1. Das Paradies
Stellen wir uns eine Welt vor, in der es vollkommene wirtschaftliche Gleichheit gibt. Egal, welche Arbeit einer macht, Angebot und Nachfrage befinden sich stets in einem Gleichgewicht, welches jedermann das gleiche Einkommen ermöglicht. In dieser Gesellschaft gibt es keine Debatten über eine Schere zwischen Arm und Reich; es braucht auch keinen Streit über Art und Umfang einer Einkommensumverteilung durch den Staat. Weil jeder den fairen Anteil seines Einsatzes erhält, hat auch jedermann die gleichen Anreize, sich anzustrengen. Die Regierung braucht sich ausschließlich darum zu kümmern, öffentliche Güter bereit zu stellen (Verteidigung, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit), die sich mit einer für alle gleich hohen Kopfsteuer finanzieren lassen. In dieser Welt herrscht nicht nur perfekte Gleichheit, sondern auch perfekte Effizienz. Es ist eine Welt vor dem Okunschen Trade-Off. Es ist das Paradies der Gleichheit und Gerechtigkeit.
Dieses schöne Paradies der Gleichheit hat sich Gregory Mankiw ausgedacht („Defending the One Percent“). Doch jedes Paradies geht bekanntlich einmal zu Ende: Der Abschied von der egalitären Utopie setzt exakt in jenem Moment ein, als drei Unternehmer mit Ideen für ein neues Produkt auftauchen – denken wir an Steve Jobs mit einem iPad, J.K. Rowling mit Harry Potter und Steven Spielberg mit einem neuen Blockbuster-Film. Sogleich rennen alle Leute diesen Stars die Bude ein und sind bereit, freiwillig hundert Euro dafür zu bezahlen (wenn nicht mehr). Jetzt gibt es viele Käufer, aber nur drei Verkäufer. Und die Verkäufer werden mit einem Schlag viel reicher als der Rest der Welt. Aus dem Paradies der Gleichheit wurde eine Gesellschaft der Ungleichheit. Aber wenigstens gibt es iPads, Harry Potter Romane und Spielberg-Filme.
Die bisherigen Folgen der Serie „Ungleichheit heute“ haben sich quasi wertneutral-ökonomisch mit dem Thema befasst und die normative Frage ausgeklammert. Oder anders gesagt: Ungleichheit tauchte bislang als normatives Problem allenfalls dann auf, wenn es Anzeichen dafür gab, dass durch größere Einkommens- oder Vermögensspreizung auch größere Ineffizienzen entstehen und Ungleichheit deshalb wirtschaftlich schädlich ist. Ob Ungleichheit aber per se ein moralisches Problem ist, blieb unbeantwortet: Denn die Frage der Gerechtigkeit wurde explizit bislang nicht gestellt. Das ist Auftrag und Aufgabe dieses Beitrags.
2. Wo ist das Problem?
In Mankiws Beispiel entsteht die Ungleichheit durch einen freiwilligen Tausch zwischen Anbietern und Nachfragern. Wenn also kein Zwang dabei im Spiel war, ist anzunehmen, dass beide, Käufer und Verkäufer, durch den Deal sich besser stellen, andernfalls hätten sie ja nicht einwilligen brauchen. So gesehen, wirft die Mankiwsche post-paradiesische Welt der Ungleichheit kein Gerechtigkeitsproblem auf. Der „Locus classicus“ dazu kommt von Ludwig von Mises und Milton Friedman. Geht es nach ihnen, ist die einzige Art der Gleichheit, die eine gerechte Gesellschaft nötig hat, die Gleichheit vor dem Gesetz. Im übrigen müssen wir aber davon ausgehen, „that men are borne unequal“ und dass es gerade diese Ungleichheit ist, die soziale Kooperation, Zivilisation und Fortschritt zur Folge hat. Friedman: „A society, that puts equality before freedom will get neither. A society that puts freedom before equality will get a high degree of both.“ (Friedman: Created equal. In: Free to choose.) Schaut man sich in den heutigen Sozialstaaten ein wenig um, wird man nicht behaupten können, dass Friedman gänzlich falsch lag.
