„In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein.“ (Paul Watzlawick)
Die steigende Ungleichheit der Markteinkommen ist aktuell eines der wichtigsten sozialpolitischen Themen in Deutschland. Eng damit verbunden, in der Öffentlichkeit allerdings weniger stark diskutiert, ist das Thema der Einkommensmobilität. Allgemein unterscheidet man zwischen der intra- und der intergenerationaler Einkommensmobilität. Während sich die intragenerationale Einkommensmobilität mit der Frage beschäftigt, inwiefern eine einzelne Person innerhalb ihres Erwerbslebens auf der Einkommensleiter auf- oder absteigen kann, beschreibt die intergenerationale Einkommensmobilität den Auf- oder Abstieg eines Kindes relativ zur Position seiner Eltern. Die intergenerationale Einkommensmobilität untersucht also, inwiefern das spätere Einkommen eines Kindes von seiner Herkunft determiniert wird.
Eine hohe Einkommensmobilität zwischen den Generationen ist sowohl aus distributiver als auch aus allokativer Sicht wünschenswert. Unter Verteilungsgesichtspunkten wird es von der Gesellschaft als „unfair“ empfunden, wenn in einer Volkswirtschaft das Einkommen eines Kindes zu einem großen Teil vom Einkommen seiner Eltern bestimmt wird. Dadurch wird Kindern aus sozial schwachen Familien ein Großteil ihrer Zukunftsperspektiven genommen. Aber auch unter Effizienzgesichtspunkten ergibt sich aus einer hohen intergenerationalen Einkommenspersistenz Handlungsbedarf. Wenn Kinder aus armen Familien selbst nur niedrige Einkommen erzielen, bedeutet dies, dass sie keinen oder nur beschränkten Zugang zu gut bezahlten Arbeitsplätzen haben. Geht man davon aus, dass es auch in Familien der unteren Einkommensschichten begabte Kinder gibt, die aufgrund der Einkommenssituation ihrer Eltern aber keinen ihren Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz erreichen, nutzt die Gesellschaft ihre Ressourcen nicht in effizienter Art und Weise (vgl. Schnitzlein, 2008).
Wie hoch ist die intergenerationale Einkommensmobilität?
Um die Höhe der intergenerationalen Einkommensmobilität zu messen, wird in der Literatur üblicherweise die sogenannte intergenerationale Einkommenselastizität geschätzt. Dabei kann ein Wert von beispielsweise 0,5 so interpretiert werden, dass 50 Prozent des Einkommensvor- oder -nachteils der Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird. Liegt das Einkommen eines Vaters beispielsweise 10 Prozent über dem durchschnittlichen Einkommen in seiner Generation, so liegt das erwartete Einkommen seiner Kinder 5 Prozent über dem durchschnittlichen Einkommen in deren eigenen Generation. Bei einem Wert von 0,3 liegt das erwartete Einkommen der Kinder nur 3 Prozent über dem Durchschnittseinkommen. Höhere Werte für die intergenerationale Einkommenselastizität implizieren also eine höhere Persistenz in den Einkommen und damit ein niedrigeres Niveau der intergenerationalen Einkommensmobilität. Die intergenerationale Einkommenselastizität misst jedoch zunächst nur die Korrelation zwischen den Einkommen der Väter und den Einkommen der Kinder und sagt nichts über zugrunde liegende Kausalitäten aus.
