Ungleichheit heute (1)
Einkommensungleichheit in OECD-Ländern
Wo stehen wir?

„The great mystery of the modern theory of distribution is why anyone regards the share of wages and profits as an interesting problem.“ (Mark Blaug, 1996)

Verteilungsfragen haben wieder Hochkonjunktur. In der Öffentlichkeit dominiert der Eindruck, Einkommen und Vermögen werden immer ungleicher verteilt. Heftige Kritik, normative und positive, ist die Folge. Das allgemeine Empörungsniveau steigt. Wachsende Ungleichheit wird als ungerecht empfunden. Tatsächlich sind Ungleichheit und Ungerechtigkeit aber zwei Paar Schuhe. Was ungerecht ist, ist eine philosophische Frage, keine ökonomische. Die Kritik hat aber auch eine positive Komponente. Ungleich verteilte Einkommen und Vermögen wirken nach dem Eindruck vieler systemisch. Die wachsende Ungleichheit wird für die Finanzkrise verantwortlich gemacht. Darunter leidet die Akzeptanz der aktuellen marktwirtschaftlichen Ordnung. Dieser Beitrag ist der Auftakt der neuen Serie „Ungleichheit heute“.

Sinkende Lohnquoten

Die Diskussion um die Ungleichheit der Einkommen hatte lange Zeit eine eher marxistische Note. Im Zentrum stand der „Klassenkampf“ zwischen Arbeit und Kapital. Lohn- und Gewinnquoten beherrschten die verteilungspolitische Szene. Noch bis Anfang der 60er Jahre beschäftigen sich Ökonomen vor allem mit der funktionalen Verteilung. Diese Diskussion schlief aber ein, weil Arbeitnehmer neben dem Arbeits- immer öfter auch Kapitaleinkommen bezogen. Es wurde aber auch still um die funktionale Verteilung, weil die ungleiche Verteilung der Arbeitseinkommen in den Mittelpunkt rückte. „Skilled biased technical change“ und zunehmende Bildungsprämien dominierten die Auseinandersetzung um die personelle Einkommensverteilung.

Lohnquote
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Möglicherweise steht aber die Diskussion um die funktionale Verteilung vor einer Renaissance. Seit Mitte der 70er Jahre sinkt die Lohnquote überall in den reichen Ländern mehr oder weniger stark. Andere Produktionsfaktoren schneiden sich ein größeres Stück des Kuchens ab. Ob dies Kapital ist, bleibt aber umstritten. Auch ein dritter Faktor, wie etwa Boden, könnte höhere Renten einfahren. Ist allerdings Kapital der Gewinner, könnte ein „capital bias“ des technischen Fortschritts (Roboter) aber auch eine steigende Monopolmacht der Unternehmen (Räuber) eine Rolle spielen. Wie auch immer: Vielleicht findet der Verteilungskampf der Zukunft weniger im Lager des Faktors Arbeit statt. Der alte Kampf zwischen Arbeit und Kapital könnte neu aufleben.

Ungleiche Markteinkommen

Auch wenn Paul Krugman Recht hätte, dass die Renten qualifizierter Arbeit künftig nicht weiter steigen werden, in der Vergangenheit war dies anders. Die Zeit seit Anfang der 80er Jahre war die hohe Zeit steigender Bildungsprämien. In reichen Ländern stieg vor allem die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit stark an. Das empirische Bild der letzten 20 Jahre ist eindeutig: Fast überall entwickelten sich die Haushaltseinkommen vor Steuern und Transfers in den Ländern ungleich. Allerdings ist die Datenlage nicht immer befriedigend. Die Daten der bekanntesten Analysen der OECD stammen aus verschiedenen, heterogenen Datenquellen mit oft nur wenigen Beobachtungszeitpunkten.

GINI vor Steuern und Transfers
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Eine bessere Datenquelle, das Cross-National Equivalent File (CNET), behebt diese Probleme, ist aber bisher leider auf einige wenige Länder beschränkt. Auch bei diesem Datensatz zeigt sich, dass die Ungleichheit der Markteinkommen in den USA, Deutschland und der Schweiz zugenommen hat. In Großbritannien änderte sich wenig, in Australien ging die Ungleichheit sogar zurück. Seit den 70er Jahren wurden die USA stetig ungleicher. Deutschland machte in der Mitte der 80er Jahre den größten Sprung in die Ungleichheit. Am aktuellen Rand unterscheidet sich die Ungleichheit der Markteinkommen der beiden Länder kaum. Einen steilen Anstieg verzeichnet seit der Jahrtausendwende auch die Schweiz, auf allerdings viel niedrigerem Niveau.