Wo ist also das Problem? Martin Feldstein hatte 1998 die versammelten Tagungsteilnehmer der Konferenz von Jackson Hole mit einem kleinen Gedankenexperiment amüsiert: „Stellen Sie sich vor, ein kleiner Glücksvogel bringt Ihnen allen 1000 Dollar. Das ist nichts Schlechtes, würde aber ohne Zweifel den Gini-Koeffizienten größer werden lassen: Wachsende Ungleichheit? Natürlich. Aber doch eine Ungleichheit, unter der niemand zu leiden hat. Was soll daran falsch oder schlecht sein?“[1]
Falsch oder schlecht würde die Sache nur, wenn der Reichtum, der zu Ungleichheit führt, auf widerrechtliche Weise angeeignet wurde. Aber schon, was die Theorie der Meritokratie unhinterfragt als selbstverständlich voraussetzt, dass Ungleichheit nur als Lohn für eigene Leistung gerechtfertigt ist, ist nicht erforderlich: Der Glücksvogel kann auch in Gestalt einer reichen Familie daher kommen, die dem Sohn ein fettes Erbe hinterlässt oder als jenes Glück, das sich einstellt, wenn eine Wette aufgeht und den Zocker reich macht. Die Tatsache, dass die vom Glücksvogel bewirkte Ungleichheit jene unglücklich oder neidisch macht, die von ihm nicht beschenkt wurden, ist jedenfalls philosophisch kein Argument für Umverteilung. Selbst wenn sich nachweisen ließe, dass Neid und Unglück die Ärmeren demotiviert und somit der Vogel Wohlstands- oder Wachstumsverluste auf dem Kerbholz hätte, wäre das kein Grund zu sozialtechnokratischen Eingriffen, seien diese auch in bester, das Wachstum fördernden Intention geschehen: Es blieben paternalistischer Eingriffe in die Freiheitsordnung. Während ökonomisch betrachtet Effizienz vorgeht, so hat philosophisch Gerechtigkeit Priorität – selbst wenn sie Ineffizienzen zur Folge hätte.
3. Das Weltbild der Egalitaristen
Die (links)liberale Mehrheitsmeinung hat sich darauf verständigt, „Chancengleichheit“ am Start einen Vorschlag zur Güte zu machen, dem mutmaßlich alle Gutwilligen als Kriterium der Gerechtigkeit zustimmen können müssten. Ungleichheiten, für die die Akteure nichts können, sollen am Beginn des Spiels des Lebens eingeebnet werden, heißt es, damit alle die gleichen Startchancen haben und fortan zeigen können, was sie zu leisten fähig sind. Wenn dann der eine besser ist als der andere, wäre das eine gerechtfertigte Ungleichheit, beruht sie doch auf eigener Leistung. So hätte eine Operndiva, die das hohe C besser trifft als ihre Wettbewerberinnen auch eine höhere Gage verdient. Ähnlich wird bei Sportlern argumentiert. Bei Managern tolerieren die meisten diese Argumentation nicht, aus guten Gründen (wie hierin früheren Beiträgen gezeigt wurde), kommen doch die Einkommen der Top-Manager nicht meritokratisch zustande, sondern als Ergebnis von Rent-Seeking. Wettbewerb, der Ungleichheiten gebiert, die auf Leistung beruhen, ist gut. Geben andere Dinge den Ausschlag, ist es schlecht.
„Niemand soll aufgrund von Dingen, die er nicht kann, schlechter gestellt werden als andere.“ So ungefähr heißt der daraus folgende kategorische Imperativ, der vermutlich von einer großen Zahl von Menschen geteilt würde. Wer so redet, nennt sich stolz einen Egalitaristen. Egalitaristische Theorien bestimmen das einem jedem Zustehende relational oder komparativ, also stets mit Blick auf andere.[2] Auf Philosophen wie Laien löst der Egalitarismus seit langem einen schweren moralischen Sog aus, dem sie sich nur mit extrem schlechtem Gewissen entziehen können und dies deshalb auch meist unterlassen.
