches System sollte allerdings auch Flüchtlingen durch einen Statuswechsels offenstehen, selbst wenn dies derzeit bei nur wenigen unmittelbar erreichbar erscheint.

Dennoch bietet die Herausforderung der Flüchtlingsströme für Deutschland einzigartige Chancen. Die Bevölkerung unseres Landes schrumpft und altert. Bald wird es schwierig werden, unsere sozialen Sicherungssysteme und den Umfang unserer öffentlichen Güter zu erhalten. Wir brauchen auf Dauer viel mehr internationale Zuwanderung, dauerhaft oder auch nur zirkulär, für den Arbeitsmarkt und für unsere Gesellschaft. Jetzt ist deshalb die Zeit, unsere Zuwanderungs- und Integrationssysteme zu reformieren und das gewachsene Image als freundliches und offenes Land zu nutzen und zu stabilisieren.

Hinweis: Den gesamten Kommentar können Sie in der WiSt, 44 (2015), H. 11 lesen.

Blog-Beiträge zur Flüchtlingskrise:

Norbert Berthold: Wolfgang Schäuble tritt eine Lawine los
„Moderne“ Völkerwanderung als Angebotsschock

Norbert Berthold: Flüchtlingspolitik à la Große Koalition. Eine Chronologie des „organisierten“ Chaos. 2. Update: „Über Obergrenzen und Kontingente“

Jörn Quitzau: Der Flüchtlingsstrom wird das deutsche Demografie-Problem kaum lösen

Dieter Bräuninger, Heiko Peters und Stefan Schneider: Flüchtlingszustrom: Eine Chance für Deutschland

Norbert Berthold: Die „moderne“ Völkerwanderung. Europa vor der Zerreißprobe

Tim Krieger: Grenze zu, Schengen tot (reloaded)

Wolf Schäfer: Migration: Von der Euphorie des Unbegrenzten zur Moral des Machbaren

Thomas Apolte: Chance oder Last? Wie wir die Flüchtlinge integrieren müssen

Razi Farukh und Steffen J. Roth: Wir brauchen eine Bildungsoffensive. Ohne gezielte Unterstützung bleiben nicht nur die Flüchtlinge unter ihren Möglichkeiten

 

Klaus F. Zimmermann

4 Antworten auf „Gastbeitrag
Die Flüchtlingsfrage neu denken“

  1. Warum soll man ein „Auswahlsystem für qualifizierte Zuwanderer gesetzlich […] etablieren“?

    Ein Auswahlsystem kann ja nur gering-qualifizierte Zuwanderer aussperren, aber keine Fachkräfte ins Land kommandieren.

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