Mythen der Ungleichheit (1)
Ungleichheit der Markteinkommen
Schweden und die USA sind gar nicht so verschieden

„Vor lauter Gleichmacherei haben wir vergessen, dass es die Ungleichheit ist, die den Wettbewerb befördert und auch den Wohlstand.“ (Michael Rogowski)

Die Diskussion um die wachsende Ungleichheit ist voller Mythen. Ein weitverbreiteter Mythos ist, die Markteinkommen seien in reichen Ländern ganz unterschiedlich ungleich verteilt. Es gäbe Länder, wie etwa die USA als Prototyp der angelsächsischen Welt, in denen die Ungleichheit seit Mitte der 70er Jahre stärker als anderswo angestiegen sei. In anderen Ländern dagegen, wie etwa Schweden einem Vorzeigeland der nordischen Welt, sei die Ungleichheit der Markteinkommen viel weniger stark angestiegen. Und es gäbe auch Länder, wie etwa Deutschland dem Muster der kontinentalen Welt, die bei der Entwicklung der Ungleichheit der Markteinkommen eine mittlere Position einnehmen würden. Würden diese Aussagen für die länderspezifischen Verteilungen der verfügbaren Einkommen getroffen, wären sie weitgehend richtig. Sie sind aber falsch, wenn es um die internationale Entwicklung ungleich verteilter Markteinkommen geht.

Ungleichheit der Markteinkommen

Es ist ein Mythos, dass Markteinkommen von Land zu Land sehr unterschiedlich ungleich verteilt sind. Richtig ist, sowohl in den USA als auch in Schweden ist die Ungleichheit der Markteinkommen heute größer als zu Beginn der 60er Jahre. In beiden Ländern stieg sie ab Mitte der 70er Jahre. Heute sind die Unterschiede zwischen beiden aber nicht mehr groß. Das ist auch für Italien, dem Paradebeispiel der mediterranen Welt, nicht wirklich anders. Dort ging die Ungleichheit der Markteinkommen bis Anfang der 80er Jahre zurück. Danach stieg sie stetig an, liegt heute aber noch unter dem Wert zu Beginn der 60er. Der neuralgische Punkt scheint ein Gini-Koeffizient von 0,5 zu sein. Auch Deutschland nähert sich dieser „magischen“ Grenze. Damit ist die Ungleichheit der Markteinkommen heute wieder da, wo sie schon Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts war. Zwischenzeitlich ging sie leicht zurück. Seit Mitte der 70er Jahre folgt sie dem allgemeinen Trend. Sie steigt wieder an.

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Auch bei einem weiteren Blickwinkel ändert sich wenig. Das Muster bleibt, wenn man eine Vielzahl reicher Ländern der „vier Welten“ in den Blick nimmt. 1) Die Ungleichheit der Markteinkommen steigt in allen Welten an. Diese Entwicklung setzte in den angelsächsischen Ländern ab Mitte der 70er Jahre ein. In den anderen Welten verzögerte sie sich um etwa ein Jahrzehnt. 2) Die stärksten Anstiege sind in der angelsächsischen und nordischen Welt zu beobachten. Der Anstieg in der kontinentalen Welt ist verhalten. Dort ist man heute meist da, wo man schon Anfang der 60er Jahre war. Das gilt auch für die mediterrane Welt. Allerdings ist die Heterogenität größer. 3) Die Ungleichheit der Markteinkommen konvergiert in allen Welten auf einen Wert des Gini-Koeffizienten von etwa 0,5. Trotz unterschiedlicher institutioneller Arrangements in den Welten, schlägt sich dies kaum auf die Ungleichheit der Markteinkommen nieder. Das erstaunt.

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Heterogene nationale Institutionen

Unter Ökonomen tobt ein „Krieg der Modelle“, wenn es darum geht, ungleich verteilte Markteinkommen zu erklären. Die einen favorisieren Globalisierung und technischen Fortschritt, andere setzen eher auf nationale Institutionen. Vor allem die Politik liebäugelt mit der Erklärung national heterogener Institutionen. Sie eröffnet ihnen mehr wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum. Und in der Tat unterscheiden sich die Länder der „vier Welten“ in vielen Institutionen. Das gilt nicht nur für die Mechanismen, mit denen sie versuchen, die Pläne der wirtschaftlichen Akteure zu koordinieren. Die Idee ist weitverbreitet, dass angelsächsische Länder stärker auf den Markt, skandinavische stärker auf den Staat, kontinentale stärker auf Korporatismus und mediterrane stärker auf die Familie setzen würden. Tatsächlich unterscheiden sich vor allem die verteilungsrelevanten Institutionen auf Arbeitsmärkten und im Bereich des Sozialen teilweise erheblich.