Für Egalitaristen ist Gleichheit ein intrinsischer Wert. Er versteht sich von selbst. Nicht die Gleichheit (wie bei Mises und Friedman), sondern die Ungleichheit muss begründet werden. Um dies zu beweisen, haben die Egalitaristen stets eine schlagende (auf Isaiah Berlin zurückgehende) Geschichte parat und die geht so: Eine Mutter will einen Kuchen unter Kindern verteilen. Angenommen alle Kinder wollen ein möglichst großes Stück. Wie soll die Mutter den Kuchen verteilen? Wenn keines der Kinder einen überzeugenden Grund dafür nennen kann, warum es ein größeres Stück als die anderen bekommen soll als andere, dann müsse der Kuchen in gleich große Stücke geteilt werden, sagt diese Geschichte. Gleichverteilung, soll man aus dem Beispiel schließen, hat argumentativen Vorrang. Ungleichhheit ist eine Ausnahme, die der Begründung bedarf.
Man sollte nicht zu rasch vor diesem Beispiel kapitulieren. Denn so plausibel es auf den ersten Blick scheint, so sehr gerät beim zweiten Nachdenken alles ins Rutschen. Es fängt schon mit der Geschichte selbst an. Würden nicht in der Realität alle Kinder stets überzeugende Gründe vorbringen, warum gerade ihnen ein besonders großes Stück des Kuchens zusteht? Der Älteste würde argumentieren, sein Kalorienbedarf sei schließlich größer als jener der jüngsten Schwester. Die Jüngste könnte gerade umgekehrt argumentieren und auf Nachholbedarf plädieren. Und die Mittlere würde die Argumentationsebene wechseln und daran erinnern, sie habe der Mutter beim Backen geholfen, was, weil die anderen sich gedrückt haben, selbstverständlich den Anspruch auf ein großes Stück begründe.
Bei weiterem Nachdenken fällt auf, wie schief das Bild insgesamt konstruiert ist. Wer zustimmt, sitzt einem raffinierten Taschenspielertrick auf. Die Mutter mit ihrem Gleichheitskuchen setzt nämlich jene paternalistische Umverteilungswelt schon voraus, die ihre Geschichte erst begründen will. Die paradiesische Urszene dieser Welt ist von Anfang an als zu verteilender Kuchen erzählt. Der Kuchen ist schon gebacken und muss nur noch verteilt werden. Ein Schlaraffenland (die Welt der Mütter!), wo immer wieder ein neuer Kuchen da ist, wenn der alte gegessen ist. Die Egalitaristen begründen die Welt als Verteilungs- nicht als Produktionsthema. Die Zutaten zum Kuchen gibt es auf der „fiskalischen Allmende“ frei Haus. Wie aus dem Nichts oder wie aus dem Märchen erscheint die gute Mutter mit ihrem Kuchen. „Wir sind nicht in der Lage von Kindern, denen jemand Kuchenstücke austeilt und in letzter Minute schlecht geschnittene Stücke berichtigt“, sagt Robert Nozick, dem wir eine brillante Theorie der Freiheit und des Staates verdanken und von dem einer der großen antiegalitaristischen Entwürfen stammt.[3]
Ungleichheit aus egalitären Motiven korrigieren zu wollen, ist ein gefährliches Unterfangen (siehe Friedman): Denn die Egalisierung ist stets Ausgangspunkt und Quelle neuer Ungleichheiten. Das ist der Fluch jeglicher präventiver Ex-Ante-Korrektur. Gäbe man verschiedenen Menschen die gleiche Menge Geld, so würden die Vorsichtigen daraus einen größeren Gewinn ziehen als die Unvorsichtigen und Verschwenderischen. Vielleicht kommt es aber auch ganz anders? Dann hätten die Risikofreudigen den größten Vorteil der Egalisierungsaktion. Da die Individuen unterschiedliche Talente, Ziele, soziale Identitäten und Lebensumstände haben, bleibt das Ziel der Egalisierung stets eine sinnlose Sisyphosarbeit. Die Egalisierer müssen stets nacharbeiten (tun sie ja in Wirklichkeit auch). Denn es sind ungleiche Menschen, die Unterschiedliches aus ihren „Talenten“ machen und denen das Schicksal unterschiedlich hold ist. Nicht jedem das gleiche, sondern jedem das seine („suum cuique“), heißt deshalb der Wahlspruch derer, für die die Freiheit vor der Gleichheit rangiert.
