Die OECD hat mit ihrer jüngsten Studie „In it together: why less inequality benefits all“ Aufsehen erregt. Im Kern vertritt sie darin folgende Thesen: In den letzten 20-30 Jahren, insbesondere aber seit der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise (2008/2009) sei die Einkommens- und (besonders) die Vermögensverteilung in den OECD-Staaten deutlich ungleicher geworden. Dies koste wirtschaftliches Wachstum – allein zwischen 1990 und 2010 sei deshalb der reale Zuwachs im BIP dort kumuliert um 4,7 Prozentpunkte niedriger als möglich ausgefallen – und lasse die ärmsten 40% mit einem großen Abstand zum Rest der Gesellschaft zurück. Der Schlüsselfaktor für die Wachstumseinbußen wird in der starken Ausbreitung von flexiblen („non-standard“) Arbeitsverträgen und den zu geringen Investitionen in Humankapital (bei geringem Vermögen/hohen Schulden der unteren Mittelschicht) gesehen. Als Remedur schlägt die OECD daher vor, dass die Arbeitsmarktpolitik weniger die Quantität als die Qualität von Jobs fördern solle, die Bildungspolitik den Zugang zu Bildungseinrichtungen verbessern und die Attraktivität der Weiterbildung steigern müsse und schließlich die Finanzpolitik mit Hilfe von Steuern und Transfers (wo noch nicht geschehen) ein effizientes staatliches Umverteilungssystem einzurichten habe.
Als tiefere Ursachen für die zunehmende Ungleichheit in den Industriestaaten diagnostiziert die OECD korrekt den technologischen Wandel, die Kräfte der Globalisierung und die regulatorischen Reformen der Arbeitsmärkte in den letzten 20 Jahren. Alle drei haben die Kluft zwischen den verschiedenen und die Spreizung innerhalb der jeweiligen Faktoreinkommen vergrößert. Das wurde bereits 1997 vom Harvard-Ökonomen Dani Rodrik formuliert, allerdings hatte seine These einen wichtigen zweiten Teil: Danach fällt es den Staaten im Zuge der Globalisierung bei höchster Kapitalmobilität und sinkender aber deutlich stärker schwankender Steuerbasis zunehmend schwerer, die Verteilung, die sich aus dem Marktprozess ergibt, zu korrigieren. Hinzu kommt, dass die Überschuldung vieler Staaten – gerade seit der Weltwirtschaftskrise – den Spielraum für Umverteilungspolitik noch stärker eingeengt hat. Allerdings reicht es nicht aus, die Globalisierung, den technologischen Wandel und die Evolution der Arbeitsmärkte nur aus der Sicht der OECD zu betrachten: Der größere Teil der Welt besteht aus Nicht-OECD-Staaten.
Die genannten Kräfte wirken mittlerweile universell und tragen erheblich zu einer zunehmenden Konvergenz der Güter- und Faktorpreise und der Schiefe der personellen Einkommensverteilung – wie sie durch den Gini-Koeffizienten gemessen werden kann – bei: Der gewachsenen Ungleichheit innerhalb der OECD-Staaten (von relativ niedrigen Gini-Koeffizienten aus) steht nämlich eine zunehmend abnehmende Ungleichheit innerhalb der Nicht-OECD-Staaten (von relativ hohen Gini-Koeffizienten aus) gegenüber. Es ist eine seltsame Logik, die Einebnung von Unterschieden zu beklagen, wenn die Welt zunehmend eins wird. Mit ihren Umverteilungsphantasien erweckt die OECD den Eindruck, als wolle sie in die Zeit und zu den durchschnittlichen Gini-Koeffizienten vor der Globalisierung zurück. Schade, dass sie dafür keinen konzeptionellen Maßstab entwickelt hat. Wo, bitte schön, sollte die Umverteilungspolitik halt machen? Wohl kaum bei einer Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen! Wo aber dann? Dazu braucht es offensichtlich die Vorstellung eines Verteilungsgleichgewichts, also einer für die Gesellschaft unter dem Blickwinkel anderer Kategorien – wie wirtschaftliches Wachstum, soziales Klima innerhalb der Gesellschaft, etc. – vertretbaren, weil weithin akzeptierten Schiefe in der Verteilung von Einkommen und Vermögen.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die personelle Einkommensverteilung der OECD-Staaten – gerade in Deutschland (West bis 1990) – gemessen an den Gini-Koeffizienten nach Umverteilung des Staates – bis Anfang der 1990er Jahre eine bemerkenswerte Stabilität aufwies. Man mag dies als Verteilungsgleichgewicht interpretieren. Die vermutlich lange Suche nach einem neuen Verteilungsgleichgewicht kann durchaus mit Teilstrategien einhergehen, wie sie die OECD (und andere) vorschlagen: Jobqualität, Zugang zu Bildungseinrichtungen, attraktive Weiterbildung. Allerdings wird es weder gelingen, die oben genannten Kräfte umzukehren noch sind die (vorwiegend) europäischen Entwürfe des Wohlfahrtsstaates alter Prägung unter den Bedingungen der Globalisierung überlebensfähig.