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Ein Vergleich der bestehenden Literatur zur intergenerationalen Einkommensmobilität zeigt, dass es zwischen den unterschiedlichen Ländern teils gravierende Unterschiede gibt (vgl. Abbildung 1). Die USA gilt als das Land, das trotz des allgemein propagierten „American Dreams“ die höchste intergenerationale Einkommenspersistenz aufweist. Ähnlich hohe Schätzungen werden in der Literatur für Frankreich und Italien ausgewiesen. Die ermittelten Werte für Großbritannien sind zwar etwas niedriger, im internationalen Vergleich aber immer noch verhältnismäßig hoch. Dagegen weisen die skandinavischen Länder eine sehr niedrige Persistenz in den Einkommen auf. Vergleichsweise niedrige Werte werden auch für Australien und Kanada geschätzt. Deutschland wird in der Literatur üblicherweise zwischen den USA und den skandinavischen Ländern eingeordnet. Studien, die einen direkten Vergleich zwischen den USA und Deutschland zum Thema haben, finden jedoch erstaunlich oft keine signifikanten Unterschiede zwischen den ermittelten intergenerationalen Einkommenselastizitäten (vgl. beispielsweise Schnitzlein, 2015). Die relative Position Deutschlands im internationalen Vergleich ist daher nicht eindeutig bestimmbar.
Was sind die Transmissionskanäle der intergenerationalen Einkommenspersistenz?
Während die Messung der intergenerationalen Einkommenselastizität in der Literatur bereits relativ viel Aufmerksamkeit gefunden hat, weiß man bisher nur wenig über die zugrunde liegenden Transmissionskanäle. Warum verdienen Kinder aus reichen Familien mehr als Kinder aus armen Familien? Ist es allein das höhere Einkommen der Eltern, das wohlhabenden Kindern einen Vorteil gegenüber ärmeren Kindern verschafft? Ohne ein tiefergehendes Verständnis darüber, auf welche Weise Einkommenspositionen von den Eltern an ihre Kinder vererbt werden, ist es schwierig, konkrete wirtschaftspolitische Implikationen zur Erhöhung der intergenerationalen Einkommensmobilität abzuleiten.
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Im Wesentlichen sind zwei verschiedene Mechanismen vorstellbar (vgl. Abbildung 2). Zum einen können reiche Eltern mehr Geld in das Humankapital ihrer Kinder investieren, was sich in einem höheren Einkommen der Kinder widerspiegelt. Dieser erste Transmissionskanal wird als Investitionseffekt bezeichnet. Wenn zumindest ein Teil des höheren Einkommens der Eltern durch ein höheres Humankapital der Eltern bedingt ist, kann die Familie dieses Humankapital darüber hinaus auch unabhängig von monetären Investitionen an ihre Kinder weitergeben und so deren Einkommen wiederum erhöhen. Dieser zweite Transmissionskanal wird als Humankapitaleffekt bezeichnet. Ist die Persistenz der Einkommen allein auf den Investitionseffekt zurückzuführen, so reicht es von Seiten der Politik aus, die finanziellen Nachteile von Kindern aus armen Familien zu substituieren. Ist jedoch zumindest ein Teil der Einkommenspersistenz auf die nicht-monetäre Weitergabe von Humankapital zurückzuführen, bedarf es weitreichenderer Maßnahmen, um Chancengleichheit für Kinder aus sozial schwachen Familien sicherzustellen.
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Um die Größe der beiden Transmissionskanäle zu bestimmen, werden in der Literatur verschiedene Herangehensweisen verwendet. Lefgren et al. (2012) schätzen mithilfe von Instrumentvariablen eine Untergrenze von 37% und eine Obergrenze von 73% für den Investitionseffekt und damit ein Intervall zwischen 27% und 63% für den Humankapitaleffekt in Schweden. Cardak et al. (2013) nutzen die stochastischen Eigenschaften der intergenerationalen Einkommenselastizität, um ohne die Notwendigkeit für zusätzliche Daten eine Zerlegung in die diskutierten Effekte für die USA vorzunehmen. Sie ermitteln einen Investitionseffekt von etwa einem Drittel und einen Humankapitaleffekt von etwa zwei Dritteln. Eigene Berechnungen auf Basis des sozioökonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung unter Verwendung der Lefgren et al. (2012)-Methode für Deutschland ergeben im Mittel einen Investitionseffekt in Höhe von 53% und damit einen Humankapitaleffekt in Höhe von 47%.
Was bedeutet das für die Wirtschaftspolitik?