Wer Gleichheit herstellen will, wusste schon David Hume, kriegt am Ende nicht nur mehr Ungleichheit: er landet auch in der Armut. Hume weist darauf hin, dass der Egalitarismus stets auf einen autoritären Polizeistaat angewiesen ist (er mag sich noch so paternalistisch fromm gebären), damit das Gleichheitsziel auch durchgesetzt wird: „Wie gleichmäßig Eigentum auch verteilt sein mag, der unterschiedliche Grad an Geschicklichkeit, Sorge und Fleiß wird diese Gleichheit sofort durchbrechen. Hindert man aber die Entwicklung dieser Tugenden, drückt man die Gesellschaft auf das Niveau äußerster Armut herab; und anstatt Not und Bettelei bei einigen wenigen zu verhindern, macht man sie für die ganze Gesellschaft unabwendbar. Auch wäre die genaueste Überwachung notwendig, um jede Ungleichheit bei ihrem ersten Auftreten zu bemerken; und die strengste Gerichtsbarkeit, um sie zu bestrafen und zu beseitigen. Aber abgesehen davon, dass so große Machtkonzentration bald in Tyrannei ausarten und mit großer Parteilichkeit ausgeübt werden müsste; wer könnte sie in einer solchen Situation, wie sie hier angenommen wird, überhaupt innehaben. Vollkommene Gleichheit an Besitz führt, indem sie jede Unterordnung zerstört, zu weitestgehender Schwächung der Regierungsautorität und muss alle Macht, ebenso wie das Eigentum, nahezu restlos nivellieren.“[4] Mit anderen Worten: Das Prinzip der Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit überzeugt nicht.
4. Häretische Kritik an der Idee der Chancengleichheit
Lange Zeit standen konservativ-liberale Freiheitsfreunde (die Minderheit) und links-liberale Gleichheitsbefürworter (Mehrheit) einander unversöhnt gegenüber. Doch in letzter Zeit bröckelt die Front der Egalitaristen auch auf der Linken. Eine kleine, häretische Gruppe „humanitärer Antiegalitaristen“ verschafft sich Gehör und bestreitet den Egalitaristen im eigenen Lager ihren Anspruch, stets Herz und Moral auf dem einzigen rechten (also: linken) Fleck zu haben. „Warum eigentlich Gleichheit?“ heißt ihre provokant-polemische Frage, die natürlich weniger naiv ist, als sie klingt. Oder, etwas ausführlicher: „Der fundamentale Irrtum des Egalitarismus liegt in der Annahme, es sei moralisch entscheidend, ob eine Person weniger als eine andere hat, unabhängig davon, wie viel jeder der beiden hat“ (Harry G. Frankfurt). Liest man die Frage, so wie sie gestellt ist, klingt sie fast trivial. Warum soll die Differenz per se einen moralischen Unterschied machen? Für eine Mehrheit der Moralphilosophen scheint sie so selbstverständlich zu sein, dass sie vergaßen, darauf eine Antwort zu geben.
Pfiffig an der Attacke der Häretiker ist, dass sie die Begründungspflicht umdrehen. Sollen doch die Egalitaristen nachweisen, dass Ungleichheit ein moralisches Problem ist. Solange diese noch damit beschäftigt sind, können die Häretiker sich ihre Gedanken machen, warum der Egalitarismus so hartnäckig sich hält. Die amerikanische Philosophin Elizabeth Anderson macht dabei auf eine verräterische Bemerkung bei Ronald Dworkin (einem Pionier des neueren Egalitarismus) aufmerksam, der Gleichheit als „neidfreie Ressourcenverteilung“ definiert.[5] Das nährt den (von den Egalitaristen energisch bestrittenen) lange gehegten Verdacht, Neid sei das Hauptmotiv egalitaristischer Politik. In der kurzen Bemerkung Dworkins steckt das ganze Programm: Die Ressourcen sind bereits da (woher sie kommen, wer sie erwirtschaftet, das ist den Moralphilosophen egal), die dann wie im Kuchenbild der Mutter, vom autoritären Vater Staat verteilt werden, so lange, bis der Neid aus der Welt vertrieben ist.