Hinweis: Den gesamten Kommentar können Sie in der WiSt, 44 (2015), H. 10 lesen.
Beiträge der Serie “Ungleichheit heute“:
Norbert Berthold: Ungleichheit, Umverteilung und Mobilität. Besteht wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf
Marcus Fraaß: Vermögensmobilität. Sind wir noch selbst unser Glückes Schmied?
Marcus Fraaß: Beamte und Selbstständige – die Stars der Vermögensverteilung. Welche Personengruppen besitzen das höchste Vermögen?
Norbert Berthold: Warum wird nicht noch viel mehr umverteilt?
Marcus Fraaß: Die Treiber der Vermögensungleichheit. Warum besitzen 10 % der Bevölkerung mehr als die Hälfte des Vermögens?
Thomas Apolte: Lohngefälle und Bildung in der offenen Gesellschaft
Norbert Berthold: Wie ungleich ist die Welt? Mythen, Fakten und Politik
Norbert Berthold: Rettet den Kapitalismus vor den Kapitalisten. Thomas Piketty auf den Spuren von Karl Marx.
Marcus Fraaß: Wie ungleich ist die Vermögensverteilung in Deutschland? Noch ungleicher als die Einkommensverteilung
Norbert Berthold: Staatliche Umverteilung und soziale Mobilität. Eine verteilungspolitische Fata Morgana?
Norbert Berthold: Die “Great Gatsby“-Kurve. Mehr als politische Progaganda?
Norbert Berthold: Des Läba isch koin Schlotzer. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist grober Unfug.
Klaus Gründler: Bildung hilft, die Ungleichheit zu reduzieren
Mustafa Coban: Kombilöhne versus Working Poor. Der Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit
Norbert Berthold: Geldpolitik und Ungleichheit. Machen Notenbanken die Welt ungleicher?
Rainer Hank: Ungleichheit und Gerechtigkeit: Was hat das miteinander zu tun?
Klaus Gründler: Ungleichheit und Krisen
Norbert Berthold: “Reichtum ist distributive Umweltverschmutzung“. Höhere Steuern oder mehr Wettbewerb?
Klaus Gründler: Ungleichheit und Wachstum
Norbert Berthold: Der amerikanische Traum – Bremst Ungleichheit die soziale Mobilität?
Norbert Berthold: Der Staat pflügt die Verteilung um
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Michael Grömling: Einkommensverteilung – Vorsicht vor der Konjunktur!
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Norbert Berthold: Geringe Stundenlöhne, kurze Arbeitszeiten. Treiben Frauen die Ungleichheit?
Norbert Berthold: Deutschland wird ungleicher. Was sagt die Lohnverteilung?
Simon Hurst: Der Staat strapaziert die Schweizer Mittelschicht
Norbert Berthold: Einkommensungleichheit in OECD-Ländern. Wo stehen wir?
Norbert Berthold: Ungleichheit, soziale Mobilität und Humankapital