Auch wenn die Ergebnisse stark divergieren, liegt die Vermutung nahe, dass nicht nur der Investitionseffekt allein für die Einkommenspersistenz zwischen Eltern und Kindern verantwortlich ist, sondern darüber hinaus auch die direkte Weitergabe von Humankapital von Bedeutung ist. Wenn das der Fall ist, kann Chancengleichheit für Kinder aus sozial schwachen Familien politisch nicht allein durch die Bereitstellung finanzieller Mittel erreicht werden. Vielmehr muss die Politik versucht, die fehlende Weitergabe von Humankapital durch die Eltern durch entsprechende staatliche Angebote zu substituieren.
Frühkindliche Betreuung
Die Hemmnisse für das spätere Einkommen der Kinder finden sich vermutlich nicht erst in den späteren Phasen der Ausbildung, sondern bereits in der frühkindlichen Betreuung. In der Literatur gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass frühkindliche Bildung die größten Effekte ausübt, da bereits vorhandenes Humankapital die spätere Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten in der Schule erleichtert. Dazu eignet sich zum Beispiel ein früher Besuch von Kindern in einer staatlichen oder privaten Kinderbetreuungseinrichtung, wo sie entsprechend ihrer Fähigkeiten gefördert werden können. Insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund, in deren Elternhaus ausschließlich eine Fremdsprache gesprochen wird, dürfte der Besuch einer Kindertagesstätte oder eines Kindergartens von großer Bedeutung sein.
Länger gemeinsam Lernen
Ein weiterer Ansatzpunkt ist das deutsche Schulsystem, das Schüler bereits nach vier Schuljahren auf die verschiedenen Schularten aufteilt. Damit fällt die Entscheidung, ob ein Kind einen Ausbildungs- oder einen Universitätsberuf erlernt, in den meisten Fällen bereits sehr früh. In der Politik wird deshalb seit einiger Zeit über das Konzept des „längeren gemeinsamen Lernens“ diskutiert, welches eine Trennung zum Beispiel erst nach der sechsten Jahrgangsstufe vorsieht. Eine solche Schulreform in Finnland hat einer Studie zufolge zu einer Reduktion der intergenerationalen Einkommenselastizität von 0,30 um 23 Prozent auf 0,23 geführt (vgl. Pekkarinen et al., 2009). Es liegt also nahe, dass eine solche Reform auch die intergenerationale Einkommensmobilität in Deutschland erhöhen könnte.
Ausbau von Ganztagesschulen
Auch ein Ausbau der Ganztagesschulen scheint eine sinnvolle Maßnahme zur Verbesserung der Chancengleichheit zu sein. Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfe sowie musikalische, kulturelle und sportliche Förderung können hier von Seiten des Staates angeboten werden und werden nicht wie in Halbtagesschulen vor allem von wohlsituierten Familien privat organisiert. Zudem wirkt ein gemeinsames Nachmittagsprogramm der Segregation von Kindern unterschiedlicher sozialer und/oder ethnischer Herkunft entgegen.
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Abbildung 4 zeigt für die jeweiligen Bundesländer die vom Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen berechneten Bildungsunterschiede im Fach Mathematik nach sozialer Herkunft sowie den Anteil der Schüler, der einer Ganztagesschule besucht. Dabei reicht das Spektrum von 12,4% in Bayern bis zu 79,1% in Sachsen. Die Gegenüberstellung zeigt, dass in den Bundesländern, in denen Kinder überwiegend in Ganztagsschulen unterrichtet werden, die Bildungsunterschiede zwischen den sozialen Schichten tendenziell geringer sind. Ein Ausbau der Ganztagesbetreuung könnte also dazu beitragen, die Bildungsunterschiede zwischen arm und reich weiter zu verringern.