Tatsächlich gibt es ernst zu nehmende Autoren, die der Überzeugung sind, dass Gleichheit in Kombination mit dem Gebot einer Neutralität gegenüber Konzeptionen des Guten den Staat dazu zwinge, auch für den Unterhalt von Surfern (!) aufzukommen, die zwar im Besitz körperlicher Kräfte, aber faul und arbeitsunwillig seien. Das klingt schon wie die Parodie des Egalitarismus. Konsequent und vielfältiger Zustimmung sicher jedenfalls ist aus Sicht des Egalitarismus allemal ein staatlich garantiertes (von wem finanziertes?) Grundeinkommen, das jedermann die Fähigkeit und Chance gibt, gemäß seiner Wünsche zu leben. Dieses Grundeinkommen stünde dann selbstredend auch arbeitsscheuen Surfern zu. Die äußerst beliebte Idee des Grundeinkommens stellt die Welt vollends auf den Kopf. Sie will paradoxerweise den Kuchen erst verteilen, um ihn anschließend herstellen zu können. Gleichheit der verfügbaren Ressourcen soll der Ausgangspunkt sein, der dann alle Menschen gemäß ihrer Anlagen und Wünsche dazu befähigt, Großes zu bewirken.
Es geht den Freunden der Chancengleichheit um die allseitige Entschädigung für unverdientes Pech: weniger angeborene Talente, schlechte Eltern oder eine unangenehme Persönlichkeit zu besitzen, unter Unfällen oder Krankheiten zu leiden, das alles muss, weil nicht selbst verschuldet, eingeebnet werden. Doch abgesehen davon, welch tiefen Eingriff in die Privatsphäre damit verbunden ist, setzen diese Prinzipien nicht nur eine Norm der Gleichheit voraus, sondern auch ein Wissen um den Normalfall, von dem aus – abermals relational – Abweichungen bestimmt werden können. Hier kommt abschätziges Mitleid zum Ausdruck mit denen, die der Staat als minderwertig brandmarkt. Zugleich wird der Neid sanktioniert als die Basis für Güterumverteilung von den Glücklichen zu den Glücklosen. „Solche Prinzipien stigmatisieren die Glücklosen, erweisen aber auch den Glücklichen keine Achtung, weil sie ihnen nicht erklären können, warum sie der Neid anderer überhaupt zu irgend etwas verpflichten müsste“; schreibt Elizabeth Anderson.
5. Radikalkritik am Konzept der Chancengleichheit
Eine Reihe linker Autoren geht sogar noch weiter mit der Kritik am linksliberalen Konzept der Chancengleichheit. Der britische Wirtschaftshistoriker R.H. Tawney (1880 bis 1962) – der sich als „moralischer Sozialist“ bezeichnet – spricht von einer Kaulquappenphilosophie und erzählt folgende Geschichte[6]: Stellen wir uns vor, die Kaulquappen eines Tümpels halten eine Versammlung ab und gestehen sich ein, dass die meisten unter ihnen als Kaulquappen geboren wurden und auch als solche sterben werden. Nur die talentiertesten untern ihnen, so sagen sie es selbst, werden das Glück haben, eines Tages sich zu Fröschen zu verwandeln, den Tümpel in Richtung Land verlassen und können dann ihren früheren Freunden von dort zurufen, dass Kaulquappen mit Charakter und Talent es aus einer Leistung eben schaffen können, Frösche zu werden. Mit anderen Worten: Die Idee der Chancengleichheit ist eine (verlogene) Legitimationsideologie der Starken, die ihren Aufstieg meritokratisch rechtfertigen. Sie dient der Selbstvergrößerung der ohnehin schon Erfolgreichen. Die Sieger sonnen sich im Glanz der Leistungsgerechtigkeit.