Die Heterogenität zeigt sich an vielen Institutionen auf den Arbeitsmärkten. So ist der Prozess der Lohnfindung national unterschiedlich organisiert. Die Spannbreite reicht von sektoralen über betriebliche Tarifvereinbarungen bis zu Abschlüssen mit einzelnen Berufsgruppen. Der Trend geht zu dezentralen Vereinbarungen. Die Länder unterscheiden sich auch darin, wie sie ihre Sozialstaaten organisieren. Das zeigt sich etwa bei den Systemen der Sozialen Sicherung. Einige Länder setzen stärker auf beitragsfinanzierte, andere mehr auf steuerfinanzierte Systeme. Aber auch der Mix aus umlage- und kapitalfundierten Sozialversicherungssystemen ist national unterschiedlich. Überall ist allerdings eine Tendenz zu stärker kapitalfundierten Systemen zu erkennen. Schließlich sind auch die Bildungssysteme national recht unterschiedlich organisiert. Die Ergebnisse der Pisa-Studien zeigen, wie groß die Unterschiede in den Ergebnissen nach wie vor ausfallen.

Global statt national

Die institutionelle Erklärung kann allerdings nicht überzeugen. Trotz national heterogener Institutionen ebenen sich die länderspezifischen Unterschiede in den Ungleichheiten der Markteinkommen immer mehr ein. Dieses Muster gilt für alle „vier Welten“. Darauf deutet die Entwicklung des Variationskoeffizienten der Gini-Koeffizienten hin. Er verringerte sich überall, in der angelsächsischen Welt allerdings etwas früher als in den anderen Welten. Und er scheint auf einen Wert von 0,05 zu konvergieren. Ob der leichte Anstieg in der angelsächsischen Welt seit Mitte der 00er Jahre den Trend bricht, wird sich zeigen. Diese konvergente Entwicklung deutet darauf hin, dass nicht national unterschiedliche Institutionen die Ungleichheit der Markteinkommen dominieren. Vielmehr scheinen Faktoren, die alle „Welten“ ähnlich treffen, am Werk zu sein. Damit kommen vor allem die Globalisierung und der technische Wandel in Frage. Dafür spricht auch, dass der Zeitpunkt (Mitte 70er bis Mitte 80er Jahre) passt, ab dem diese Kräfte ihre Wirkungen entfalten.

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Dieser Prozess konvergierender Ungleichheiten der Markteinkommen lässt sich weltweit in der Gruppe der reichen Länder beobachten. Dort geht der Variationskoeffizient überall seit Anfang der 60er Jahre zurück. Er stürzt ab Mitte der 80er Jahre regelrecht ab und findet Anfang der 90er einen Boden. Erst mit der Finanz- und Eurokrise deutet sich wieder ein leichter temporärer(?) Anstieg an. Die Ergebnisse ändern sich nicht, egal ob man OECD-Länder, Hocheinkommens-Länder weltweit oder OECD-Hocheinkommens-Länder betrachtet. In den reichen Ländern der Welt entwickeln sich die ungleich verteilten Markteinkommen ähnlich. Markteinkommen verteilen sich zwar ungleicher, konvergieren aber international. Eine solche Entwicklung ist nur möglich, wenn die Länder von ähnlichen Schocks getroffen werden. Weltweit offenere Güter- und Faktormärkte aber auch weltweit stärker diffundierender technischer Fortschritt zählen zu den üblichen Hauptverdächtigen.