Gleichere verfügbare Einkommen

Wer an „Gerechtigkeit“ interessiert ist, schaut allerdings weniger auf die Verteilung der Markteinkommen. Entscheidender ist, wie das verfügbare Einkommen der Haushalte verteilt ist. Alle untersuchten Länder versuchen über Steuern und Transfers die Ungleichheit zu verringern. Das gelingt auch überall, allerdings in ganz unterschiedlichem Maße. Am wenigsten ändert sich in den USA. Nach wie vor ist dort die Ungleichheit auch nach Umverteilung sehr ausgeprägt. Im neuen Jahrtausend ist es in den USA kaum noch gelungen, die hohe Ungleichheit der Markteinkommen nachhaltig zu verringern. Unter den untersuchten Ländern sind die USA nach wie vor das „ungleichste“ Land. Der Abstand zu den anderen Ländern nimmt weiter zu.

GINI nach Steuern und Transfers
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Die vier anderen Länder haben eine völlig andere Entwicklung genommen. Deutschland verringert die relativ hohe Ungleichheit der Markteinkommen über den ganzen Zeitraum spürbar. Und bis zur Jahrtausendwende erhöhte sich die Ungleichheit kaum. Erst danach kam es zu einem leichten Anstieg. In Großbritannien ist es sogar gelungen, die Ungleichheit stetig zu verringern. In der Schweiz und Australien sind ebenfalls Tendenzen zu einem Rückgang der Ungleichheit der verfügbaren Einkommen festzustellen. Allerdings ist der Beobachtungszeitraum für eine aussagekräftige Analyse noch zu kurz. Es scheint so, als ob das „europäische Sozialmodell“ in der Lage war, die ungleich verteilten Markteinkommen über Steuern und Transfers zu korrigieren.

Fazit

In den meisten OECD-Ländern waren die letzten Jahrzehnte auch Perioden steigender Ungleichheit von Einkommen und Vermögen. Das wird sich wohl auch künftig nicht ändern, im Gegenteil. Die Verteilungsfrage wird eine noch größere Rolle spielen, in Politik und Wissenschaft. Dabei geht es nicht nur um den internen Kampf der unterschiedlichen Gruppen von Arbeit um ihre Anteile am (wachsenden) Sozialprodukt. Auch die schon totgeglaubte Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital könnte in neuem Gewande wieder aufleben. Die marktwirtschaftliche Ordnung hat eine gute Chance zu überleben, wenn die Verteilungsfrage möglichst anreizkompatibel gelöst wird. Alte Glaubenssätze der Umverteilung sind obsolet. An einer grundlegenden Reform des Sozialstaates führt kein Weg vorbei.

Literatur

BRUNNER, A. B. (2012): Einkommensverteilung in Deutschland: Theoretische Überlegungen, empirische Befunde, wirtschaftspolitische Implikationen, Hamburg: Kovac, 2012.

Beiträge der Serie “Ungleichheit heute“:

Norbert Berthold: Einkommensungleichheit in OECD-Ländern. Wo stehen wir?

Simon Hurst: Der Staat strapaziert die Schweizer Mittelschicht

Norbert Berthold: Deutschland wird ungleicher. Was sagt die Lohnverteilung?

 

25 Antworten auf „Ungleichheit heute (1)
Einkommensungleichheit in OECD-Ländern
Wo stehen wir?

  1. Die Ungleichheit der Haushaltseinkommen kommt u.a. durch die zunehmende Beschäftigung der Frauen zustande – ich denke, früher waren vor allem die Frauen wohlhabenderer Männer Hausfrauen, während in „Arbeiter“haushalten beide arbeiten „mussten“, heute herrschen auch in der Mittelschicht Doppelverdiener vor. Die Doppelverdiener in der Arbeiterschaft haben früher die Ungleichheit gemindert. Heute wird eher in der „Unterschicht“ nicht gearbeitet, u.a. weil es sich wegen hohen Sozialleistungen bzw. Abzügen nicht lohnt, was sich mit kulturellen Ursachen (Immigranten) mischt, wobei aber die Hauptursache unklar bleibt.

    Ob durch die erhöhte Frauen-Berufstätigkeit auch vermehrt innerhalb einer Schicht geheiratet bzw. gepartnert (z.B. Arzt+Ärztin statt Arzt+ehemalige Krankenschwester) wird, ist eine naheliegende Spekulation, müsste aber näher untersucht werden.

    Schließlich führt die Gründung eines eigenen Haushalts durch Kinder während der Ausbildungsphase fast immer zu einer zunehmenden Ungleichheit. Ungleichheit auf Personenebene fände ich aussagekräftiger; Hausfrauen u.ä. könnte man ja ausklammern.

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