Basierend auf Tawney hat der britische Philosoph Brian Barry eine Kritik der Idee der Chancengleichheit vorgelegt.[7] Stellen wir uns vor, ein Arbeitgeber, der an die Idee der Meritokratie glaubt, hat eine Stelle frei, die er ausschreibt. Er wird gemäß seiner Überzeugung jenem Kandidaten den Zuschlag geben, der die besten Zeugnisse und die besten beruflichen Expertisen hat und außerdem beim Vorstellungsgespräch einen überzeugenden Eindruck macht. „Was soll daran meritokratisch sein?“, fragt Barry: Das Ergebnis hätten wir vorher sagen können. Keiner der beiden Kandidaten hat zum Zeitpunkt der Ausschreibung eine Chance, irgendetwas zu seinen Gunsten zu tun. Die Würfel sind längst gefallen. Chancengleichheit ist eine Fiktion, eine Illusion.
Wenn man diesen Gedanken radikal zu Ende denkt, landet entweder man beim Sozialismus oder beim Liberalismus. „Sozialismus. Warum nicht?“ heißt die faszinierende kleine Schrift des Philosophen Gerald A. Cohen.[8] Dreh- und Angelpunkt sind für ihn die vielen ungerechtfertigten Ungleichheiten zwischen den Menschen. Das Schicksal ist immer eine Zumutung der Ungleichheiten und bleibender Stachel der Ungerechtigkeit. Es ist ein Skandal, dass der eine arm, der andere reich geboren wird. Dass der eine gebildete Eltern hat und der andere im bildungsfernen Milieu aufwächst. Dass der eine einen hohen IQ und der andere eine niedrige Intelligenz hat. Kann der Reiche wirklich froh werden, wenn er weiß, dass er seinen Wohlstand nur der Lebensleistung seiner Eltern und Großeltern, den glücklichen Genen seines Geschlechts oder einer ungerechten Klassengesellschaft verdankt?
Die Fragen sind für Cohen rhetorisch. Wenn die Idee der Meritokratie eine Illusion ist, dann muss man daraus folgern, dass die Idee der Gleichheit als Gerechtigkeit verlangt, alle Unterschiede zwischen den Menschen einzuebnen, die nicht auf einer freien Entscheidung beruhen. Also rechtliche, soziale und genetische Ungleichheiten müssen von der Gesellschaft kompensiert werden. Erlaubt ist am Ende nur die Ungleichheit, die der Zocker auslöst, wenn er bei wachem Bewusstsein ein Glücksspiel spielt und gewinnt oder verliert. Das war seine freie Entscheidung, die er auch hätte bleiben lassen können. Er hat keinen Anspruch auf umverteilende Kompensation. Alle anderen Menschen schon. Das Konzept der vollkommenen Korrektur der unverschuldeten Ungleichheiten ist die Reinform des utopischen Sozialismus. Das Modell dafür ist nicht der Kaulquappendarwinismus, sondern das Zeltlager der Jugendbewegung, wo allen alles gehört und jeder bekommt, was er braucht.
Wer diese Welt zu träumerisch, dem steht die radikalliberale Kritik am Konzept der Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit zur Verfügung, das auf Friedrich A. von Hayek zurückgeht. Während die Linke die Chancengleichheit als unaufrichtig ansieht, zeigt Hayek, komplementär, dass das Konzept weder realistisch, noch wünschenswert ist. Wollen wir wirklich, dass Menschen nur nach der Leistung sich richten? Oder wollen wir, dass sie etwas Sinnvolles machen? Finden wir einen Automechaniker gut, weil er sich anstrengt? Oder finden wir ihn gut, wenn unser Auto repariert ist? Wollen wir jenen Mechaniker besser bezahlen, der sich mehr anstrengt? Oder bezahlen wir ihn danach, wie das Ergebnis seiner Arbeit ausfällt? Das Prinzip der Meritokratie führt zu einer Leistungsgesellschaft, in der die Menschen nicht danach beurteilt werden, was sie tun wollen, sondern was andere von ihnen erwarten. Es ist keine freie Gesellschaft. Scheitern ist immer das Ergebnis unzureichender Leistung. Ist das wirklich gerecht?