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Fazit

Die Markteinkommen sind ungleich verteilt. In den letzten Jahrzehnten kannte die Ungleichheit nur eine Richtung: Nach oben. Nun ist aber eine Trendumkehr in Sicht. Allerdings sind die Unterschiede in der Ungleichheit von Land zu Land gar nicht so groß. Sie haben sich seit Mitte der 80er Jahre eingeebnet. Das gilt zumindest für reiche Länder. Dort läuft seit Jahren ein Prozess der Konvergenz der Ungleichheit. Es ist ein vor allem unter Linken gepflegter Mythos, dass die Markteinkommen etwa in den USA deutlich ungleicher verteilt seien als etwa in Schweden, dem Vorzeigeland der Gleichheit. Die Realität ist eine andere. Über die Ursachen der distributiven Konvergenz herrscht allerdings Uneinigkeit. Vieles spricht dafür, dass nicht institutionelle Unterschiede zwischen den Ländern die Marktungleichheiten treiben. Globalisierung und technischer Fortschritt scheinen bessere Kandidaten. Sie bestimmen wesentlich mit darüber, wie ungleich die Markteinkommen verteilt sind.

Literatur:

Berthold, N., Gründler, K. und Köllner, S. (2016): Was treibt staatliche Umverteilung?, Wirtschaftsdienst, 96(Sonderheft), S. 32-37 (siehe hier).

Gründler, K. und S. Köllner (2016): An was orientiert sich der Staat bei der Umverteilung? Wirtschaftliche Freiheit v. 25. März 2016 (siehe hier)

Beiträge der Serie “Ungleichheit heute“:

Klaus Gründler und Sebastian Köllner: An was orientiert sich der Staat bei der Umverteilung?

Norbert Berthold: Ungleichheit, Umverteilung und Mobilität
Besteht wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf?

Marcus Fraaß: Vermögensmobilität. Sind wir noch selbst unser Glückes Schmied?

Marcus Fraaß: Beamte und Selbstständige – die Stars der Vermögensverteilung. Welche Personengruppen besitzen das höchste Vermögen?

Norbert Berthold: Warum wird nicht noch viel mehr umverteilt?

Marcus Fraaß: Die Treiber der Vermögensungleichheit. Warum besitzen 10 % der Bevölkerung mehr als die Hälfte des Vermögens?

Thomas Apolte: Lohngefälle und Bildung in der offenen Gesellschaft

Norbert Berthold: Wie ungleich ist die Welt? Mythen, Fakten und Politik

Norbert Berthold: Rettet den Kapitalismus vor den Kapitalisten. Thomas Piketty auf den Spuren von Karl Marx.

Marcus Fraaß: Wie ungleich ist die Vermögensverteilung in Deutschland? Noch ungleicher als die Einkommensverteilung

Norbert Berthold: Staatliche Umverteilung und soziale Mobilität. Eine verteilungspolitische Fata Morgana?

Norbert Berthold: Die “Great Gatsby“-Kurve. Mehr als politische Progaganda?

Norbert Berthold: Des Läba isch koin Schlotzer. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist grober Unfug.

Klaus Gründler: Bildung hilft, die Ungleichheit zu reduzieren

Mustafa Coban: Kombilöhne versus Working Poor. Der Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit

Norbert Berthold: Geldpolitik und Ungleichheit. Machen Notenbanken die Welt ungleicher?

Rainer Hank: Ungleichheit und Gerechtigkeit: Was hat das miteinander zu tun?

Klaus Gründler: Ungleichheit und Krisen

Norbert Berthold: “Reichtum ist distributive Umweltverschmutzung“. Höhere Steuern oder mehr Wettbewerb?

Klaus Gründler: Ungleichheit und Wachstum

Norbert Berthold: Der amerikanische Traum – Bremst Ungleichheit die soziale Mobilität?

Norbert Berthold: Der Staat pflügt die Verteilung um

Norbert Berthold: Die Ungleichheit wird männlicher

Norbert Berthold: Krieg der Modelle. Technologie oder Institutionen?

Michael Grömling: Einkommensverteilung – Vorsicht vor der Konjunktur!

Norbert Berthold: Die deutsche “Mitte“ ist stabil. Wie lange noch?

Eric Thode: Die Mittelschicht schrumpft – Wo liegt der Handlungsbedarf?

Norbert Berthold: Geringe Stundenlöhne, kurze Arbeitszeiten. Treiben Frauen die Ungleichheit?

Norbert Berthold: Deutschland wird ungleicher. Was sagt die Lohnverteilung?

Simon Hurst: Der Staat strapaziert die Schweizer Mittelschicht

Norbert Berthold: Einkommensungleichheit in OECD-Ländern. Wo stehen wir?

Norbert Berthold: Ungleichheit, soziale Mobilität und Humankapital

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