Fazit
Ein gewisses Maß an Einkommensungleichheit wird in der Gesellschaft eher akzeptiert, wenn jedes Individuum unabhängig von seiner Herkunft dieselben Chancen auf ein hohes Einkommen hat. Dass dem nicht so ist, zeigen verschiedene Studien für Deutschland und andere Industrieländer. Dabei tragen sowohl die finanziellen Möglichkeiten als auch das im Durchschnitt höhere Humankapital besser verdienender Eltern dazu bei, dass Kinder aus armen Familien in ihrem späteren Erwerbsleben schlechter verdienen als Kinder aus reichen Familien. Aufgabe des Staates sollte es daher sein, Maßnahmen zu ergreifen, die nicht nur die mangelnden finanziellen Mittel, sondern auch die fehlende direkte Weitergabe von Humankapital innerhalb armer Familien substituieren, und damit Chancengleichheit für sozial benachteiligte Kinder im Vergleich zu sozial besser gestellten Kindern zu ermöglichen. Eine Reform der Vorschul- und Schulbildung ist dabei das Mittel der Wahl.
Literatur
Björklund, A. und Jäntti, M. (2009). Intergenerational Income Mobility and the Role of Family Background. In Salverda, W., Nolan, B. und Smeeding, T. M. (Hg.), Oxford Handbook of Economic Inequality, 491-521.
Cardak, B. A., Johnson, D. W. und Martin, V. L. (2013). Intergenerational Earnings Mobility: A New Decomposition of Investment and Endowment Effects. Labour Economics 24, 39-47.
Lefgren, L., Lindquist, M. J. und Sims, D. (2012). Rich Dad, Smart Dad: Decomposing the Intergenerational Transmission of Income. Journal of Political Economy 120 (2), 268-303.
Pekkarinen, T., Uusitalo, R. und Kerr, S. (2009). School Tracking and Intergenerational Income Mobility: Evidence from the Finnish Comprehensive School Reform. Journal of Public Economics 93 (7-8), 965-973.
Schnitzlein, D. D. (2008). Verbunden über Generationen: Struktur und Ausmaß der intergenerationalen Einkommensmobilität in Deutschland. SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research 80, DIW, Berlin.
Schnitzlein, D. D. (2015). A New Look at Intergenerational Income Mobility in Germany Compared to the U.S. Review of Income and Wealth (online first).
Beiträge der Serie “Ungleichheit heute“:
Klaus Gründler und Sebastian Köllner: An was orientiert sich der Staat bei der Umverteilung?
Norbert Berthold: Ungleichheit, Umverteilung und Mobilität
Besteht wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf?
Marcus Fraaß: Vermögensmobilität. Sind wir noch selbst unser Glückes Schmied?
Marcus Fraaß: Beamte und Selbstständige – die Stars der Vermögensverteilung. Welche Personengruppen besitzen das höchste Vermögen?
Norbert Berthold: Warum wird nicht noch viel mehr umverteilt?
Marcus Fraaß: Die Treiber der Vermögensungleichheit. Warum besitzen 10 % der Bevölkerung mehr als die Hälfte des Vermögens?
Thomas Apolte: Lohngefälle und Bildung in der offenen Gesellschaft
Norbert Berthold: Wie ungleich ist die Welt? Mythen, Fakten und Politik
Norbert Berthold: Rettet den Kapitalismus vor den Kapitalisten. Thomas Piketty auf den Spuren von Karl Marx.
Marcus Fraaß: Wie ungleich ist die Vermögensverteilung in Deutschland? Noch ungleicher als die Einkommensverteilung
Norbert Berthold: Staatliche Umverteilung und soziale Mobilität. Eine verteilungspolitische Fata Morgana?
Norbert Berthold: Die “Great Gatsby“-Kurve. Mehr als politische Progaganda?
Norbert Berthold: Des Läba isch koin Schlotzer. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist grober Unfug.
Klaus Gründler: Bildung hilft, die Ungleichheit zu reduzieren
Mustafa Coban: Kombilöhne versus Working Poor. Der Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit
Norbert Berthold: Geldpolitik und Ungleichheit. Machen Notenbanken die Welt ungleicher?
Rainer Hank: Ungleichheit und Gerechtigkeit: Was hat das miteinander zu tun?
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Simon Hurst: Der Staat strapaziert die Schweizer Mittelschicht
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Norbert Berthold: Ungleichheit, soziale Mobilität und Humankapital