Mit dieser Kritik liegt Hayek nur wenige Millimeter entfernt von der linken Kritik.[9] Doch seine Folgerung ist radikal entgegengesetzt. Nicht sozialistische Einebnung der Unterschiede wäre die Konsequenz aus der Kritik der Chancengerechtigkeit, sondern Anerkennung der Chancenungleichheit, der Differenz, ohne Umverteilung und Ausgleichsansprüche. Es gibt nur ein einziges Prinzip der gerechten Verteilung: Es sind die Resultate, die zählen, einerlei mit wie viel subjektiver Anstrengung sie verfertigt wurden.
Daraus folgt: Marktergebnisse zu korrigieren, wäre ungerecht (und, wie wir sahen, auch vergeblich), denn der Markt ist selbst das gerechteste Verteilungsinstrument, das Anbieter und Nachfrage zusammen bringt – unabhängig von ihrer Leistung. Es kommt darauf an, was ankommt, nicht, welche Anstrengung es gekostet hat. Wir müssen die Welt so einrichten, dass jedermann die Chance erhält, aus den vorhandenen Differenzen (seien sie genetisch, kulturell, national, oder wie auch immer zu erklären) den Ansporn für den Gebraucht seiner Freiheit zu ziehen. Das ist das Gegenteil von egalisierender Ex-Ante-Umverteilung. Die Umverteilung des Marktes erfolgt ex post. Die Kompensation steht bei den Liberalen nicht am Anfang wie bei den Sozialisten, sondern am Ende. Der Wettbewerb auf dem Markt ist die Maschine der Kompensation.
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Last but not least: Ich mache keine Hehl aus meiner Auffassung, dass ich sowohl für die radikal linke, wie für die radikal liberale Auffassung größere Sympathie habe, weil sie philosophisch schärfer gefasst sind, als der sozialliberale Egalitarismus.
Fußnoten
[1] Martin Feldstein: Is Income Inequality Realy a Problem? In: Income Inequality. Current Issues and Policy Options. Symposion sponsored by the Federal Reserve Bank of Cansas City in Jackson Hole. Wyoming 1998. S. 357.
[2] Argumente und Gegenargumente zum Egalitarismus finden sich in Füllen in: Angelika Krebs (Hg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt 2000 und Stefan Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus. Frankfurt 2004
[3] Robert Nozick: Anarchie, Staat, Utopia (1974). München 2006, S. 201.
[4] David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, III, 2, S. 114f
[5] Ihr Aufsatz “Warum eigentlich Gleichheit“ ist abgedruckt im Buch von Angelika Krebs (Anm. 8), S. 117 bis 171.
[6] R.H. Tawney: Equality (1931)
[7] Brian Barry: Why Social Justice Matters. Politiy Press Cambridge 2005.
[8] Gerlald A. Cohen: Sozialismus. Warum nicht? Hrgs. von Rainer Hank. München 2009.
[9] Vgl. Friedrich A. von Hayek: Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus. Tübingen, Mohr, 1977 und der.: Law, Legislation and Liberty. Bd. 2 „The Mirage of Social Justice“. Univ. of Chicago Press 1978
Beiträge der Serie “Ungleichheit heute“:
Klaus Gründler: Ungleichheit und Krisen
Norbert Berthold: „Reichtum ist distributive Umweltverschmutzung“. Höhere Steuern oder mehr Wettbewerb?
Klaus Gründler: Ungleichheit und Wachstum
Norbert Berthold: Der amerikanische Traum – Bremst Ungleichheit die soziale Mobilität?
Norbert Berthold: Der Staat pflügt die Verteilung um
Norbert Berthold: Die Ungleichheit wird männlicher
Norbert Berthold: Krieg der Modelle. Technologie oder Institutionen?
Michael Grömling: Einkommensverteilung – Vorsicht vor der Konjunktur!
Norbert Berthold: Die deutsche “Mitte“ ist stabil. Wie lange noch?
Eric Thode: Die Mittelschicht schrumpft – Wo liegt der Handlungsbedarf?
Norbert Berthold: Geringe Stundenlöhne, kurze Arbeitszeiten. Treiben Frauen die Ungleichheit?
Norbert Berthold: Deutschland wird ungleicher. Was sagt die Lohnverteilung?
Simon Hurst: Der Staat strapaziert die Schweizer Mittelschicht
Norbert Berthold: Einkommensungleichheit in OECD-Ländern. Wo stehen wir?
- Ordnungspolitische Denker heute (3)
Was wir von Wilhelm Röpke lernen sollten – und was lieber nicht. - 26. Januar 2014 - Über den Umgang mit Unsicherheit und Offenheit
Erfahrungen eines Wirtschaftsjournalisten nach fünf Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise - 29. Oktober 2013 - Ungleichheit heute (15)
Ungleichheit und Gerechtigkeit: Was hat das miteinander zu tun? - 2. August 2013
Wenn man davon ausgeht, dass (Chancen-)Ungleichheit nicht nur erblich oder kulturell bedingte Unterschiede meint, sondern auch unterschiedliche Macht, dann scheint mir die Annahme, der eingriffsfreie Markt sei nicht nur der effizienteste, sondern gar der gerechteste Verteilungsmechanismus von der ökonomischen Theorie nicht gedeckt – ganz unabhängig von der moralischen Bewertung eines solchen Paradigmas. Jede Abweichung von den Bedingungen vollkommener Märkte führt zu suboptimalen Ergebnissen und vollkommene Märkte sind in der Realität ebenso häufig anzutreffen wie egalitäre Gesellschaften – nämlich nie. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass der Kuchen bei einer radikalliberalen Wirtschaftsordnung der größtmögliche ist.
Man kann natürlich argumentieren, dass jeder Eingriff in den Markt aufgrund der menschlichen Unzulänglichkeit zum Scheitern verurteilt ist und den Kuchen zwingend kleiner macht. Unbehaglich an dieser Vorstellung ist jedoch die damit implizierte, quasi-religiöse Überhöhung ebenfalls immer unzulänglicher Marktergebnisse als die gerechtesten, die uns ungleichen Menschen eben zustehen. Umso mehr, wenn Leistung und Anstrengung als vollkommen unerheblich für den Platz in der Verteilung angesehen werden.
Wenn allerdings im vorletzten Absatz davon gesprochen wird, aus der Ungleichheit Ansporn für den Gebrauch der Freiheit zu ziehen, kommt durch die Hintertür letztlich doch wieder Leistung hereinspaziert. Wozu Ansporn, wenn Anstrengung egal ist? Wenn man nur Glück haben muss, etwas zu können oder zu haben, was ankommt? Ganz ohne Anstrengung werden dann wohl doch keine Werte geschaffen, ansonsten bleibt der Markt leer.
@Andreas: Es sind doch gerade die Interventionen durch die es gelingt Macht in ökonomische Vorteile umzumünzen. Je weniger Interventionen es gibt, desto geringer sind die Vorteile die auf Macht beruhen.
Ganz radikal gedacht ist das sicher richtig. Denn bereits die rechtliche Anerkennung und der Schutz von Eigentum sind staatliche Intervention, die im Ergebnis die Akkumulation ökonomischer Macht ermöglichen. Gleiches gilt für geistiges Eigentum, das u.a. durch das Patentrecht und Copyrights geschützt wird. Ohne diesen Schutz hätten Rowling, Jobs und Spielberg ziemlich in die Röhre geschaut – und von ihren Ideen recht wenig gehabt. Aber während Anarchisten gedanklich so konsequent sind, auch das Eigentumsrecht abzulehnen, machen radikalliberale hiervor halt. Sie unterstützen daher eine Intervention, die die Entstehung von Macht zum Ergebnis hat. Das kann man aus guten Gründen unterstützen. Aber ohne weitere Interventionen führt die Akkumulation von Macht zur Zerstörung des Marktes. Ein gewisses Maß an Gleichheit ist für die Funktionsfähigkeit einer Marktwirtschaft unabdinglich, losgelöst von moralisch begründeten Gleichheitsvorstellungen.